Sie fällt, fällt, fällt

Isobel

Als Isobel aus dem Bus steigt, fühlt sie sich der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Leute starren schon, da ist sie sich sicher. Sie ahnt, dass alle denken: Wie sieht die denn aus? Aufgedonnert wie mit Mitte zwanzig … und kann auf diesen albernen Riemchendingern nicht mal richtig gehen!

Etwas Ähnliches hat sie sogar selbst gesagt, als Sadie den Vorhang aufzog und ausrief: »Das ist perfekt!«, woraufhin Isobel erwiderte: »Es ist rot.«

»Genau! Die Farbe der Romantik, die Farbe der Liebe! Genau, was Sie brauchen!«

»Aber es ist so … rot!«, wiederholte Isobel. »Und es ist bloß ein Abendessen, Sadie, wir wollen mal nicht übertreiben.«

Trotzdem hat sie es gekauft. Sie hatten abzüglich des Hin- und Rückwegs nur vierzig Minuten Zeit, denn in gewisser Weise vertraute sie Sadie und wollte wohl auch die Aufmerksamkeit, die Sadie zuteilwurde, einmal kosten – nur probehalber! Verglichen mit Sadie war Isobel immer noch eine Nonne.

Auf dem Weg zur Kasse griff Sadie nach einem Paar hoher Schuhe. »Die sehen sexy aus – und sie sind dreißig Prozent reduziert! Welche Schuhgröße haben Sie, Isobel?«, und dann drückte sie die Schuhe einer Verkäuferin in die Hand. »Bringen Sie sie einfach zurück, wenn sie nicht passen«, erklärte sie, als Isobel sie alarmiert ansah. »Und jetzt los – Carol flippt aus, wenn wir nicht rechtzeitig zurück sind.«

Für Isobel sind fünf Zentimeter – und dann auch noch Pfennigabsätze – eine Herausforderung. Damit muss sie neu laufen lernen. Zumindest ist das Kleid nicht kurz. Obenrum passt es perfekt, nur ein winziges bisschen Haut ist zu sehen, die Schultern sind bedeckt, und der leichte, weite Rock umschmeichelt ihre Beine.

Victor hat vorgeschlagen, dass sie sich vor einem französischen Bistro ein Stück abseits der Innenstadt treffen. Sie hat von dem Lokal noch nie gehört, was dafür spricht, dass sie dort niemandem begegnet. Als sie die Straße überquert, geht die Sonne allmählich unter. Die Bistrofenster sind mit Blumenkästen voller Geranien geschmückt, und von drinnen fällt warmes Licht auf die Straße. Sie späht durchs Fenster. Rot-weiß karierte Tischtücher, echte Blumen, Kerzen auf den Tischen. Das würde Steven gefallen, denkt sie, und dann fällt ihr wieder ein, dass sie hier in einem ungewohnten Outfit auf einen Fremden wartet.

Ein Taxi hält neben ihr, Isobel erkennt den Umriss des Beifahrers sofort wieder und huscht in den benachbarten Hauseingang. Toni und Bill Norris steigen lachend aus und halten direkt auf das Bistro zu.

Sie haben mich nicht gesehen, redet sie sich gut zu, spürt jedoch ihren Puls am ganzen Leib. Sie hätten mich in dieser Aufmachung gar nicht erkannt. Aber wenn doch, was würden sie denken … Sie stakst vom Lokal weg, als sie hinter sich ein Motorrad tuckern hört. Sie dreht sich nach ihm um, und auf seiner Maschine bleibt Victor gerade stehen. Lackschwarz und Chrom. Das Dröhnen des Motors hallt in der Straße wider.

»Wollen Sie schon wieder gehen?« Er nimmt seinen Helm ab und lächelt sie mit seinen frisch reparierten Zähnen freundlich an. Statt Lederkluft trägt er Jeans und ein geblümtes Hemd mit Siebzigerjahre-Manschetten und spitzem Kragen. Isobel versucht, ihn nicht zu sehr anzustarren.

