Discokugel

Zelda

Er war ihr Chef in der Bowlinghalle, in der sie mit siebzehn einen Aushilfsjob hatte. Kaum dass er sie zum Vorstellungsgespräch in den kleinen fensterlosen Raum geführt hatte, wusste sie, dass sie geliefert war. Dass sie in Schuluniform aufgekreuzt war, schien keine Rolle zu spielen – zumal Zelda da bereits wusste, dass die Uniform sie für Männer nur attraktiver machte. In der örtlichen Bar bekamen Mädchen zwei Drinks zum Preis von einem, wenn sie auf minderjährig machten. Freitagabends umschwärmten die Männer sie dort wie Fliegen.

Matt war drei Jahre älter als sie. Er stellte ihr Fragen und machte bei jeder ihrer Antworten ein nachdenkliches Gesicht, lehnte sich zurück und tippte sich mit dem Kugelschreiber an die Lippen. Draußen waren es fünfundzwanzig Grad, und die Klimaanlage schien defekt zu sein, trotzdem sah er in Hemd und Krawatte makellos aus. Der oberste Knopf zugeknöpft. Nicht der Hauch von Schweiß. »Wir melden uns«, sagte er zum Abschied, rief sie am folgenden Morgen an, und sie hatte den Job.

In der jungen Belegschaft Anschluss zu finden war kein Problem. Sie hatte sich im Monat zuvor in Zelda umbenannt und strahlte von Kopf bis Fuß neues Selbstvertrauen aus. Wie sollen wir dich nennen, fragten sie, Zelda oder etwas Kürzeres? Zee? Weiß nicht, dachte sie, ich hab den Namen erst seit fünf Minuten. Spitznamen muss man sich doch über Jahre verdienen. Zee, antwortete sie dann, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ihr könnt mich Zee nennen.

Das hier waren neue Leute, das hier war ein neuer Ort; endlich konnte sie diejenige sein, die sie immer hatte sein sollen. Alice gehörte in ein früheres Leben, die hatte sie abgestreift wie eine alte Hülle.

Ihre Beziehung war anfangs rein beruflich. Er redete mir ihr, wie er mit den anderen redete. Nichts deutete darauf hin, dass er eine Schwäche für sie hatte. Irgendwann fiel Zelda auf, dass er den Dienstplan so organisierte, dass sie immer dieselbe Schicht hatten, und wenn sie abschloss, waren stets nur sie beide übrig, die Kassensturz machten. Er fragte nach ihren Lieblingsfilmen, was für Musik sie hörte, und sie redeten über Politik und Zeitgeschehen. Als Alice war es ihr untersagt gewesen, zu Letzterem Ansichten zu haben, und über aktuelle Ereignisse in der Welt zu sprechen war ihr nach wie vor unangenehm. Sie hatte fast das Gefühl, sie sollte ihm besser nahebringen, dass ihnen das Ende der Welt bevorstand. Dass sie die Bibel aus der Hand gelegt hatte, war jetzt ein Jahr her, aber Religion wurzelte nun mal tief.

Er ergriff jede Chance, sie zu berühren. Nicht unanständig, er streifte sie bloß, wenn sie sich im Flur begegneten, oder berührte ihre Hand, wenn sie ihm einen Stift hinhielt.

Vielleicht bilde ich mir das nur ein, dachte sie. Doch dann bemerkten es auch die Kollegen, und obwohl sie lachend darüber hinwegging, war sie insgeheim froh, weil sie so wusste, dass es stimmte.

»Du hast tolle Haare«, sagte er einmal, als sie hinten die Küche putzte. Er blickte auf sein Klemmbrett hinab und glich den Inhalt des Kühlschranks mit der Vorratsliste ab. »Hat dir das schon mal jemand gesagt? Die Farbe …« Er leckte sich den Finger und blätterte um. »Die ist wie Feuer.«

»Danke«, murmelte sie.

