Der einzige Hinweis darauf, dass sich etwas verändert hatte, war Marjorie, die tags darauf in Alice’ Zimmer kam und deren Kleiderschrank durchforstete. Alles Unanständige kam weg. Sie versuchte sogar, mit Alice shoppen zu gehen, nur dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, für deren schmalen Körperbau mit üppiger Oberweite etwas Passendes zu finden.
»Du hast einfach keine normale Figur.« Tadelnd schüttelte sie den Kopf.
»Ja, anscheinend bin ich eine Art Monster.«
»Dann muss ich dir eben wieder Sachen nähen«, beschloss Marjorie und produzierte an der Nähmaschine weit geschnittene Blusen und Kleider, in denen Alice schier unterging.
»Die trage ich nicht«, sagte Alice, als ihre Mutter die Kleider in ihren Schrank hängte. »Himmelherrgott noch mal, ich bin fünfzehn! Ich will nicht aussehen wie ein Heißluftballon!«
»Meine Tochter zieht sich nicht wie eine Schlampe an«, entgegnete Marjorie. »Und hör sofort auf zu fluchen!«
Von da an gab Alice ihr Taschengeld für Kleidung aus. Sie durchwühlte die Billigläden in der Stadt, in denen ein Zehner sogar für mehrere Oberteile ausreichte. Für Stoff, der juckte und der sich verzog, Klamotten, wie sie andere Mädchen ebenfalls trugen. Sie stylte sich, zog die von ihrer Mutter genähten Sachen darüber, aber kaum außer Sichtweite zog sie sie aus und stopfte sie in ihre Tasche.
Zu täuschen war nie ihre Absicht. Dies war nun mal ihr Körper.
Mein wahres Ich ist fortan tabu, überlegte sie; wenn ich mich aber verstecke, bin ich mit mir nicht ehrlich. Doch wenn ich ehrlich mit mir bin, dann wollen sie mich nicht. Egal, wie ich mich entscheide – ich bin unehrlich, also müssen sie die Täuschung doch höher schätzen als die Wahrheit. So wie sie seine Aussage höher geschätzt haben als meine. Dabei war seine gelogen.
Ihr war verboten worden, darüber zu sprechen, also sprach sie auch nicht darüber, nicht einmal mit Jen, die ihr immer zugehört hatte. Klassenkameradinnen standen nicht zur Debatte – das sind weltliche Leute, Alice – , und selbst bei jenen, die ihr nahestanden, hatte sie so eine Ahnung, dass sie niemals verstehen würden, in welcher Welt Alice lebte. Mit einem Bein hier, mit dem anderen dort. Zwischen allen Stühlen.
Bei Zusammenkünften saß sie weiterhin im Saal, während er predigte. Sie sah zu, wie er weiterhin Bibelstudien anleitete und Jugendliche mit zum Predigtdienst nahm. Kein zweiter Zeuge bedeutete: kein Beweis. Er hatte ihr ihre Unschuld genommen. Ihm selbst war nichts genommen worden, die Leute liebten ihn wie eh und je.
Alice trieb sich mit Jungs herum. Mit sechzehn hatte sie jeden Einzelnen aus der Gemeinde geküsst und einigen sogar erlaubt, die Hand unter ihr Oberteil zu schieben. Während eines Südfrankreichurlaubs flirtete sie am Abendbrottisch mit dem niedlichen französischen Kellner. Als sie sich Rotwein über das weiße Häkelkleid mit den Tausendschönchen am Saum kippte, schickte ihre Mutter sie auf die Toilette, um Abhilfe zu schaffen. Sie schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch in den rückwärtigen Teil des Lokals, er ging ihr nach, sie verriegelte die Kabine, und er fingerte sie zum Orgasmus. Als sie an ihren Tisch zurückkehrte, waren ihre Wangen so rot wie die Weinflecken, die sie vergessen hatte auszuwaschen.
Eine Zeit lang knutschte sie auch mit Mädchen, aber da war sie nicht mit dem Herzen dabei. Sie waren nur Übung für den entscheidenden Augenblick. Und der entscheidende Augenblick kam in einem lila Auto, hatte blondierte Haarspitzen und ein Lächeln, das sie auf null zurücksetzte.
Zuvor jedoch, noch vor ihrem siebzehnten Geburtstag, gab ihre Mutter endlich Alice’ Bitten nach, und sie schlossen sich einer anderen Zusammenkunft an, die zwanzig Minuten in die entgegengesetzte Richtung lag. Doch Erinnerungen sind nun mal nicht an Gebäude oder Rückbänke von Autos geknüpft. Sie folgen einem wie der eigene Schatten.
Ihr Vater bekniete sie, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Stundenlang saß er mit ihr zusammen, brachte ihr bei zu nähen und zu sticken, und versuchte, zu ihr durchzudringen. »Ich habe das Gefühl, ich kenne dich gar nicht mehr«, sagte er, und sie ertappte ihn dabei, wie er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Was ist nur mit dir passiert, Schätzchen?«
Also erzählte sie es ihm. Sie saß in seiner blechernen Werkstatt am Ofen und ließ alles raus, was sie bislang so verzweifelt für sich behalten hatte, all die Wut, den Zorn, und ihr dämmerte, dass sie es nie würde hinter sich lassen können. Ganz gleich, was sie jemals täte – es würde für immer unter der Oberfläche lauern. Bei der Vorstellung wollte sie am liebsten durch die Ritzen im Boden verschwinden.