»Ich …« Verlegen blickt sie auf ihre Handtasche hinab. »Ich kenne da drin Leute, und …«

»Ich auch. Der Oberkellner ist ein Freund von mir und hat uns den besten Tisch reserviert. Sollen wir?«

»Ich kann nicht.«

Er sieht sie an. »Na, dann finden wir doch bestimmt ein anderes Lokal, obwohl die guten samstags voll sein werden.«

Samstagabend. Überall Leute. Beobachter. Sie klammert sich an ihre Tasche. »Ich sollte besser heimgehen.«

»Oh.« Er sieht zu Boden. »Kann ich Sie in dem Fall vielleicht nach Hause fahren? Ich hab auch an alles gedacht.« Er zeigt auf den zusätzlichen Helm, den er an seinem Motorrad festgezurrt hat.

Isobel hat noch nie auf einem Motorrad gesessen. Autos waren eher Stevens Ding. Schnittige, polierte Wagen, die Jugendlichkeit ausstrahlten. Sie schüttelt den Kopf. »Da kommt bestimmt gleich ein Bus.«

»Sicher? Wenn Sie in der Innenstadt wohnen, habe ich Sie in fünf Minuten nach Hause gebracht. Der Vorteil an einem Motorrad.«

Sie zögert. Motorräder sind für sie immer waghalsig und gefährlich gewesen, aber die Aussicht, nicht auf Stilettos zur nächsten Bushaltestelle stolpern zu müssen, ist überaus verlockend. Sie sieht auf ihr rotes Kleid hinab. Auf dem Motorrad würde sie niemand erkennen – nicht mit Helm auf dem Kopf und einem Körper wie dem einer anderen Frau.

»Kommen Sie schon«, sagt er und zieht lächelnd am Brems- und Kupplungshebel. »Haben Sie doch mal ein bisschen Spaß.«

Vielleicht ist es das Kleid oder die Frisur oder der unvertraute Umstand, dass ein Mann ihr an einem warmen Sommerabend Aufmerksamkeit schenkt – jedenfalls schießen ihr zwei Wörter durch den Kopf: Warum nicht?

Sobald sie unterwegs sind, fährt ihr der Wind um Beine und Leib. Isobel ahnt, dass er extra behutsam fährt, trotzdem hat sie ihre Arme fest um seine Taille geschlungen und presst die Oberschenkel gegen den Sitz. Als sie an einer verspiegelten Fassade vorbeifahren, erhascht sie einen Blick auf ihr Spiegelbild: verwischtes Schwarz, Chrom und Rot. Ihr Kleid weht im Wind. Sie könnte sich einhändig festhalten und mit der anderen das Kleid über die nackten Beine ziehen, aber sie lässt es bleiben. Sie zeigt ihre Beine her. Eine berauschende Mischung aus Anspannung und Verlangen ergreift von ihr Besitz, als sie sich wünscht, dass jeder, der sie kennt, sie jetzt sehen könnte. Isobel Forge auf einem Motorrad.

Als sie vor ihrem Haus vorfahren, steigt er ab und hilft ihr vom Soziussitz. Sobald sie den Boden berührt, schießt ihr der Schmerz in die Zehen. »Mein erstes und letztes Mal auf einem Motorrad«, sagt sie mit einem verlegenen Lachen, fährt sich über die Haare und fürchtet das Schlimmste für ihre Frisur. Als sie die Enttäuschung in seinem Gesicht sieht, fügt sie eilig hinzu: »Aber danke fürs Heimbringen!«

»Schönes Haus.«

»Oh, es ist nur das oberste Stockwerk. Normalerweise sitzen die anderen Bewohner auf der Vordertreppe und rauchen, was mir wirklich nicht recht ist, aber es ist nun mal ein Mietshaus, da muss man mit solchen Leuten wohl rechnen.«

Am liebsten würde sie es sofort zurücknehmen.

»Aber architektonisch ein Traum«, sagt er und zeigt hoch zum Dach. »Diese Rundgauben – die sieht man heutzutage nur noch selten. Fantastisch.«

Sie sieht nach oben. »Da haben Sie recht.«

»Sorry«, sagt er, »mit solchen Details langweile ich jeden. Aber man verpasst so viel, wenn man nicht hochguckt.« Und dann sehen sie gemeinsam nach oben.

