Es ist Spätsommer geworden, als Jen auszieht. Als sie ihre Klamotten zusammenlegt und ihre wenigen Habseligkeiten packt, segelt draußen ein Blatt zu Boden. Sie sieht es nur zufällig, weil sie im richtigen Augenblick aus dem Fenster geguckt hat. Ein einsames goldenes Aufblitzen. Es ist zu früh, denkt sie noch, doch dann fällt ihr wieder ein, dass es fast September ist. Der Herbst lässt sich nicht mehr aufhalten.
Zwei Wochen sind seit ihrem Gespräch im Atelier vergangen. Die Atmosphäre ist seither entspannter. Trotzdem war es ein Schock, als Jen Zelda vor ein paar Tagen eröffnet hat, dass sie eine Wohnung gefunden habe. Zelda kaute weiter auf dem Bissen Lamm, das Jen stundenlang geschmort hatte, und der einzige Hinweis auf eine Gefühlsregung war die Gabel, die sich in das Fleisch bohrte. »Wie schön«, sagte sie, lächelte aber nicht, und sie aßen weiter.
Ich liebe dich, Zelda, sagte Jen. Ich hab dich schon als Alice geliebt, und das nicht nur, wie man seine Freundinnen liebt. Und genau deshalb muss ich ausziehen. Mir ist klar geworden, dass ich dich niemals zurückbringen kann, und ich muss versuchen, mich selbst zu retten.
Sie sagte es, indem sie sich über den Tisch beugte und mit ihrer Serviette einen Tropfen Soße von Zeldas Kinn tupfte. Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment, ehe Jen ihren Stuhl nach hinten schob.
»Zumindest sehen wir uns weiter im Atelier«, sagte Zelda, als Jen den Nachtisch hereinbrachte.
Jen wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich hab Mary gesagt, dass ich nicht mehr komme.«
Zelda sah sie ausdruckslos an.
»Es hat doch keinen Zweck. Ich kann hoffentlich ein paar Stunden zusätzlich im Laden arbeiten, und da bleibt keine Zeit mehr für andere Sachen.« Sie hat Zelda nicht erzählt, was sie für eine neue Kreditkarte und die Miete berappen muss. Bei der Summe wird ihr ganz anders.
»Ich höre auf«, sagte Zelda nachdrücklich, »nicht du. Ich bin sowieso nur deinetwegen hingegangen.«
»Es geht dabei nicht um dich«, sagte Jen und hoffte inständig, dass sie ihr die Halblüge abnahm.
Zelda schob den Teller von sich weg. »Sondern?«
Jen konnte sie nicht ansehen.
Dann sprang Zelda auf. Sie stand einen Augenblick lang da, legte die Hände auf den Tisch, fuhr mit den Fingerkuppen über die Unebenheiten im Holz. Sie suchte Jens Gesicht nach Zweifeln ab.
»Darfst du überhaupt nichts Eigenes haben?«
Jen lädt die Kisten und Taschen ein. Sie läuft zwischen Zufahrt und Blechhaus hin und her und hält den Blick auf den Pfad gerichtet. Zelda ist im Garten und köpft Rosen. Weder bietet sie ihre Hilfe an, noch lässt sie durchblicken, dass es kein Tag wie jeder andere ist. Sie heuchelt nicht.
Drinnen lässt Jen ein letztes Mal den Blick schweifen. Hier hat sie den Sommer verbracht, hier ist ihre alte Freundin von den Toten auferstanden. Hier haben sie geredet, haben binnen drei intensiver Monate ganze achtzehn Jahre wettgemacht. Das Haus birgt Erinnerungen an viele glückliche Momente.
Die weiße Vase, die sie in ihrer ersten Stunde getöpfert hat, steht auf einem Schränkchen neben der Tür. Sie hat vergessen, sie einzupacken. Jen fährt die Kurven in der Keramik nach, und ihr fällt wieder ein, wie Zelda nach Luft geschnappt hat, als die Vase aus dem Brennofen kam. Sie legt ihren Schlüssel daneben. Ein Teil von ihr bleibt hier.