»Ist das deine natürliche Haarfarbe?« Sein Kugelschreiber kratzte über die Seite.

»Das Rot?«

Erst da blickte er auf. Er hielt sich das Klemmbrett vor die Brust, als wartete er auf eine Antwort.

»Natürlich nicht. So eine Haarfarbe hat man nur, wenn man nachhilft.« Zelda beugte sich vor, um den Unterschrank abzuwischen. »Alles andere ist aber echt«, sagte sie, als sie sich aufrichtete und ihr Oberteil zurechtzog.

Er sah ihr noch einen Moment lang zu, lehnte an der Edelstahl-Arbeitsfläche, ehe er mit dem Kugelschreiber daraufklopfte. »Gut zu wissen«, sagte er und ging.

An ihrem achtzehnten Geburtstag war sie bei einer Klassenkameradin eingeladen. Sie waren nur eine Handvoll enger Freundinnen, und die anderen stellten ihr Shots hin und setzten ihr ein Papierhütchen auf und feierten mit ihr die erste Party ihres ganzen Lebens. Nach ein paar Stunden rief eine von ihnen ihren Freund an und lud ihn ebenfalls ein. »Er bringt noch Kumpels mit«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Wie war das noch? Ist die Katze aus dem Haus …«

Als Matt eintrat, hatte sie – selbst in der Rückschau – sofort ein wohliges Gefühl im Bauch. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kamen in einer langen, gewaltsamen Sekunde zusammen: im Rausch jenes Augenblicks, in dem ein Teenagerschwarm den Raum betritt.

Lächelnd hielt er auf sie zu. »Happy Birthday.« Er beugte sich vor und gab ihr ein Küsschen auf die Wange.

»Willst du vielleicht was trinken?« Nach den Shots, die sie intus hatte, sah er noch besser aus als sonst.

In der Küche mixte sie ihm Red Bull mit Cola in einem Plastikbecher. Irgendwer hatte die Musik aufgedreht, und er musste ganz nah an sie herankommen und ihr direkt ins Ohr schreien.

»Hast du wirklich noch nie Geburtstag gefeiert?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist ja irre. Wie kommt’s?«

»Lange Geschichte.«

Er rückte näher, sodass sie nebeneinander an der Küchenanrichte lehnten und die anderen im Blick hatten. »Trifft sich gut. Der Abend ist ja noch jung.«

Sie lachte und freute sich, dass er sich nach ihr erkundigte. Er will mich besser kennenlernen, dachte sie und fragte sich, ob sie je zuvor so glücklich gewesen war.

Sie flüchteten vor dem Trubel in seinen Wagen. Auf dem Beifahrersitz erzählte Zelda ihm ihre Geschichte. Sie entschied sich für die zensierte Version, um ihn nicht zu verschrecken. Ihr früherer Glaube wurde zum Gesprächsthema bei Partys – etwas, was ihr bei Bedarf Aufmerksamkeit bescherte. Die Leute machten große Augen, wenn sie sich eine Kindheit ohne Geburtstagsfeiern und Weihnachten vorstellten, eine Kindheit, in der die Guy Fawkes Night und Muttertag verboten waren, in der Samstage und Sonntage entweder in der Gemeinde oder mit dem Klopfen an Haustüren verbracht wurden. Sie erzählte, dass sie nie zu Schulfesten oder in die Disco hatte gehen dürfen, dass so etwas als Teufelswerk betrachtet wurde, das sie vom rechten Weg abbringen sollte. Sie hatte auch nie eine Schulfreundin zu Hause besucht. Sie hatte nie ein Tombolalos gekauft. Sie hatte nie feierlich mit jemandem angestoßen.

»Aber jetzt bist du nicht mehr dabei?«, hakte Matt nach, als sie fertig war.

Kopfschüttelnd strich Zelda über den Sitzbezug. Den Grund verschwieg sie ihm. Dies war nicht der richtige Augenblick für die Wahrheit, für Tränen an seiner Schulter. Außerdem war all das Alice passiert, nicht ihr.

