Jen nimmt jeden Tag, wie er kommt. Sie geht über das nagende Gefühl in ihrem Bauch hinweg, das auch nicht abflaut, wenn sie gegessen hat, ignoriert die feuerroten Flecken an ihrem Kinn und am Hals und verbringt mehr Zeit als sonst damit, aus dem Fenster zu starren.
»Was ist denn los mit dir?«, will Zelda wissen, als Jen vergisst, den Wasserhahn zuzudrehen.
»Nichts.« Sie weicht Zeldas Blick aus.
Am Mittwoch fährt sie wie üblich zur Arbeit, und der nicht nachlassende Strom aus Kundinnen lenkt sie von dem Problem ab, das ihr den Schlaf raubt. Sie schiebt es beiseite, während sie Kleidungsstücke vom Boden aufhebt und sich wiederholt bei Wildfremden dafür entschuldigt, im Weg zu stehen.
Nach der Arbeit ist sie mit Zelda zu ihrem Kurs verabredet. Sie stellt sich bereits den Ton vor, den sie auf die Töpferscheibe legt, und sieht ihn vor sich, wie ihre Hände ihn zum Leben erwecken. Der schöpferische Akt beschert ihren Gedanken sonst Ruhe, heute allerdings nicht. Die Schmerzen sind einfach zu stark.
Gegen vier Uhr lässt sie das Kleid fallen, das sie gerade zusammenlegt, krümmt sich hinter der Kasse, keucht und versucht verzweifelt, nicht in Ohnmacht zu fallen. »Alles in Ordnung?«, fragt eine Kundin, und die Schichtleiterin kommt angerannt. »Alles gut«, antwortet Jen, presst sich die Hand vor den Mund und versucht, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten. »Ehrlich, es geht mir gut.«
Man schickt sie nach Hause.
Vielleicht sollte sie Zelda alles erzählen. Falls sie zu Hause ist, könnte Jen ihr vielleicht erklären, dass sie ausziehen muss, dass sie keine Wahl hat, dass sie das nicht entscheidet. Zelda versteht das bestimmt.
Oder vielleicht wartet sie noch ein bisschen. Egal, was die Ältesten sagen: Sie weiß, dass Zelda sich nach etwas sehnt, was außerhalb ihrer Reichweite liegt, und dass Jen sie zurückholen kann. Auf diese Weise kann ich ihr meine Liebe zeigen, denkt sie. Das ist die einzige Möglichkeit. Bei der Vorstellung wird ihr ganz warm, und die Schmerzen in ihrem Kopf lassen nach. Ich will es versuchen, Vater , betet sie. Sieh, wie sehr ich es versuchen will.
Als sie ankommt, ist der Garten verwaist und das Haus still. Stand Zeldas Wagen in der Einfahrt? Jen lässt ihre Handtasche fallen, tritt an die Spüle und nimmt sich ein Glas Wasser. Sie lässt es überlaufen, sodass das Wasser an dem gewellten Rand hinabströmt. Ihre Hand ruht auf ihrem Bauch, als sie den Durst stillt, der ihr bis zu diesem Augenblick gar nicht bewusst war.
Von oben hört sie einen Schrei und ein dumpfes Geräusch, als wäre etwas vom Bett gefallen. Jen stellt das Glas ab und spitzt die Ohren. Da, schon wieder – Zelda, die vor Schmerzen aufschreit.
Jen nimmt zwei Stufen auf einmal und platzt in das Zimmer, sieht Zelda nackt auf dem Bett, einen Mann hinter ihr, der sie würgt und mit der anderen Hand an ihren Haaren reißt. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Sie stürzt sich auf den Mann, boxt ihm mit aller Kraft in die Seite, zerrt ihn von ihrer Freundin herunter, er kracht auf den Boden, und mit gespreizten Beinen versucht er, Jens Schläge abzuwehren. »Hör sofort auf!«, brüllt er sie an.
Dann schlingt Zelda ihr den Arm um die Taille und schleudert sie aufs Bett.
»Was soll das?«, kreischt sie.
Jen sieht sie schockiert an. »Moment … Was? «
»Ich blute«, sagt der Mann, der inzwischen im Schneidersitz auf dem Boden sitzt und seine Stirn betastet. »Du hast mich verletzt, du blöde Schlampe!«
Zelda geht auf ihn zu und berührt die Wunde. »Ist nur ein Kratzer. Nicht weiter schlimm.«
»Tut mir leid«, stammelt Jen verwirrt. »Ich hab dich schreien hören und dachte … Moment.« Sie stemmt sich hoch. »Du bist der Typ von der Hochzeit. Der uns nicht in Ruhe gelassen hat.«
Er streckt ihr die Hand entgegen. »Matt. Scheißerfreut.«
»Aber du bist verheiratet!«, keift Jen angewidert.
Zelda schnappt sich ihren Kimono. »Verschwinde«, sagt sie zu Jen, sieht sie aber nicht an. Sie beugt sich über Matt, inspiziert erneut die Wunde, und dann dreht sie sich halb zur Tür um. »Raus!«
Jen bedenkt sie noch mit einem herablassenden Blick und verschwindet nach unten. Sie ist außer sich vor Wut. Sie kauert sich auf die Sofakante und schiebt die Hände zwischen die Knie. Hier ist keine Kundin, die sie fragt, ob alles in Ordnung ist. Hier ist niemand.
