Einfach nur verschwinden

Alice
1996

Ihr Zugabteil ist von der Sonne grell ausgeleuchtet. Sie haben sich auf der schattigen Seite einen Vierersitz gesucht, Alice’ Mutter setzt sich in Fahrtrichtung, Alice und ihr Vater lassen sich in die Sitze gegenüber fallen, woraufhin Marjorie ruft: »Dein Kleid! Dein Anzug!«, Vater und Tochter einander ansehen und laut loslachen.

Mit jedem Halt wird es voller. Alice und ihr Vater unterhalten sich im Flüsterton. So ist sie erzogen worden: Bloß keine Aufmerksamkeit erregen, bloß kein Aufheben machen.

»Sprecht lauter«, fordert Marjorie sie auf. »Flüstern ist unhöflich. Du solltest es besser wissen, Wilfred.«

»Ich bezweifle, dass du uns unter dem Ding auf deinem Kopf überhaupt hören kannst«, entgegnet er zwinkernd. »Darunter könnte sogar die Titanic unbemerkt untergehen.«

Marjories Hand schnellt an ihren Hut. Der blaue Satin hat die gleiche Farbe wie ihr Langblazer und die Handtasche. Ihre Schuhe sind silbern und blitzen über dem Abteilboden. Sie streicht sich mit den behandschuhten Händen über den Schoß.

»Wie die Queen.« Alice schnaubt.

»Ich wüsste nicht, warum das eine Beleidigung sein sollte.«

»Oh, deine Mum war schon immer ein Hingucker«, sagt ihr Vater und stupst sie an.

Wider Willen muss Marjorie lächeln.

Als sie sich London nähern, weichen Bäume und Felder Häusern, kleinen Gärtchen, Straßen. Alice drückt sich an der Scheibe die Nase platt. Sie liebt es, in erleuchtete Fenster zu sehen, hinter denen Menschen ihrem Alltag nachgehen. Die Häuser werden zu Wohnblocks, zu alten Lagergebäuden, Flügelfenstern und rußigen Ziegeln. Noch Jahre später wird Zelda die Zugstrecke nach Charing Cross lieben und beim Anblick der Dächer daran zurückdenken, wie sie neben ihrem Vater saß.

Als sie aus dem Bahnhof ans Licht treten, sind Alice und ihre Mutter vom Verkehr und von den Menschenmassen schier überwältigt. Alice rückt näher an sie heran. In zwölf Jahren war sie kein einziges Mal in London und ist Großstadt nicht gewohnt.

»Und jetzt?«, fragt Marjorie, die sich fehl am Platz fühlt.

»Wohin, Dad?«

Wilfred blickt in Richtung Trafalgar Square. »Da lang, ganz sicher.« Er hakt beide bei sich unter und führt sie auf den Fußgängerüberweg zu.

Sie überqueren den Trafalgar Square, bleiben hier und da stehen, um einem Pantomimen zuzusehen oder einem Straßenmusiker zu lauschen. Alice saugt alles in sich auf, die Farben und die Musik, damit sie sich am Abend allein in ihrem Zimmer alles wieder ins Gedächtnis rufen kann. London ist eindeutig zu viel des Guten, trotzdem findet sie dieses Sprudeln, den Trubel aufregend, den Hauch von Gefahr; die Gewissheit, dass in dieser Menschenmenge alles passieren könnte, einfach alles.

»Können wir nicht eine ruhigere Straße nehmen, Wilfred?«, ruft ihre Mutter von hinten.

Sie lassen den Platz hinter sich, ihr Vater bleibt stehen und sieht sich um. Er lockert seine Krawatte.

»Du hast dich noch nicht verlaufen?« Marjorie schließt zu ihm auf. »Aber du bist doch ständig hier?«

»Ich gehe immer auf direktem Weg ins Theater. Tee im Ritz ist nicht gerade Alltag.«

Alice zeigt die Straße hoch. »Da geht’s lang.«

»Woher willst du das denn wissen?« Marjorie krallt sich ins Revers ihres Blazers und sieht sich um.

»Piccadilly, oder? Da steht ein Schild.« Alice setzt sich in Bewegung.

Ihre Eltern wechseln einen Blick und eilen ihr nach.

Im Ritz haben sie sich gerade hingesetzt, als ein Kellner anbietet, Marjories Hut zu nehmen. Sie sieht ihn entsetzt an. »Oh …« Sie berührt ihr Haar. »Darf ich ihn gar nicht auflassen? Wenn ich ihn absetze, ist meine Frisur ruiniert.«

»Wie Sie wünschen, Madam«, sagt er und zieht sich zurück.

Marjorie beäugt die vergoldeten Simse, die hohen Säulen und die kunstvollen Blumenarrangements. Sie erhascht einen Blick auf sich selbst in einem Spiegel und rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum.