»Ich musste dort einfach raus«, flüsterte sie. »Ich hab keine Luft mehr gekriegt.«

»Das ist echt mutig.« Er drehte sich zu ihr um. »Muss schwer sein, jeden zurückzulassen, den man kennt.«

Sie war erleichtert, dass der Alkohol das Ziehen in ihrer Kehle linderte. »Ich finde, wenn Leute mich lieben, sollten sie mich lieben. Ich sollte nicht jemanden spielen müssen, der ich gar nicht bin.«

Matt wollte etwas sagen, ließ es dann jedoch bleiben. Er lächelte und hatte einen zärtlichen Ausdruck im Gesicht. »Du bist anders als die anderen.«

Überhaupt nicht, dachte sie insgeheim. Ich will auch nur geliebt werden, wie alle anderen auch. »Darf ich dich mal was fragen?«

Das Licht der Straßenlaterne schimmerte auf seinem Gesicht.

»Was würdest du machen, wenn ich dich jetzt küssen würde?«

Er lachte verunsichert. »Was ich dann machen würde oder was ich machen sollte?«

»Beides.«

Matt strich mit der Hand über das Lenkrad. »Ich sollte mir in Erinnerung rufen, dass wir eine berufliche Beziehung haben. Ich sollte Nein sagen.« Er hielt inne. »Ich kann allerdings nicht versprechen, dass es so kommt.«

Als sie sich auf seinen Schoß schob, konnte Zelda immer noch die Wirkung des Wodkas spüren. Er machte keine Anstalten, sie von sich wegzuhalten. Stattdessen griff er unter den Sitz und schob ihn nach hinten, damit sie sich nicht gegen das Lenkrad quetschen musste.

Sie küsste ihn eindeutig zuerst. Sie presste ihre Lippen auf seine, suchte nach seiner Zunge, gab das Tempo vor. Er küsste zaudernd zurück, widersetzte sich jedoch nicht. Sie wusste, wie ernst er seinen Job nahm, was sie aber nur zusätzlich befeuerte. Er begehrte sie also so sehr, dass er das hier nicht verhinderte. Wenn sie irgendjemand gewesen wäre, wenn sie ihm egal gewesen wäre, hätte er an seinen Job gedacht.

»Berühr mich«, sagte sie.

Er biss sich auf die Lippe. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das tun sollte …«

»Nicht so – ich meine: Berühr mich einfach. Berühr meine Haut. Leg deine Hände an meinen Rücken.«

Sie trug Jeans und ein Oberteil aus Kreppseide mit Wasserfallausschnitt, und als er ihr über die Haut an ihrem Rücken fuhr, stieß sie einen leisen Lustschrei aus. Und damit war es besiegelt. Damit gab er klein bei. Er presste seine Hände auf ihren Rücken, tastete sich an ihrem Rückgrat empor, spielte mit der Kette, die das Oberteil auf ihren Schultern hielt.

»Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«, fragte er und tastete sich weiter vor. »Bei der Arbeit reden alle über dich.«

Sie erschauderte. Biss ihm sanft in die Zunge. »Die anderen sind mir egal«, sagte sie, woraufhin er seinen Griff verstärkte.

Allerdings passierte es noch nicht in seinem Auto. Er fragte sie, ob sie auf den Rücksitz umziehen wollten, aber sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das ist es nicht«, sagte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Ich will ja – nur nicht dahinten.«

Wieder behielt sie die Wahrheit für sich.

Sie warteten noch eine Woche. Am Freitagabend gingen sie mit den Kollegen aus. Sie spürte, wie er sie den ganzen Abend nicht aus den Augen ließ. Er fragte sie, ob sie etwas trinken wolle, und als er zurück war, flüsterte er ihr zu: »Du siehst in diesem Kleid unfassbar aus.« Sie lachte, machte einen Schritt von ihm weg und schwang auf dem Weg zur Tanzfläche die Hüften. Sie fühlte sich unbesiegbar. In ihrem silbernen Kleid glitzerte sie wie eine Discokugel. Als sämtliche Chefs ihr beim Tanzen zusahen, fühlte sie sich wie die mächtigste Person auf der Welt.