»Ich gehe dann wohl besser.« Verlegen hebt Isobel die Hand an ihre Haare. »Tut mir sehr leid wegen heute Abend.«

»Vielleicht ein andermal.«

Bei der Vorstellung, sich noch mal verkleiden zu müssen, atmet Isobel scharf ein. »Warum kommen Sie nicht einfach noch kurz mit hoch?«

»Meinen Sie das ernst?«

Irgendwie hat es in ihrem Kopf besser geklungen. »Auf einen Tee? Ich habe sonst nicht viel daheim, vielleicht noch Toastbrot und Käse … Ich weiß, das klingt nicht gerade verlockend, und es wäre schon in Ordnung, wenn …«

»Nein, nein, furchtbar gern«, entgegnet er und strahlt sie an.

Auf dem Weg nach oben gerät sie in Panik. Was macht sie denn da – sie kennt diesen Mann überhaupt nicht. Er könnte ihr etwas antun. Dass sie mit wenigen Mausklicks seine Personendaten aufrufen konnte, beruhigt sie kein bisschen. Was, wenn er sie umbringt? Doch ein flüchtiger Blick in sein Gesicht, und sie weiß, sie hat von ihm nichts zu befürchten.

In der Wohnung haben die Oberlichter den Sommer eingelassen, und die Zimmer sind stickig. Isobel steuert zuallererst den Spiegel an, um ihre Frisur zu kontrollieren.

»Was für ungewöhnliche Räume«, sagt Victor und sieht sich um.

»Das Licht, oder?«

»Ein Traum!«

»Hm.«

»Noch nicht alles ausgepackt, oder?«

Isobel dreht sich zu ihm um. »Doch. Warum?«

»Oh, ich dachte nur …« Eine vage Geste. »Sie haben gar keine Bilder an der Wand. Keine Fotos.«

Isobel beäugt die kahlen Wände. »Nein, na ja … Ich bin mir noch nicht sicher, welche ich aufhängen will.«

»Bei mir kann man sich vor Bildern kaum noch bewegen. Sie sind überall – Mollie, meine Tochter, schickt mir ständig neue Fotos von meinem Enkel, die ich an meinen Kühlschrank pinne, nur gehen mir langsam die Magnete aus. Aber es ist immer schön, ihn zu sehen, wenn ich mir Milch nehme.«

»Klingt nett.«

»Und bei Sam, meinem Sohn, ist es genau das Gleiche. Schickt Fotos von uns beim Fischen oder von Bikertreffen. Er wohnt im Norden, deshalb sehen wir uns nur selten, und da sind die Fotos echt hilfreich. Außerdem ist es lustig zu sehen, wie ich mich verändere.«

Statt zu antworten, starrt Isobel ihr Spiegelbild an.

»Sie sollten auch welche aufhängen – Fotos von Ihnen über die Jahre. Bei Unternehmungen.«

»Ich hab keine Fotos von mir selbst …«

»Alle noch eingepackt?«

»Nein. Ich meine, überhaupt.«

»Ah. Kamerascheu.«

Isobel betrachtet ihre neue Frisur, die er mit keinem Wort erwähnt hat. »Ich war immer diejenige, die die Fotos gemacht hat«, erklärt sie. »Es hat nie jemand angeboten, auch mal Fotos von mir zu machen. Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

Eine Zeit lang herrscht Stille.

»Aber ich könnte Fotos von meinen Kindern aufhängen. Patrick und Cassandra. Die sehe ich auch nicht allzu oft. Obwohl sie nicht im Norden wohnen.«

Er sieht sie lange an. Dann räuspert er sich und geht zielsicher auf die Küche zu. »Ich mache uns Tee.«

Das Festnetztelefon klingelt, und Isobel wirft einen Blick aufs Display. Es ist Patrick. Ihr Puls beschleunigt sich. Wenn sie nicht rangeht, versucht er es auf ihrem Handy, und wenn sie da nicht rangeht … Denn sie geht immer ran. Was würde er tun, wenn nicht?

