Sie kann sich nicht zwischen Schwarz und Weiß entscheiden.
Sie hält sich das Schwarze vor, presst sich den kühlen Stoff an die Körpermitte: ihr heißestes Kleid, mit Spaghettiträgern und eng anliegender Seide. Um die Taille eingestickte kleine Herzchen, echte, keine Cartoon-Herzen – die einzigen Farbkleckse. Das Kleid ist ein Zaubertrick, der jedes Mal funktioniert.
Aber vielleicht zu sexy fürs Kino. Sie streicht über das Weiße. Der weiche, an der Taille geraffte Tüll, der verspielte, ausgestellte Rock, die Träger, die seitlich an den Schultern sitzen. Sexy. Lässig.
Ihr Handy meldet sich fünf Mal, und sie ignoriert es. Nicht heute Abend.
Am vorangegangenen Wochenende hat Matt sie noch während des Hochzeitsessens aufgespürt. Sie saß im Foyer und ging die Fotos durch, die sie schon gemacht hatte. Jen war nach drinnen zum Büfett gegangen, ihnen was zu essen holen. Matt ließ sich in den freien Sessel neben ihrem fallen.
»Ich bin womöglich leicht betrunken.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken.
Zelda blickte nicht einmal auf. »Manche Dinge ändern sich wohl nie.«
Er sah zu, wie sie durch die Speicherkarte scrollte, um sicherzustellen, dass sie alles Wichtige im Kasten hatte. Sie nahm ihren Job ernst, und entsprechend strömten regelmäßig neue Aufträge herein. Jedes Mal hieß es, irgendwas an ihren Fotos habe angerührt, etwas sei anders als bei anderen Hochzeitsfotos. Die Leidenschaft sei deutlich zu spüren.
»He.« Matt tippte sie mit dem Fuß an. »Nimm mal die Kamera runter, damit ich dich richtig ansehen kann.«
Zelda legte den Zeigefinger an die Lippen und ging weiter ihre Fotos durch, bis er anfing, unruhig hin und her zu rutschen. Sie setzte die Kamera ab und sah ihn an. »Ganz zu Diensten.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Führe mich nicht in Versuchung.«
»Wo ist denn Mel?«
Matt seufzte. »Da drin, und mal wieder typisch Mel. Nutzt jede Gelegenheit, um zu networken. Wenn ich noch eine einzige Story von ihren C-Klasse-Kunden hören muss …« Er tat so, als würde er sich eine Pistole an die Schläfe halten.
»Wie man hört, ist sie ziemlich erfolgreich«, bemerkte Zelda und rief sich die zahllosen Artikel aus der Lokalpresse in Erinnerung, die sie online gelesen hatte. Unternehmerin erobert P R -Welt , Blondine stiehlt Platzhirschen die Awards-Show.
»Ja, ja. Ich beiß mir auf die Zunge und stärke ihr den Rücken. Darum geht es schließlich, wenn man verheiratet ist, oder? Dass man selbst für immer die Klappe hält.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Nein, du bist viel zu sehr Freigeist, um dich auf so etwas einzulassen.«
Ihre Ohren glühten. Sie lächelte verlegen und leckte sich über die Lippen.
Jen kam mit zwei Tellern zurück und stellte sie auf dem Tischchen ab. Hühnchen und kunstvoll arrangiertes Gemüse.
»Hm, lecker.« Zelda wandte sich ihrem Abendessen zu.
»Ist das alles, was ihr hier kriegt?« Er verzog das Gesicht.
Zelda tauchte die Fingerspitze in die Soße. »Was ist daran verkehrt?«
»Du warst den ganzen Tag auf den Beinen. Da braucht man doch mehr, um bei Kräften zu bleiben.«
»Das ist normal, Schätzchen«, sagte sie. »Übrigens sitzt du auf Jens Platz.«
Jen wartete höflich, bis Matt aufgestanden war. Er streifte sie mit dem Blick, dann beugte er sich vor und steckte seinerseits den Finger in Zeldas Soße. »Hm.« Er leckte sich den Finger ab. »Lecker.«
Obwohl sie nicht wollte, lächelte Zelda.
Eine halbe Stunde später – sie hatte gerade die angeheiterten Hochzeitsgäste an den Tischen fotografiert – hielt Zelda Ausschau nach Jen, als jemand den Arm nach ihr ausstreckte und sie in einen Nebenraum zog. Überrascht sah sie zu, wie Matt die Tür hinter ihnen zuschob. Er war betrunken. Fröhlich betrunken. Er stellte sich zwischen sie und den Ausgang, sodass sie um ihn herumgreifen musste, um an die Klinke zu kommen.