Tags darauf arbeiteten sie in derselben Schicht, und anschließend fuhren sie zu ihm nach Hause.

Es war ein Sozialbau im Norden der Stadt. Für alle Fälle parkte sie ein Stück die Straße entlang. Als sie ausstieg, betrachtete sie die Graffiti und die verbeulten Wagen und fragte sich kurz, ob sie ihr Auto wirklich hier stehen lassen sollte.

Er selbst stellte seinen Ford Escort in der Auffahrt ab. Warum fährst du ein lila Auto?, hatte sie ihn mal gefragt. Beleidigt hatte er erwidert, es sei marineblau, und wenn zehn Prozent der Weltbevölkerung farbenblind seien – wer habe da wohl recht? Die restlichen neunzig Prozent?, dachte Zelda und lobte stattdessen den Spoiler, den er am Heck montiert hatte.

Sie verlor ihre Unschuld in seinem Einzelbett, während seine Mutter und seine kleine Schwester nebenan schliefen. Über der Tapete mit heraldischen Lilien klebten Basketballposter und Fotos von ihm mit seinen Kumpels am Tag ihres Schulabschlusses. Eine Hantelbank nahm den größten Teil des Zimmers ein. Am Morgen wachte Zelda in seinem Bett auf und sah zu, wie das Licht durch die Gardine flirrte. Das war es also, dachte sie. Ihr war ihr Lebtag eingebläut worden, dass ihre Unschuld heilig und dass sie eine beschädigte, eine unmoralische Frau und gebrandmarkt sei, wenn sie sie vor der Hochzeit verlöre.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er, als er aufwachte, sich zu ihr umdrehte und sie in die Arme nahm. »Irgendwie verändert?«

Sie schmiegte sich an seine Brust und sah aus dem Fenster. »Genau wie vorher.«

Lächelnd küsste er ihren Scheitel. »Du hast nicht geblutet.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Sollte ich?«

»Passiert manchmal.«

»Oh.«

»Aber nicht immer.«

»Wie viele Jungfrauen hattest du denn schon in deinem Bett?«

Er lachte. »Ups. Hätte das Thema wohl nicht anschneiden sollen.«

Als er nicht weiter auf ihre Frage einging, ließ Zelda sich seine Tattoos zeigen. Er hatte ein Tribal auf dem Oberarm, dicke schwarze Linien – »ein Phönix, der aus den Flammen steigt« – und zwei chinesische Schriftzeichen auf der Brust, die grünlich verblasst waren.

»Das heißt frei. « Er tippte sich auf den Brustmuskel. »Ich wollte etwas, was symbolisiert, dass man sich von den Erwartungen anderer freimachen kann.«

Jahre später, als sie ihrer chinesischstämmigen Freundin Anne ein Foto von Matt mit nacktem Oberkörper zeigte, erfuhr Zelda, dass die Schriftzeichen tatsächlich frei bedeuteten, allerdings nicht im beabsichtigten Sinne. »Frei wie in kostenfrei , gratis .« Sie lachten, bis ihnen alles wehtat.

»Und warum ein Phönix?«, fragte sie ihn. Sie weiß noch immer, wie die Sonne das Zimmer flutete.