»Hallo?«

»Mum«, sagt Patrick mit gepresster Stimme. »Wie geht es dir?«

Isobel hustet, um das Klappern in der Küche zu übertönen. »Gut. Gleich gibt’s Tee.«

»Mum, ich hab Neuigkeiten. Du setzt dich vielleicht besser hin.«

»Neuigkeiten?« Sie dreht sich von der Küche weg, um das Telefon abzuschirmen.

»Sicher, dass es dir gut geht? Du klingst irgendwie komisch.«

»Alles bestens«, raunt sie in den Hörer. »Was ist passiert?«

Er holt tief Luft. »Dad hat gerade angerufen.«

»Was?«

»Ich habe sofort aufgelegt. Wollte nicht mit ihm sprechen. Also hat er eine Nachricht hinterhergeschickt.«

Sie wartet auf die Fortsetzung.

»Sie ist schwanger. Amber. Ungefähr so weit wie Jude.«

Isobel lässt den Hörer fallen.

»Mum? Mum? « Patricks Stimme vom Fußboden klingt dünn und entfernt.

Isobel geht in die Knie. »Ich bin noch dran.«

Ihm sei klar, dass er nicht mit ihm hätte reden dürfen, aber er habe ihm einfach sagen müssen, was für ein Mistkerl er sei. Dass er gleichzeitig Vater und Großvater würde. Dass dies ein Moment der Freude sein solle. Dass Amber nur halb so alt sei wie er. Es geht in jedem einzelnen Satz nur darum, wie schlimm dies alles für Patrick ist.

»Patrick, ich muss auflegen«, sagt Isobel unvermittelt und legt auf. Der Sisalteppich verbrennt ihr die Knie.

»Alles in Ordnung?«, fragt eine sanfte Stimme hinter ihr. Victor. Sie hat ganz vergessen, dass er noch da ist. Er beugt sich über sie, die Sorge steht ihm ins Gesicht geschrieben, und dann streckt er ihr eine Hand entgegen. Sie starrt die Hand an, ist sich nicht sicher, ob sie echt ist oder Illusion, dann greift sie danach und kommt auf die Füße, auf die schmerzenden, müden Füße, die immer noch in diesen albernen Schuhen stecken.

Sie kickt sie sich von den Füßen und starrt die Wände in ihrer Wohnung an. Mit einem Mal scheinen sie von Dauer zu sein. Eine schäbige Gefängniszelle, aus der sie nie wieder herauskommt.

»Ich war so frei und hab mal geguckt, was im Kühlschrank war«, sagt Victor. »Ich könnte Bohnen auf Brot machen?«

Er drückt ihr den Teebecher in die Hand, und sie starrt auf das trübe Braun hinab, als stünde dort ihre Zukunft geschrieben.

Ihr wird schwindlig. Sie streckt sich nach dem Beistelltisch aus, will den Becher abstellen, Tee kleckert auf die Dielen.

»Hoppla.« Victor springt auf sie zu und nimmt ihr den Becher ab. Er zieht einen Küchenstuhl unter dem Tisch hervor und führt sie hin. »Setzen Sie sich, hier … Vielleicht war Tee bei der Hitze keine gute Idee.« Er sieht sich um. »Sie brauchen frische Luft.«

»Keine Terrasse, kein Balkon. Nur so kann ich mir eine eigene Wohnung leisten.«

»Und was ist das?« Er lehnt sich über die Arbeitsplatte und zieht das Küchenfenster auf. Dahinter liegt ein Stück Flachdach – die Decke des Stockwerks unter ihr. Die Fläche ist nicht groß, nicht mal zwei auf zwei Meter, und fällt leicht ab, sodass man in die benachbarten Gärten sieht. »Bingo«, sagt Victor.