Ihre Mutter behielt recht. Es brachte ihren Vater um. Als Marjorie sich weigerte, zur Polizei zu gehen, und ihn anflehte, es auch nicht zu tun, begann er, sich aus dem Leben zurückzuziehen. Sechs Monate später wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert. »Das überrascht mich kein bisschen«, sagte er, als er es erfuhr. »Schließlich sind Herz und Hirn miteinander verbunden.«
Drei Monate nach dem Tod ihres Vaters nahm Alice an einem Sonntag gerade Platz im Saal, als verkündet wurde: Heute beehrt uns ein Bruder aus der Gemeinde Telhill , und er ans Podium trat, um zu predigen. Sie rannte nach draußen, zu den Waschräumen, und kotzte ins Klo, und dann kehrte sie zurück und lauschte seiner Stimme für weitere zwei Stunden.
In derselben Woche kochte sie über. Auf einer Versammlungsfeier am Samstag küsste sie drei Jungs und rauchte am helllichten Tag mitten in der Stadt eine Zigarette, was die Ehefrau eines der Ältesten prompt mitbekam. Sie ließ sich ein Bauchnabelpiercing stechen. Sie rauchte einen Joint. Sie wollte jedes mögliche Gefühl ausprobieren.
In der Bibliothek saßen die üblichen drei Männer über sie zu Gericht. In einer anderen Gemeinde, aber Bibliotheken sahen überall gleich aus. Die gleichen Bücher, die gleiche abgehängte Decke, die gleiche Atmosphäre, als man sie ins Verhör nahm. Diese Ältesten wussten nicht, was ihr widerfahren war. Der Vorwurf von damals war archiviert worden und durfte nur im Ausnahmefall wieder hervorgeholt werden. Was sie damals vorgebracht hatte, war nicht für fremde Ohren bestimmt. Ihr Ruf indes, die mit den knappen Oberteilen zu sein, die gern provozierte, war ihr aus der letzten Versammlung vorausgeeilt.
So ungezogen von dir, dass du mich dazu treibst. Das hier ist alles deine Schuld. Seine Worte, beim ersten Mal. Als die Ältesten sie aufforderten, ihre Geschichte zu wiederholen, brachte sie es nicht fertig, davon zu erzählen.
Ein Teil von ihr hätte es ihnen gern erklären wollen. Jetzt hört mir gut zu, Brüder, hätte sie gern gesagt. Er hat das getan, weil ich für ihn als kleines Mädchen keine Gefahr dargestellt habe. Erst als sich mein Körper veränderte, ließ er von mir ab. Meine Kurven sind meine Waffen, Frau zu werden hat mich endlich befreit, deshalb muss ich sie feiern, sie herzeigen, für ihre Entstehung dankbar sein. Versteht ihr das nicht? Ich will Angst machen, will euch vor mir hertreiben. Ich muss meine Macht zurückerobern.
Doch all das existierte nur als vage Idee in ihrem siebzehnjährigen Gehirn. Sie hatte die Sache noch nicht vollends durchdrungen. Deshalb verschränkte Alice, zwei Jahre nachdem sie sich erstmals drei Männern anvertraut hatte, die Arme vor der anstößigen Brust und biss sich bei jeder ihrer Fragen bloß auf die Lippe. Ich kann es nicht wieder zur Sprache bringen, dachte sie. Außerdem haben sie mir schon beim ersten Mal nicht geglaubt. Also hielt sie den Mund und wurde für reuelos befunden. Überheblich. Weltlich. Ein Freigeist.
Sie wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und vor die Tür gesetzt.
Wenig später wurde sie Zelda. Sie investierte ihr kleines Erbe in den Umbau der alten Werkstatt und zog dort bei nächster Gelegenheit ein. Eine letzte Umarmung oder ein Gespräch mit der Mutter gab es nicht. Marjorie schob hinter ihr einfach die Tür ins Schloss.
Zelda liebte das Leben in ihrem Blechhaus. Dort war sie von Liebe umgeben – in Gestalt der Kostüme und Schaufensterpuppen ihres Vaters und eingedenk all der Stunden, die sie dort zusammen verbracht hatten. Das Blechhaus war sein Ort, seine Zuflucht gewesen, und nun gehörte es ihr.
Sie versuchte, wieder zu lieben. Sie versuchte es wirklich. Die erste Liebe loderte wie Feuer in ihren Adern. Selbst als sie erloschen war, so wie alles erlischt, blieb Zelda weiterhin von jenem merkwürdigen und herrlichen Schmerz erfüllt. Ihre ureigene Leidenschaft war zum Leben erwacht.
Mit neunzehn verliebte sich jemand in sie, und obwohl sie genau wusste, dass er nicht der Richtige war, probierte sie es eine Zeit lang mit ihm aus. Er war wie ein neues Kleid, von dem jeder behauptete, es würde ihr stehen. Er schrieb ihr Briefe und Gedichte und sprach von Seelenverwandtschaft. Als sie einmal am Rand eines Kornfelds lagen, stand er auf, machte ein Foto von ihr und verkündete, sie sei für ihn jetzt auf ewig mit Vergissmeinnicht verknüpft. Oh bitte, nicht Vergissmeinnicht, erwiderte Zelda. Das ist so ein Klischee. Aber du bist kein Klischee, sagte er. Du bist kaltes Wasser an einem heißen Tag. Du bist die Tinte, die meinem Papier Sinn verleiht. Du bist der Inbegriff von Vergissmeinnicht. Und dann fiel er im langen Gras auf die Knie und gab ihr einen Kuss.
Warum hatte sie sich nicht in ihn verlieben können? War die Liebe für sie auf ewig durch schlechte Tattoos und Basketballposter verdorben? Sie erwiderte seinen Kuss, strich ihm über den Kopf und dachte: Wenn ich dich nur zuerst kennengelernt hätte.