Statt zu antworten, sah er eine ganze Weile auf seinen Arm hinab. »Ich will hier raus, Zelda«, sagte er schließlich. »Ich will von hier weg. Meine Mutter … Sie steckt in diesem Leben fest, aber ich will mehr als das.«

Er war acht Jahre alt gewesen, als sein Vater sie sitzen gelassen hatte, um nach Kalifornien zu gehen, und seine damals schwangere Mutter zog die zwei Kinder allein groß. In den ersten Jahren ging sie putzen, um über die Runden zu kommen, und bestellte für ihn und seine Schwester Babysitter, wenn sie abends arbeiten musste. Sie war nie da, sagte er. Sie klingt fantastisch, dachte Zelda und hörte ihm zu, wie er davon redete, dass er sich eines Tages auf die Suche nach seinem Vater machen würde. Vielleicht war der ja zu Geld gekommen und wohnte in einem Haus, in dem auch sein Sohn Platz hätte. Wenn er Matt erst wiedersähe, würde er vielleicht erkennen, wie hart sein Sohn arbeitete, um die Armut hinter sich zu lassen und etwas aus seinem Leben zu machen. Vielleicht wäre er ja stolz.

Deine arme Mum, dachte Zelda. Mit Kind sitzen gelassen, stellt jeden Tag Essen auf den Tisch und wird dann von ihrem Sohn bemitleidet, während der abwesende Vater der Held ist.

So denkt Zelda jetzt, Jahre später. Doch damals, in seinen Armen, nickte sie und beteuerte, dass sie das gut verstehen könne. Sie wusste, wie es sich anfühlte, sich nach einem Vater zu sehnen, besonders nach einem, den man verehrt hatte.

»Wo willst du denn hin?«, fragte sie.

»Nach Amerika.« Sein Blick war verklärt. »Wenn man in den Staaten hart arbeitet, kann man etwas aus sich machen. Ich werde erfolgreich, und sie lassen mich dableiben. Irgendwo drüben im Westen.«

Er erinnerte Zelda an die Maus in Feivel, der Mauswanderer , die von goldgepflasterten Straßen sang.

»Ich will kein Durchschnitt sein, Zee«, sagte er, und sie war euphorisiert, als er ihren Namen abkürzte. »Es gibt nichts Schlimmeres, als Durchschnitt zu sein. Ich will besonders sein.«

Deshalb stand auch fast die ganze Zeit über ein Bügelbrett in seinem Zimmer. Jeden Morgen bügelte er sein Outfit, sogar Jeans und Unterwäsche. Er musste immerzu bestmöglich aussehen. Nirgends auch nur eine Knitterfalte.

Seine Mutter und seine Schwester Esme lernte Zelda beim Frühstück kennen und hatte sofort das Gefühl, gemocht zu werden. Die Mutter wirbelte herum und machte Pancakes und fragte Zelda nach ihrem Leben aus. Esme fand, sie habe Haare wie eine Disney-Prinzessin.

Zelda weiß nicht mehr, wann sie erstmals zu ihm sagte, dass sie verliebt in ihn sei, auch wenn es ihr vom ersten Moment an klar gewesen war. Ein paar Tage nachdem sie bei ihm übernachtet hatte, reichte sie ihre Kündigung bei einem der anderen Chefs ein – er grinste, als wüsste er ganz genau, warum sie ging – und heuerte bei Pizza Hut in der Innenstadt an. Ihr war egal, wie sie ihr Geld verdiente. Hauptsache, sie hatte Matt.

Er tauschte sein Einzel- gegen ein Doppelbett aus, in dem sie die meisten Nächte verbrachte. Noch so eine Sache. Sie liebte es, mit ihm zu schlafen. Wie ihre Körper zusammenpassten, war einfach magisch, und die Stunden, in denen sie in seinen Mischgewebelaken Sex hatten, rasten wie Minuten an ihr vorbei. Sein Bett war eine Zeitmaschine, in der sie sich gleichzeitig verlieren und zu sich selbst finden konnte. Wenn sie ihn ritt, genoss sie, wie er sie ansah und wie er sich in ihre Hüften krallte, und allein die Vorstellung, dass er sie begehrte, bescherte ihr das einzige High, das sie im Leben brauchte. Wenn er sie vor anderen aufzog – bitte schön, das konnte sie ihm verzeihen, solange er später eine Stunde lang ihren nackten Leib küsste. Wenn sie nach Feierabend verabredet waren und er sie im Scherz Miststück oder Fuckface nannte – was tat das schon zur Sache, wenn er später gewisse Stellen an ihrem Körper leckte und sie in Ekstase versetzte. Auch wenn er der Einzige war, mit dem sie Erfahrungen gemacht hatte, wusste sie, dass so etwas selten war – eine solche körperliche Verbindung. Mit keinem anderem wäre es so gut. Da konnte man über ein paar Macken hinwegsehen. Niemand war perfekt.