Isobel sieht ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

»Da hätten wir frische Luft.«

»Ich krieche aber jetzt nicht über die Arbeitsplatte, um auf fremder Leute Dächern zu sitzen!«

»Gehört nicht das ganze Gebäude fremden Leuten? Was ist dann an dem Dach anders? Okay, nach draußen zu kommen ist vielleicht ein bisschen umständlich, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Er rückt einen Stuhl davor, räumt die Arbeitsplatte frei, und sie klettert durchs Fenster und sieht empor in den rosafarbenen Himmel. Die schwarze Teerpappe unter ihren Füßen ist warm, die Fasern haben Sonne getankt. Ein bisschen Abendrot bleibt ihnen noch, und kurz hält sie das Gesicht in die Sonne. Eine Brise streift über sie hinweg, genau wie zuvor auf dem Motorrad.

»Hier.« Victor reicht die Kissen von ihrem Lesesessel durchs Fenster. »Lehnen Sie sich da dran. Machen Sie es sich bequem, Essen kommt sofort.«

Isobel setzt sich und lehnt sich vorsichtig an das schmale Fenster zum Wohnzimmer. Sie versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, ist sich aber nicht sicher, wie sie damit umgehen soll, dass in ihrer Küche ein fremder Mann werkelt.

»Sollen wir die aufmachen?« Victor hält die Flasche Rotwein hoch, die Toni zuletzt mitgebracht hat – zusammen mit dem Sisalteppich und ein paar Spiegeln. Isobel nickt, und dann hört sie, wie der Wein in zwei Gläser gluckert.

Als das Essen fertig ist, reicht Victor zwei Teller und die Weingläser durchs Fenster. Isobel nimmt ihr Glas entgegen und starrt das geschliffene Muster an. Ein Geschenk zu ihrer Hochzeit. Die besten Gläser für besondere Anlässe. Isobel hat sie all die Jahre geschont, doch jetzt überlegt sie ernsthaft, beide vom Dach zu schleudern und zuzuhören, wie sie auf dem Asphalt zerschellen. Nein, das wäre albern. Stattdessen will sie sich zurücklehnen und zusehen, wie ein anderer Mann aus Stevens Glas trinkt.

Sie machen sich über das Essen her. Auf den letzten Scheiben Sauerteigbrot vom Vortag häufen sich Limabohnen und rote Zwiebeln an einer würzigen Tomatensoße, darüber geriebener Käse. Es ist unfassbar köstlich, eindeutig das Werk eines Menschen, der kochen kann.

»Lecker!«, sagt Isobel und nippt am Wein.

»Mit der geräucherten Paprika hab ich’s ein bisschen übertrieben …«

»Sieht die Küche sehr schlimm aus?«

»Ich hab nebenbei aufgeräumt, es weicht alles in der Spüle ein. Also, der Wein ist gut.« Er nimmt die Flasche hoch und inspiziert das Etikett. »War der teuer?«

»Wahrscheinlich.« Isobel greift wieder zu ihrem Glas. »Ich trinke sonst nicht, insofern … Keine Ahnung.«

»Dann machen Sie langsam«, sagt er und fuchtelt mit der Gabel in ihre Richtung, als sie das halbe Glas auf einmal leert.

»Spielt doch keine Rolle mehr«, sagt sie leise, während der Himmel sich pflaumenblau verfärbt. »Schade, dass wir den Sonnenuntergang nicht sehen können.«

Victor stellt seinen Teller beiseite und verschränkt die Arme über den Knien. Er sieht lächelnd nach oben. »Ach, aber man kann es sich vorstellen.«

Sie leert ihr Glas und winkt damit in Victors Richtung. Er greift zur Flasche und schenkt ihr nach.

»Machen Sie langsam«, mahnt er erneut.

»Das entscheide ich selbst, vielen Dank auch.« Sie zieht sich das Kleid über den Beinen zurecht und reibt sich die nackten Knöchel.

