Der Apfel

Alice und Jen 1999

»Guten Morgen. Wie schön, dass Sie zu Hause sind. Ist heute nicht ein wundervoller Tag? Ja, es ist kühl, aber gucken Sie sich die Blüten an! Und wie herrlich, nach den Nachrichten der vergangenen Woche so etwas Schönes zu sehen. Ich bin gerade mal fünfzehn, aber ich frage mich doch, welche Zukunft ich habe. Wussten Sie, dass die Bibel uns eine Zeit verspricht, in der es keine Kriege mehr gibt? Sind das nicht wunderbare Aussichten?«

Nach Jahren der Übung klingt Jens Stimme sanft und ungezwungen. Sie stellt Fragen, um ein Gespräch mit der Frau in Gang zu bringen, die ihr geöffnet hat, und fasst zusammen, was in der Broschüre steht, die sie gern dalassen will.

Hinter Jen späht Alice auf die oberste Broschüre hinab. Eine pilzförmige Wolke, die den Tod verspricht, darunter eine Stadt hinter fetten Lettern: WANN HÖRT DER KRIEG AUF ? Sie zieht ihren Schal enger.

Zwei Minuten später – die Broschüre ist überreicht – gehen sie auf die nächste Haustür zu. Jetzt ist Alice dran. Sie streckt die Hand aus und wartet darauf, dass Jen ihr den Lesestoff anreicht. Über deren hochgezogene Augenbrauen sieht sie hinweg. »Die haben nicht mehr in meine Tasche gepasst, okay?«

Alice klopft leise an den Glaseinsatz.

»Klopf lauter, sonst hören sie dich nicht«, sagt Jen.

Alice flucht leise in sich hinein, als sich ein Schlüssel im Schloss dreht. Die Tür geht auf, und ein Mann mit zerzausten Haaren und zerknittertem Schlafanzug sieht sie ausdruckslos an.

»Hallo«, sagt Alice. »Wir wollten Ihnen zwei Broschüren dalassen. Wären Sie daran interessiert?«

Er schüttelt den Kopf.

»Danke für Ihre Zeit«, sagt Alice und macht sofort kehrt. Achselzuckend stopft sie die Broschüren zurück in Jens Tasche. »Es ist Samstag. Lassen wir sie brunchen.«

»Wenn wir schon den ganzen Vormittag damit verbringen, warum machen wir es dann nicht richtig?«

Alice nimmt einen Apfel aus ihrer Tasche und beißt hinein. »Keine Ahnung, Jennifer. Sag du es mir.«

Am Ende der Straße warten sie auf die anderen aus der Gruppe. Aus allen Richtungen strömen in Zweierteams Brüder und Schwestern herbei, bis sie zu zehnt am Rinnstein stehen. Der federführende Bruder runzelt die Stirn beim Anblick von Alice’ Beinen. »Keine Klamotten mehr im Schrank gehabt?«, fragt er und reibt sich die Hände, um sie zu wärmen.

Alice isst weiter ihren Apfel. »Zeig mir die Stelle, wo explizit steht, dass Frauen keine Hosen tragen dürfen.«

Er lacht. Sein achtzehnjähriges Gesicht ist von Pickeln und Rasierschnitten gezeichnet. »Ach, Alice. Wenn du deine Bibel kennen würdest, wüsstest du, dass es da ums Prinzip und nicht explizit um Hosen geht.«

»Ach, Pete. Im Prinzip ist es nun aber so, dass es kalt draußen ist und eine Hose mich warm hält. Außerdem sind Hosen dezenter als die Kontur meiner Beine.«

Kurz herrscht Stille. Das einzige Geräusch ist Alice’ Biss in den Apfel. Alle starren zu Boden oder zu Pete, um zu sehen, wie er reagiert. Er zieht seinen schwarzen Wintermantel enger.

»Gehen wir ein Stück. Wir machen heute bis zwölf.« Er setzt sich in Bewegung, und die anderen folgen ihm. Sie werfen Alice verstohlene Blicke zu, und die älteren Schwestern funkeln sie hämisch an.

Auch Jen starrt sie an.

»Ach, du jetzt auch?« Alice wirft das Kerngehäuse ins Gebüsch. »Dann darf er also sarkastisch sein, aber ich nicht? Ich bitte dich!«

Jen will erst etwas erwidern, seufzt dann nur und zückt die nächsten Broschüren.

Eine weitere Tür geht auf, und Jen wiederholt ihren Vortrag von zuvor, doch als sie fragt: »Finden Sie nicht, dass es um diese Welt nicht zum Besten bestellt ist?«, schüttelt die Frau nachdrücklich den Kopf.

»Aber …«, stammelt Jen. »Wirklich nicht?«

»Wir könnten in keiner besseren Zeit leben«, erwidert die Frau seelenruhig. »Zumindest wir hier in der westlichen Welt.«

Jen kichert nervös. Sie sieht zu Alice und dann hinab auf ihre Broschüren. »Aber all die Kriege und Krankheiten …«

»Kriege hat es schon immer gegeben«, entgegnet die Frau, »und Krankheiten ebenfalls. Allerdings können wir die schlimmsten inzwischen behandeln. Wir werden achtzig, neunzig Jahre alt. Kinder sterben nicht mehr in den ersten Lebensjahren, überleben ihre Eltern, sie haben Zugang zu Bildung, und von sinkenden Armutsraten will ich gar nicht erst anfangen. Und als Frauen haben wir mehr Möglichkeiten denn je. Wir sterben nicht mehr im Kindbett. Wir können Karriere machen. Wir haben die Wahl.«

Die Frau bedankt sich für ihren Besuch und schließt die Tür. Schweigend kehren die beiden auf die Straße zurück.

Jen schiebt das Tor zu und hat die Frau im nächsten Moment auch schon wieder vergessen.

Alice hingegen schwirrt der Kopf.