Als sie erfuhr, dass er Zigarettenrauch hasste und Rauchen für eine Charakterschwäche hielt, beschloss sie, sich in seiner Nähe nie wieder eine Zigarette anzuzünden. Sie lief in der Pause in den Park, nahm klammheimlich ein paar Züge und überschwemmte sich anschließend mit Parfüm und lutschte Pfefferminz, um den Geruch zu überdecken. Er sollte nicht wissen, in welchem Maße sie abhängig war.

Sein Zimmer war voll mit Amerika-Klischees. An der Wand hing ein auf alt gemachtes Coca-Cola-Leuchtschild, eine Filmklappe lehnte an der Stereoanlage, und ein Magic 8 Ball lag neben dem Bett. Wann immer Matt morgens nach unten ging, um Tee zu machen, nahm Zelda den Ball hoch, flüsterte ihm Fragen zu und schüttelte ihn, bis er die Antwort gab, die sie hören wollte.

Du bist anders, wenn du mit ihm zusammen bist, sagte eine Klassenkameradin. Da wirst du ganz still. Er presst die Luft aus dir raus wie aus einem Ballon. Ab da war sie nicht mehr Zeldas Freundin. Hatte eine Frau nicht still, bescheiden und demütig zu sein? Da war es doch wohl besser, dass sie nicht so aufgedreht war? Sie fragte sich, was sie noch tun sollte, damit die Leute mit ihr zufrieden waren.

Eines Tages im Oktober – bei achtundzwanzig Grad Außentemperatur – lag sie in seinem Bett und hörte zu, wie er in der Küche mit seiner Mutter stritt. Als sie ihn die Treppe hochtrampeln hörte, setzte sie sich auf. Er stieß Verwünschungen gegen Esme aus, die Kleine fing draußen im Flur an zu weinen, und er donnerte die Zimmertür hinter sich zu.

»Alles in Ordnung?« Zelda trat auf ihn zu. »Was ist denn passiert?«

Er riss sich von ihr los und stemmte sich beidhändig gegen die Tür. »Ich will hier einfach nur weg! Ich will hier WEG !« Er trat gegen den Türrahmen.

»He, nicht …« Behutsam zog Zelda ihn an sich. Sie schlang die Arme um seinen Leib, der sich weich anfühlte wie Watte. »Du kommst noch weg. Sch. Du kommst schon noch weg.« Sie strich ihm beruhigend über den Rücken.

Sein Nacken war schweißnass. Er ließ zu, dass sie ihn streichelte, und sie lauschte seiner schweren Atmung. Eine Minute verstrich, und er legte seine Hand an ihre klamme Hüfte und zog ihr T-Shirt hoch. Draußen klopfte Esme, schluchzte und flehte Matt an, sie hereinzulassen.

»Deine Schwester …«

Er ging darüber hinweg, küsste Zeldas Hals – heiße, feuchte Speichelküsse – und schob seine Hände unter ihren BH . Zelda hätte gern die Tür aufgemacht und Esme getröstet, aber noch lieber wollte sie, dass Matt sie fickte. Sie ließ zu, dass er seine Shorts abstreifte, Zelda hochwuchtete und hart an der Wand nahm, während seine kleine Schwester auf der anderen Seite heulte wie ein Schlosshund.