»Ich will nur nicht, dass Sie hier abstürzen und mich mit in den Abgrund reißen.« Er späht über die Kante. »Sieht ziemlich tief aus.«

»Solche Umstände würde ich Ihnen gewiss nicht machen wollen.«

Victor lächelt schief. »Ich glaube, wir haben uns gerade missverstanden. Ich habe damit wirklich nichts andeuten wollen.«

»Genau wie Sie mich nicht beleidigen wollen, indem Sie kein nettes Wort über meine Frisur verlieren? Oder mein Kleid? Beides nur für diesen Anlass gekauft.« Sie unterdrückt einen Rülpser und läuft angesichts ihres Selbstmitleids dunkelrot an. Vielleicht sollte sie sich vom Dach rollen. Platsch.

Er starrt das Glas in ihrer Hand an. »Tut mir leid«, sagt er nach einer Weile, »mir ist beigebracht worden, dass es unhöflich ist zu kommentieren, wie jemand aussieht.« Er blickt zu ihr hoch. »Aber möchten Sie denn, dass ich ehrlich bin?«

Sie beißt sich auf die Lippe. Kann sie Ehrlichkeit gerade ertragen? Trotzdem nickt sie.

»Ihre Frisur ist toll. Andererseits sah Ihr Haar vorher auch schon gut aus. Und Ihre Sachen … Na ja, dafür gilt das Gleiche. Aber wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, dass Sie Ihre neuen Sachen nicht mögen. Habe ich recht?«

Isobel starrt auf ihr Kleid hinab und auf die Füße, an denen sich immer noch die Riemchen abzeichnen. »Ich hasse sie«, antwortet sie.

»Warum ist es dann wichtig, was ich davon halte?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Genau darum sollte ich mir doch Gedanken machen, oder nicht? Immer erzählen mir alle, wie altmodisch ich bin. Von vorgestern.«

»Aber warum kümmert es Sie denn, was andere Leute reden? Und warum sollte das Äußere so wichtig sein? Sehen Sie mich an.« Victor zupft an seinen Haaren und an seinem Hemd. »Man sieht deutlich, dass ich nichts darauf gebe. Und wissen Sie was? Ich bin glücklich so.«

Isobel sieht ihn sich an. Das schreckliche Hemd – lila mit psychedelischen Blumen, der spitze Kragen, die Manschetten, die seit vierzig Jahren aus der Mode sind. Die Haare hat er sich zum Glück zurückgebunden, aber sie reichen ihm bis über die Schultern. Sein Bart ist gestutzt, aber er bedeckt die untere Hälfte seines Gesichts. Er ist absolut nicht ihr Typ. Trotzdem hat sie Ja gesagt, oder etwa nicht? Sie hat ein Gutteil ihres Gehalts für ein Outfit ausgegeben, das er bewundern soll. Sie ist auf seinem Motorrad mitgefahren. Sie hat sich an ihm festgehalten. Irgendetwas hat Victor Godden an sich, was über nicht ihr Typ hinausgeht.

Ein Maunzen von oben, und eine schwarze Katze taucht an der Dachkante auf. Sie springt zu ihnen runter und sucht sich Victor aus, den sie umschnurren will, während Isobel ein Stück zurückweicht. Die Katze hat kein Halsband um. »Vorsicht, vielleicht ein Streuner.«

»Dann braucht sie besonders viel Liebe – oder, Süße?« Er krault die Katze zwischen den Ohren, und sie schnurrt dankbar. »Da hätten wir noch jemanden, der sich kein bisschen darum schert, was andere denken.«

Isobel hält aus sicherer Entfernung Ausschau nach Flöhen.

Die Katze legt sich neben sie, rollt sich auf den Rücken und genießt die Wärme.

»Die Katze auf dem heißen Blechdach«, witzelt Victor, woraufhin Isobel sagt: »Das ist Dachpappe.«

Er lacht und seufzt dann tief auf. »Sie sind echt eine harte Nuss, was?«

Isobel nimmt noch einen Schluck Wein und spürt, wie sie sich leicht entspannt. Sie hat das dringende Bedürfnis, ihm etwas zu geben. »Hier.« Sie zieht den Ausschnitt ihres Kleides ein Stück zur Seite und entblößt eine Narbe von fünf Zentimetern.