»Ich bin es so leid«, sagt sie, als Zelda in ihren tonfleckigen Arbeitsklamotten nach unten kommt. »Ich wohne hier jetzt einen vollen Monat und weiß immer noch nicht, warum überall tote Blumen herumstehen. Hier.« Sie schlägt nach einem braunen Blatt. »Die verreckt. Gieß sie, verdammt noch mal!«
»Geht es hier gerade um Grünpflanzen?«
Jen lässt die Schultern hängen. »Er ist verheiratet, Alice. Verheiratet! «
»Glaub mir, das ist mir bewusst.«
»Und warum hat er das dann mit dir gemacht?« Jen zeigt nach oben, wo Matt hörbar über die Dielen schlurft. »Du hast geschrien! Kein Wunder, dass ich geglaubt habe, du wärst überfallen worden.«
»Also, jetzt reicht’s.« Sie sieht auf die Uhr. »Wenn wir rechtzeitig beim Kurs sein wollen, müssen wir allmählich los.«
Jen wendet sich ab. Draußen in der Brise schaukeln die Rosen. Scharlachrot, Karminrot, Purpurrot, Schattierungen der Romantik und des Blutes. »Verkauf mir das nicht als Liebe«, sagt sie. »So sah das nämlich nicht aus. Niemand, der einen anderen Menschen wirklich liebt, würde ihm so etwas antun.«
Zelda schnaubt und schüttelt den Kopf. »Vielleicht mag ich es so? Vielleicht zeigt das nur, wie sicher ich mich mit ihm fühle, dass ich sogar diese Seite von mir genießen kann? Liebe ist nicht gleich Missionarsstellung, Jennifer!«
Jen hält sich den Bauch, gegen die Schmerzen, und dann sagt sie leise: »Was er seiner Frau antut, hat Pete mir angetan.«
»Tut mir leid, dass du das mitgekriegt hast, okay?« Zelda klingt jetzt sanfter. »Aber das hier geht nur mich etwas an. Du hast kein Recht, einfach hereinzuplatzen oder es jetzt so hinzudrehen, als hätte ich dir absichtlich wehtun wollen. Und mir ist auch völlig egal, wie das ausgesehen hat. Mir ist wichtiger, wie Sachen sind , als welchen Anschein sie haben.«
Zeldas Schlafzimmertür geht auf. Sie sehen nach oben, wo Matt den kompletten Türrahmen einzunehmen scheint. Lässig kommt er die Treppe herunter, dann wirft er sich seine Jacke über die Schulter und drückt Zelda einen Kuss auf den Mund. Er zieht es in die Länge. Jen wendet sich ab. Als er fertig ist, schlendert er pfeifend zur Tür. »Bis dann, Mädels.« Und weg ist er.
»Du behauptest von dir, du wärst Feministin, aber was ist mit seiner Ehefrau?«, faucht Jen.
Zelda berührt ihre Lippen wie in Erinnerung an den Kuss. »Jetzt komm aber …«
»Nicht dein Problem, was? Er ist ein Idiot, und du solltest es besser wissen!«
Sie nimmt beide Hände hoch. »Warum dürfen Männer Affären haben, und jeder findet das okay? Niemand macht sich Gedanken darüber, dass sie solidarisch mit anderen Männern sein müssten. Warum bitte schön ist das anders bei mir? Bei uns? Warum muss ich die halbe Menschheit bei meinen Entscheidungen berücksichtigen? Ich meine – ja, ich bin mit der Situation auch nicht glücklich. Aber erzähl du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe. Das hatte ich jahrelang zur Genüge. Ich will frei sein.«
Jen lässt den Blick über die Vasen mit den toten Blumen schweifen, die traurig die Köpfe hängen lassen. »Du bist ein Fake. Du redest von Ehrlichkeit und davon, offen für alles zu sein, aber hier ist alles Fake. Deine Haare, dein Name, deine Kostüme, die Art, wie du Fotos von dir bearbeitest … Das sind alles Methoden, um die Wahrheit zu vertuschen.«
Zelda neigt den Kopf und sieht Jen höhnisch an. »Weil du ja so ehrlich bist? Zum Beispiel damals, in deinem Zimmer? Da wollest du deine eigene Wahrheit auch nicht wahrhaben.«
Jen wird schlagartig eiskalt. Sie steht stocksteif da, ihre Gedanken rasen, sie reckt das Kinn vor. Sie weiß jetzt, dass sie nicht länger hierbleiben kann. »Alice«, sagt sie.
Zelda zuckt mit den Schultern. »Nenn mich meinetwegen Alice, wenn du willst. Die ist immer noch irgendwo in mir drin. Aber vielleicht war ihr Leben einfach zu verdammt traurig. Vielleicht hatte sie die Möglichkeit, sich ein neues Leben zu erschaffen, sich neu zu erfinden – und wer könnte es ihr verübeln?«
»Aber das hier ist nicht echt. Man kann einfach die Hand hindurchschieben. Es ist alles nur Schein.«
»Dann soll ich jetzt also der Wahrheit ins Gesicht sehen? Dass mein Vater gestorben ist und meine Mutter mich nicht mehr anguckt, dass mein Leben in sich zusammengefallen ist, als ich ein Kind war und ein alter Sack mich vergewaltigt hat? Ist das für dich vielleicht wahr genug? Sag doch mal – hättest du so ein Leben haben wollen?«
Bei der letzten Frage versagt ihr die Stimme. Sie wirbelt herum und rennt nach draußen.