»Jetzt warte doch mal!« Lachend legte er die Hände an ihre Taille. »Ich hab eine Überraschung für dich.«
»Ich muss arbeiten.« Erneut versuchte sie, sich an ihm vorbeizuschieben. Er verstärkte seinen Griff.
»Gib mir eine Minute.« Dann zog er sie auf einen Tisch zu. Dort ließ er sie los und hob einen Dessertteller hoch. »Du hast mir leidgetan mit diesem mickrigen bisschen Essen. Die sollten sich schämen, dich wie eine Bedienstete zu behandeln.«
»Na ja, ich bin zum Arbeiten hier.« Sie wünschte sich fast, dass er sie weiter festhielt. »Und da muss ich jetzt auch wieder hin. Ich mag meinen Job nämlich.«
»Moment.« Er zupfte mit einer Gabel ein Stück Kuchen ab und schob es ihr in den Mund. Ließ ihre Lippen nicht aus den Augen. Behutsam fütterte er sie, ein Bissen nach dem anderen. Draußen ging die Hochzeitsfeier weiter. Als nur noch ein Bissen übrig war, hob er ihn erst in ihre Richtung, schob ihn sich dann aber selbst in den Mund. Sie standen sich schweigend gegenüber, nicht mal auf Armeslänge voneinander entfernt, der Raum eindeutig aufgeheizt. »So«, sagte er. »Das ist besser.«
Zelda sah ihn unverwandt an. »Darf ich jetzt wieder zurück?«
»Nur, wenn du mir versprichst, dass wir uns nächste Woche treffen.«
»Matt, ich …«
»Irgendwo in der Öffentlichkeit. Als Freunde.«
Sie antwortete nicht gleich. Spürte die zarte Säure des Kuchens immer noch auf der Zunge. »Wenn ich Ja sage, lässt du mich dann gehen?«
Er schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Ein Klassiker. »Du würdest sowieso niemals Nein sagen, oder? Ich kenne dich doch, Zelda Bloom.«
Jen steht in ihren üblichen anständigen Klamotten an der Spüle und trinkt Wasser. Ihre Hand mit dem Glas hält auf halbem Weg zum Mund inne, als sie Zelda die Wendeltreppe herunterkommen sieht.
Sie hüpft von der letzten Stufe, hält sich am Geländer fest und schiebt den Fuß in ihre höchsten High Heels.
»Wo willst du denn in diesem Outfit hin?«
»Ach, nur ins Kino mit einem alten Bekannten.« Sie kichert in sich hinein. Dann beäugt sie Jens Sachen. »Heute ist Zusammenkunft, oder?«
Jen mustert verstohlen Zeldas Kleid und streckt die Hand in Richtung der Tausendschönchen aus, die in Weiß rund um die Taille gestickt sind. »Sollten die nicht gelb sein oder eine andere Farbe, die sich vom weißen Stoff abhebt? So sieht man die ja kaum.«
Zelda streicht selbst über die Blüten. »Ich weiß, dass sie da sind. Das ist alles, was zählt.« Sie hat einen abwesenden Blick. »Und dass man sie kaum sieht, ist Absicht. Man muss genau hinschauen. Wirklich hinschauen.«
Als Jen gerade erst eingezogen war, fragte sie Zelda, warum in deren Haus überall Brüste zu sehen sind: auf den Türklinken, Spiegeln, in den Tisch eingeritzt. Üppige Us oder Os mit Edelsteinnippeln. Jen hatte sogar die Lider zusammengekniffen, um zu sehen, ob es an ihren Augen lag, aber nein, das waren eindeutig Brüste. Woraufhin Zelda bloß mit den Schultern zuckte. Männer schmieren ja auch überall Schwänze hin – was ist so schlimm an einer Titte? Immerhin dient sie sogar der Ernährung. Vielleicht wäre die Lösung ja auch, erwiderte Jen, dass einfach alle damit aufhören, Geschlechtsteile zu malen. Zelda verdrehte die Augen. »Gott, Jen, du bist echt so spießig! Da sind auch Titten unter deinem Oberteil, schon vergessen?«
»Wann kommst du denn wieder nach Hause?«, will Jen von ihr wissen.