Victor zieht scharf Luft durch die Zähne. »Wie ist das denn passiert?«

»Ein Autounfall, als ich achtzehn war. Bin mit dem Auto nachts einer Katze ausgewichen. Der Wagen hat sich überschlagen. Ich weiß noch, wie ich hinterher dasaß und dachte, jetzt muss ich sterben.«

»Das ist ja furchtbar.«

»Zum Glück kam jemand vorbei.«

»Waren Sie schwer verletzt?«

»Sie haben meinen Eltern gesagt, dass ich die Nacht vielleicht nicht überleben würde. An dieser Stelle hier ist eine Scherbe eingedrungen.« Sie streicht über die Narbe. »Sie hat mein Herz nur um Haaresbreite verfehlt. Ich habe überlebt, aber das hier ist mir geblieben.«

»Eine Erinnerung daran, dass es schlimm hätte ausgehen können.«

Sie sieht in den Himmel empor. »Ich wache oft mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr einschlafen. Also stehe ich auf und fange an zu putzen, zu staubsaugen, die Küche zu schrubben. Wenn es draußen dann hell wird oder die ersten Lichter angehen, weiß ich, dass ich mich wieder hinlegen kann. Ich weiß, dass ich die Nacht überlebt habe.«

Er sieht sie unverwandt an.

»Steven fühlte sich immer gestört, wenn ich aufgestanden bin. Er fand das unmöglich. Als könnte ich meine Seele und meinen Körper irgendwie steuern.«

»Das ist Ihr Exmann, richtig?«

Sie schluckt Luft. Exmann. Das hört sie gerade zum ersten Mal. Mehr als ein Nicken bringt sie nicht fertig.

Sie trinken die Flasche leer. Unterhalten sich weiter so ungezwungen, dass sie es zunächst gar nicht bemerken, als die Sonne den Himmel in Brand setzt. Isobel erzählt ihm von ihrem Glauben und von ihren Kindern und von ihrem bisherigen Leben. Victor hört zu. Einmal geht er zur Toilette, und auf dem Rückweg erledigt er schnell den Abwasch. Sie hört die Teller aufs Abtropfbrett klappern und wünschte sich, sie hätten eine zweite Flasche Wein.

Als es ihr draußen zu kühl wird, klettert sie durchs Fenster, und er hilft ihr rein. Auf der sauber gewischten Arbeitsplatte rutscht ihr Fuß weg, und fast stürzt sie. Der Wein zeigt Wirkung. Aus verlegenem wird hysterisches Lachen, und am Ende plumpsen sie beide auf den Boden, und kaum dass sie etwas sagen wollen, müssen sie erneut lachen.

Als Victor zu guter Letzt sagt, dass er jetzt wirklich gehen sollte, verspürt Isobel einen zehrenden Schmerz und lehnt sich vor, um ihm einen unbeholfenen Kuss auf die Lippen zu drücken. Sie hat keine Ahnung, was das zu bedeuten hat – vielleicht Dankbarkeit für den nettesten Abend, den sie seit Jahren gehabt hat, oder für den Abwasch oder womöglich auch für etwas ganz anderes. Ausnahmsweise versucht sie gar nicht erst, dieses Gefühl zu sezieren. Er erwidert den Kuss. Es ist das erste Mal seit viel zu langer Zeit, dass das passiert.

Als sie voneinander ablassen, dreht sie lächelnd den Kopf weg. Er zieht sie auf die Beine, doch ihre Füße funktionieren nicht, wie sie sollten, und sie fällt, fällt, fällt, und alles wird schwarz.

Am folgenden Morgen wacht sie vollständig bekleidet in ihrem Bett auf, und in ihrem Kopf ist nur Watte. Die Sonne scheint durch die Oberlichter, und sie denkt: Das war’s. Jetzt reicht’s. Sie schert sich nicht mehr darum, was andere sagen. Morgen besorgt sie sich Jalousien. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ganz bewusst eine Entscheidung trifft, von der andere ihr abraten.