Anschließend ging sie ins Bad, um sich abzuwaschen. Sie lehnte sich rücklings gegen das avocadogrüne Waschbecken und entdeckte im Spiegel den Abdruck des Lilienmusters auf ihrer Schulter. Zelda strich mit dem Finger darüber und wünschte sich, das Muster würde sich auf ewig in ihr Fleisch einbrennen.

Ende Dezember blieb sie bei ihm zu Hause und feierte ihr erstes Weihnachtsfest. Sie gaben sich alle Mühe, es für sie zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Seine Mutter fragte, ob sie mithelfen wolle, das Wohnzimmer zu dekorieren, und mit der Deko in Händen, die Matt sein Leben lang gekannt hatte, fühlte sie sich bis zum Rand voll mit Liebe. Seine Mutter bat sie sogar, den Stern auf den Baum zu setzen. Zelda hatte genug Weihnachtsfilme gesehen, um zu wissen, welche Ehre das war.

Er gab ein ganzes Monatsgehalt für ihre Weihnachtsgeschenke aus. Sie öffnete Schachtel um Schachtel und sah ihn mit purer Freude im Herzen an.

Zum Valentinstag überreichte er ihr sechs rote Rosen und eine Karte mit einem albernen Reim. Selbst hatte er dazugeschrieben: Liebe Zelda, ich finde, hiermit ist alles gesagt. Gruß, Matt. Sie starrte das Wort Gruß an, bis ihr der Kopf schwirrte.

Anfang März schrieb er ihr, er sei am Wochenende nicht verfügbar. Fährst du weg?, schrieb sie zurück. Nur viel um die Ohren, lautete die Antwort. Chaos auf Arbeit, und ich muss mal schlafen.

Am Freitag kam sie gerade mit einer Freundin aus dem Kino, als sie ihn in der Schlange vor dem benachbarten Club im Kreis seiner Kumpels entdeckte – in seinem weißen T-Shirt mit dem Aufdruck Meister mit dem Queue: Einlochen kann ich! , gebügelten Jeans und Loafers. Anscheinend gab es mit einer Gruppe Mädels einiges zu lachen.

Nach nur drei Stunden Schlaf fuhr sie tags darauf zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen. Er stand vor dem Haus, als sie vorfuhr, und setzte sich zu ihr auf den Beifahrersitz, statt sie hereinzubitten.

»Warum bist du ausgegangen, wenn du doch schlafen wolltest?«

Matt seufzte. »Die Jungs haben mich spontan mitgeschleift. Ich bin seit Wochen nicht mehr ausgegangen, das weißt du.«

»Und warum wart ihr mit dieser Mädchenmeute zusammen?« Sie konnte ihn nicht einmal ansehen.

»Mädchen?«

»Ich habe euch in der Schlange gesehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ach Zelda, die haben da bloß in der Schlange gestanden, genau wie wir. Weißt du überhaupt, wie paranoid du gerade klingst?«

Verwirrt sah sie ihn an. Hatten sieben Monate denn gar nichts zu bedeuten? »Ich verstehe einfach nicht, warum du das Wochenende getrennt verbringen wolltest und dann einen Abend in einen überheizten Club gehst, in dem deine Kumpels Frauen aufreißen.«

Er holte tief Luft und sah durchs Fenster in den grauen Himmel. Die Wolken sahen trostlos und regenschwer aus. »Ich glaube …« Er atmete wieder aus. »Unsere Vorstellungen sind zu verschieden. Du willst in guten wie in schlechten Zeiten , aber für mich ist das hier erst der Anfang. Ich will keine Durchschnittlichkeit, Zelda, aber genau so fühlt sich das mit dir für mich an. Durchschnittlich.«

Und in diesem Moment ging für sie die Welt unter. Was er sonst noch sagte – keine Ahnung. Sie schrie ihn an, er solle sich verpissen, und dann fuhr sie die drei Meilen zu sich nach Hause. An Regen kann sie sich nicht mehr erinnern, aber sie weiß noch, dass ihre Haut nass war, als sie den Weg zu ihrem Zinnblechhäuschen entlangrannte.