Zelda muss fast lachen. »Später.«
»Wenn ich heimkomme, liegst du aber nicht mit einem Typen im Bett, oder?«
Zeldas Schmunzeln verblasst. »Wäre das für dich ein Problem?«
»Es ist dein Haus.«
»Oh, vielen Dank auch.«
Jen holt tief Luft. »Es ist nur … Meinst du nicht, du wärst womöglich glücklicher, wenn nicht? Vielleicht kommst du irgendwann doch wieder mit zu einer Zusammenkunft und versuchst es noch mal? Die Versammlung hat sich verändert. Die Leute haben sich weiterentwickelt.«
Zelda starrt Jen entsetzt an. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, reißt sich dann aber zusammen. »Frag mich so etwas nie wieder.«
»Ich meine doch nur, wenn du dem Ganzen eine zweite Chance geben …«
»Jennifer!«
»Aber …« Jen sieht sich hektisch um. Sie muss zu der Zelda vordringen, die früher gläubig war.
»Rumvögeln macht mir Spaß, okay?«, setzt Zelda nach. »Ich liebe Sex, und ich wüsste nicht, warum ich mich dafür entschuldigen sollte. Und wenn deine Vorstellung von Spaß ist, dir von Männern sagen zu lassen, wie du leben sollst … Tja. Dann haben wir über Spaß unterschiedliche Ansichten.«
Jen ist sich bewusst, dass wahre Freundschaft bedeutet, auch Dinge anzusprechen, die Zelda nicht hören will. Beispielsweise dass das Ende nah ist. Dass ihre Freundin untergeht, wenn sie nicht in die Wahrheit zurückkehrt. Kurz blitzt Zelda unter einem Berg aus Schutt und Asche vor ihr auf, und Jen reibt sich die Augen. Nein, denkt sie, sie kann nicht an die Türen von fremden Leuten klopfen und gleichzeitig nicht alles tun, um ihre Freundin zu retten.
»Willst du denn nicht, dass dein Leben bedeutsam ist?«
Zelda sieht sie unverwandt an. »Ich habe dieses Leben mal ausprobiert, Jen. Es war nicht das Richtige für mich.«
»Liebe ist für alle da, Zee. Du bist nicht vergessen.«
Zelda lacht höhnisch. »Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Wenn es Gottes Wille sein soll, dass Familie und Freunde dich nicht mal mehr ansehen, ist das für mich nur der Beweis, dass es sich um eine gefährliche Sekte handelt. So wie meine Mutter da drüben …« Sie spricht den Satz nicht zu Ende. »Erzähl mir also nichts von Liebe.«
Jen schließt die Augen. Es bricht ihr das Herz zu sehen, wie weit sich Zelda von ihr entfernt hat. »Es ist keine Sekte.«
»Das glauben Sektenmitglieder immer.«
An dieser Stelle schlugen Fremde Jen immer die Tür vor der Nase zu – und sie stellte den Fuß in den Spalt.
»Ich habe mein Baby verloren und bin fast gestorben und habe trotzdem nicht aufgegeben. Wie können deine Erfahrungen schlimmer sein als meine?«
Zelda schlägt beide Hände vors Gesicht. Der einzige Grund, warum sie nicht ausflippt, ist ihr Treffen mit Matt in knapp einer Stunde. Matt sorgt dafür, dass sie ruhig bleibt. Matt. Matt. Matt.
Irgendwann nimmt sie die Hände herunter und tritt vor den Spiegel, wischt sich über die inneren Augenwinkel und streicht sich über die Haare. Jetzt ist nicht der richtige Moment für Geständnisse. Sie dreht sich zu Jen um. »Ich würde dir nie vorschreiben, wie du dein Leben leben sollst. Schreib du mir also auch nichts vor.«
Dicke Tropfen prasseln auf die Windschutzscheibe, als sie in die Stadt fährt.
»Scheiße!« Zelda greift in den Fußraum hinter ihrem Sitz, und ihr fällt wieder ein, dass sie Jen ihren Schirm geliehen hat. Sie hat auch keinen Mantel dabei. Als sie losgefahren ist, hat die Sonne geschienen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Vor dem Kino hält sie nach einem freien Parkplatz Ausschau, aber andere hatten wohl die gleiche Idee. Er wartet schon, denkt sie und sieht auf die Uhr.