Aus der Küche kommen Geräusche – ein leises Klappern, als wollte jemand lieber nicht gehört werden. Isobel zieht sich das Kleid über die Beine und sieht sich um. Hat sie am Vorabend das Fenster aufgelassen? Ist jemand eingestiegen?

Aber Einbrecher pfeifen nicht. Und sie brutzeln auch keinen Speck. Sie nimmt Witterung auf, krabbelt ans Fußende der Matratze. Durch den Glaseinsatz sieht sie, wie Victor in der Küche auf und ab geht. Er bewegt sich langsam und entspannt und sieht beschwingt aus. Isobel streicht sich über die Haare und greift nach einer Strickjacke. Sie tastet sich an der unebenen Wand entlang bis zu der Halbgeschosstreppe. Eine Bewegung im Fenster weckt ihre Aufmerksamkeit – es ist die schwarze Katze, die auf dem Flachdach liegt.

Als sie durch die Tür kommt, hält Victor zum Gruß die Pfanne hoch. »Guten Morgen.«

Isobel zieht die Strickjacke enger um ihren Leib. »Was geht hier vor?«

»Ich dachte mir schon, dass du früh aufwachst, und habe schon mal mit dem Speck angefangen. Dann sind jetzt die Eier dran.«

Ein flüchtiger Blick auf die Uhr – es ist Viertel nach neun. Am Sonntag. Ihre Hand schnellt an ihren Hals. Zur Versammlung schafft sie es nie im Leben. Nicht so, wie sie aussieht, und nicht, solange er immer noch hier ist. »Warum bist du … Hast du hier übernachtet?«

»Da am Boden.« Er zeigt in Richtung Wohnzimmer. »Ich hab ganz kurz darüber nachgedacht zu gehen, nachdem du eingeschlafen warst, aber dich in deinem Zustand allein zu lassen fühlte sich nicht richtig an. Du warst komplett ausgeschaltet. Und was, wenn du dich übergeben hättest?«

Sie versucht, sich die letzte Nacht ins Gedächtnis zu rufen. Das Dach, der Wein – oh, der Wein! – , die Katze, der Kuss … Der Kuss. Er schrillt in ihr wie eine Sirene.

»Wir haben nicht … Bitte sag, dass wir nicht …« Isobel schlingt sich die Arme um den Leib.

Victor sieht sie bestürzt an. »Natürlich nicht.« Er schlägt den Blick nieder. »Ich … also … Die Eier!« Er dreht sich zur Herdplatte um.

»Tut mir leid, ich hab einfach …« Isobel erhascht einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster und zuckt zusammen. Sie muss dringend putzen, waschen, schrubben – und sofort bei sich selbst damit anfangen. Wortlos verschwindet sie ins Badezimmer und schließt sich ein.

Sie duscht, so schnell sie kann. Sie will nicht noch unhöflicher erscheinen, indem sie auch noch das Frühstück verdirbt. Sie frottiert sich die Haare, wickelt sich in ihren Bademantel, sodass ihr Körper bedeckt ist. Sie wischt über den beschlagenen Spiegel, und ihr müdes Gesicht kommt zum Vorschein. Ihr Spiegelbild beruhigt ihre Nerven mitnichten, und ihre Gedanken rasen, auch wenn ihr Kopf immer noch wattig ist. Entschuldige, Victor, will sie sagen. Ich hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass du schlechte Absichten hast – aber du bist ein weltlicher Mann, und weltliche Männer denken so. Da können sie nicht aus ihrer Haut.

Sie hört, dass er den Tisch deckt.

So anders als Steven, denkt sie. Der gut aussehende, erfolgreiche Steven, der Strahlemann jeder Gesellschaft. Steven, der Feste ausgerichtet und Reden geschwungen hat und immer als einer von den Guten angesehen wurde. Steven, der nie einen Fuß in die Küche gesetzt hat, außer um zu fragen, wann das Essen fertig ist. Steven, der sich mit seiner achtzehnjährigen Angestellten, die inzwischen von ihm schwanger ist, nach Südfrankreich abgesetzt hat. Steven, der Älteste. Kein weltlicher Mann. Einer von den Guten.