Der Afternoon Tea ist so luxuriös, wie sie gehofft haben. Sie gießen sich Tee aus einer Silberkanne ein, nippen an hauchzarten Porzellantässchen, nehmen winzige Bissen von Brandteigküchlein und Gurkensandwiches und luftigen Scones. Alice und ihr Vater lächeln über den Rand ihrer Teetassen, während ihre Mutter schweigend isst. Sie hat die Arme angewinkelt, die Beine verknotet, berührt nur hier und da die Krempe ihres Hutes, der selbst in diesem prunkvollen Raum vollkommen übertrieben wirkt. Alice ahnt, dass sie sich am liebsten in Luft auflösen würde.

Als es allmählich Zeit wird aufzubrechen, zieht Marjorie Alice am Arm. »Wir haben nicht gebetet!« Dann flüstert sie ein paar Worte des Dankes für das Essen, das sie gegessen, den Tee, den sie getrunken haben, und für die Liebe, die Gott sie hat spüren lassen, indem er ihnen einen weiteren Tag auf Erden geschenkt hat. Instinktiv will Alice sich von ihr ab- und ihrem ungläubigen Vater zuwenden, lachen und die Augen verdrehen, doch das Unbehagen und die Scham ihrer Mutter hindern sie daran. Sie beißt sich auf die Lippe und wartet, bis ihre Mutter Amen gesagt hat.

Vor dem Theater stehen Limousinen und Fotografen, und ein langer roter Teppich erstreckt sich von der Gehwegkante bis zum Haupteingang. Alice drückt den Arm ihres Vaters, und sie tun so, als müssten sie ihre Begeisterung hinauskreischen.

Als sie im Zuschauerraum Platz nehmen, bittet jemand aus der Reihe hinter ihnen Marjorie, den Hut abzusetzen. Sofort tut sie wie geheißen. Ihre Hände zittern, als sie nach der Nadel tastet. »Warte, Mum«, sagt Alice und hilft ihr. Marjorie legt sich den Hut auf den Schoß, und Alice streicht ihr über ein paar störrische Haare.

Sobald die Auszeichnung für das beste Kostümdesign aufgerufen und der Name ihres Vaters verlesen wird, springt Alice auf und jubelt. Sie sieht zu, wie er auf die Bühne steigt, seine Trophäe entgegennimmt, kurz bestaunt, dann blinzelt und ans Mikrofon tritt. Sie kann ihm anhören, dass er nervös ist, und was er nuschelt, ist kaum zu verstehen, trotzdem hört sie ihren Namen heraus, und ihr Herz macht einen Satz. Sie wirft ihrer Mum einen Blick zu. Die versucht verzweifelt, nicht zu heulen.

Auf dem Heimweg sitzen sie erneut in gleicher Formation zusammen: Marjorie gegenüber Alice und ihrem Vater. Es sprudelt nur so aus Alice heraus, sie quillt über von Stolz. Mit dem Daumen reibt sie über den gravierten Namen ihres Vaters auf der Plakette. »Darf ich die in mein Zimmer stellen, Dad?«, fragt sie ihn. »In mein Regal?«

»Sei nicht albern«, fährt ihre Mutter sie an. »Die Auszeichnung gilt deinem Vater, nicht dir.«

Der Vater drückt ihre Hand. »Da mag Wilfred Kay draufstehen, aber was mein ist, ist dein, Liebes. Natürlich stellst du sie in dein Regal.«

Ihre Mutter starrt auf die Stelle, an der die beiden ihre Arme umeinander geschlungen haben. Dann presst sie die Lippen zusammen und sieht aus dem Fenster. Die Wärme in Alice’ Brust verfliegt, als ihr Blick zu dem leeren Platz neben ihrer Mutter wandert. Zu dem Platz, auf den sich Alice nie setzt.

Es regnet, als sie ankommen. Ihr Vater lässt sie am Ausgang des Bahnhofs stehen und läuft los, um das Auto zu holen. Schwere Tropfen donnern aufs Vordach, es ist ohrenbetäubend laut.

»Mum?« In ihrem Kopf hat soeben ein Olivenzweig ausgetrieben.

Mit der Hand am Hut starrt Marjorie in die stockdunkle Nacht.

»Ich hab mir überlegt, dass ich mich taufen lassen will. Vielleicht im Sommer.« Seltsam, wie schnell ein Gedanke ausgesprochen sein kann. Binnen eines Wimpernschlags ist er auf der Welt.

Ihre Mutter dreht sich langsam zu ihr um. Macht den Mund auf, um etwas zu sagen. Diesen Gesichtsausdruck kennt Alice, den sieht sie manchmal, wenn ihr Vater ihrer Mutter unaufgefordert einen Tee macht, woraufhin sie ganz rosig aussieht, freudiger, als Worte es beschreiben könnten. Sie sind einander so vertraut, sie müssen ihre Wünsche nicht aussprechen, der jeweils andere versteht sie auch so. »Also, ich …« Mehr bringt sie nicht zustande.

In einiger Entfernung springt ein Wagen an. Scheinwerfer schwenken in ihre Richtung. Alice fällt auf, dass ihre Mutter leicht gekrümmt dasteht, ihr schicker blauer Blazer spannt um die Schultern, und sie dreht sich vom Licht weg.

»Da kommt dein Vater«, sagt sie, und gemeinsam treten sie in die Dunkelheit.