Bis sie eine Viertelmeile entfernt eine Parklücke entdeckt, hat der Regen tropische Ausmaße angenommen, und die Scheibenwischer kommen nicht mehr dagegen an. Zelda bleibt im Wagen sitzen und trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Wenn sie zum Kino läuft, wird sie bis auf die Knochen nass, aber wenn sie jetzt sitzen bleibt, geht Matt ohne sie rein. Er wird nicht auf sie warten. Sie weiß, dass er nicht warten wird.
Zelda will ihm eine Nachricht schreiben, doch ihr Akku gibt den Geist auf, bevor sie auf Senden drücken kann.
»Fuuuuuuck!«
Ihre Handtasche gibt einen erbärmlichen Regenschutz ab. Wegen ihres Make-ups kann sie nicht aufblicken, deshalb sieht sie auch nicht die zwei Autos, die durch Pfützen pflügen und sie gleich doppelt mit Spritzwasser erwischen. Als sie die Straße überquert, rutscht sie aus, ein Absatz bricht ab, und sie hört nur noch, wie sie innerlich schreit und es in ihrem ganzen Körper widerhallt.
Sie ist nur noch eine Straßenecke entfernt. Sie muss ihr Spiegelbild kontrollieren, bevor sie ihm entgegentritt, und schlüpft in einen überdachten Ladeneingang. Das Schaufenster ist warm ausgeleuchtet, die kopflosen Schaufensterpuppen sind pompös herausgeputzt und werben für die gleiche aufpolierte Perfektion, die sonst auch Zeldas Markenzeichen ist. Der Wanduhr zufolge ist sie zehn Minuten zu spät dran.
Als sie ihr Spiegelbild sieht, kommen ihr die Tränen. Schwarze Schlieren unter den Augen, und ihre Haare liegen nass und platt am Schädel an. Sie presst sich die Clutch und den abgebrochenen Absatz an die Wangen. Die Frau, die sie im Augenblick ist, ist der reinste Albtraum. Finger und Spucke können da nichts mehr ausrichten.
Ein Auto bremst und hupt, und als sie sich langsam umdreht, entdeckt sie Matt, der das Fenster herunterfährt. Dann war er also noch nicht einmal da.
»Alles in Ordnung?«, ruft er, obwohl ihr Anblick alles sagt.
In einer verzweifelten Geste reißt sie die Arme hoch, blickt die Straße entlang, und die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos huschen über ihr verschmiertes Gesicht.
Die Fahrertür geht auf, und Matt springt heraus. Er schlüpft aus seiner Jacke, legt sie ihr um die Schultern, reibt ihre Arme, um sie zu wärmen. Alles gut, sagt er und tätschelt ihr wie einem Schulmädchen den Rücken. Sie atmet in seine Brust aus. Komm, sagt er und schirmt sie gegen den Regen ab, als beide zur Beifahrerseite laufen und sie auf den Sitz rutscht. Bis er neben ihr auf dem Fahrersitz Platz nimmt, ist sein Hemd klatschnass.
Schweigend fahren sie durch die Stadt, lassen sie nach einer Weile hinter sich. Rund eine Meile jenseits der Stadtgrenze fährt Matt auf einen Feldweg und parkt vor einem Gatter, das mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Der Regen trommelt aufs Wagendach, und die Fenster beschlagen.
»Alles in Ordnung?« Matt streichelt ihr über den Hinterkopf.
Zelda lacht, auch wenn es eigentlich ein Schluchzer ist. »Schau mich an …« Sie blickt an ihrem ruinierten Kleid hinab.
»Hör mal.« Er legt seine Hand an ihr Kinn und dreht ihr Gesicht zu sich herum. »Du warst nie schöner als in diesem Augenblick.« Sein Finger drückt auf ihre Lippe.
Es musste natürlich so kommen. Natürlich musste Zelda ihn auf den Mund küssen und sich wie damals an ihrem achtzehnten Geburtstag auf seinen Schoß schieben. Natürlich musste sie sich das Kleid vom regennassen Leib reißen lassen und keuchen, als er in sie eindrang. Natürlich musste sie bei der Vorstellung, wie sie für ihn aussah, ebenso viel Lust empfinden wie bei seinem Anblick. Natürlich musste sie den Schalter wieder umlegen. Natürlich musste er sie wieder zum Leben erwecken.
Das hier ist ein Traum, denkt sie. Das hier ist nur ein Traum, und gleich wache ich auf. Ich muss es genießen, solange ich kann.