Die Sonne steht am blauen Himmel, der Vormittag ist dunstig. Vorsichtig scheucht Jen eine Biene weg, die auf ihrem Pullover landen will. Sie wirkt benommen, vermutlich berauscht von den Äpfeln, die ein Stück weiter vom Baum gefallen sind und jetzt leicht lädiert auf der Erde liegen. Sie nimmt einen tiefen, zitronigen Atemzug. Dort, wo sie als Nächstes hinzieht, gibt es nichts von dieser Schönheit. Sie will diesen Duft in sich aufsaugen, sich Balsam für düstere Tage stibitzen.
»Tschüss dann«, sagt sie und hebt die Hand über die Augen, um Zelda besser zu sehen.
Zelda knipst eine rosa Rosenblüte ab und wirft sie in den Korb, der in ihrer Ellbeuge hängt. Sie trägt ein lockeres weißes Kleid und hat etwas Ätherisches an sich, so wie sie dort barfuß in ihrem eigenen kleinen Garten Eden steht. »Tschüss.«
»Können wir uns diesmal bitte ohne Donnerwetter verabschieden?«
Zelda kneift die Augen zusammen. »Du willst, dass ich fröhlich bin, weil du hier ausziehst?«
»Nicht fröhlich … «
»Du machst einen Riesenfehler.«
Jen spürt, wie der Boden ins Wanken gerät, und ringt die Hände. »Lass mich ihn trotzdem machen.«
Jen will diesen Moment als Schnappschuss in ihrem Gedächtnis bewahren: Zelda, die in der Sonne auf sie zukommt, umringt von Rosen und Farben und Leben, hinter ihr die Blechfassade ihres Hauses. Schlagartig ist ihr speiübel, sie hat Angst vor einem Schritt, den sie nicht ungeschehen machen kann, doch dann presst sie sich die Hand auf den Bauch und schiebt die Übelkeit beiseite.
»Es geht um Kontrolle«, sagt Zelda und bleibt vor ihr stehen.
Jen sieht sie verwirrt an.
»Wenn ich die Blumen sterben lasse, wenn ich sie sehenden Auges vernachlässige, kann ich spüren, wie sehr sie mich brauchen. Das erinnert mich wieder daran, dass ich die Zügel in der Hand halte. Es ist ein Trost.«
»Du weißt schon, dass du echt durchgeknallt bist?«, erwidert Jen leise.
Zelda starrt auf den Boden zu ihren Füßen. »Sie sterben nie ganz. Im letzten Moment schreite ich ein.«
Jen würde am liebsten heulen, als sie sieht, wie das Licht Zeldas Gesicht streichelt. »Da ist echt eine bedenkliche Dunkelheit in dir drin.«
»Und du hast wirklich tote Blumen gebraucht, um das zu erkennen?«
Jen sieht sich ein letztes Mal im Paradies um. Die Ältesten würden unken, dass hier irgendwo im Unterholz eine Schlange lauere. Urplötzlich hat sie das Bedürfnis, sich einen Finger auszureißen und hier in die Erde zu pflanzen, ihn hier zurückzulassen, auf dass er bei Zelda gedeihe, auf dass Zelda ihn gieße, hege, pflege, liebe. Ich will Leben und Tod, denkt sie. Ich will beide Extreme. Ich will, will, will.
»Ich bin nicht so stark wie du«, sagt sie.
Zelda legt ihr die Hand an die Wange, beugt sich vor und gibt ihr einen Kuss auf die andere Wange. Es ist ein sanfter Freundschaftskuss, ein Kuss der Vergangenheit, der Zukunft. »Ich bin hier«, flüstert sie.
Jen nimmt ihre Freundin in die Arme und drückt sie an sich.
Das hier ist nicht das Ende, redet sie sich ein. Es ist der Beginn von etwas anderem.
Die kleine Einzimmerwohnung liegt im Herzen der Stadt, in einem großen Wohnblock aus den Neunzigerjahren mit klemmender Eingangstür. Der Aufzug ist kaputt, und im Treppenhaus stinkt es nach Biertrinkerpisse. Jen hat die Lieferung ihres Futons auf den Umzugstag terminiert, allerdings sieht der Fahrer nur am Gebäude hoch und schüttelt den Kopf. »Bis Bordsteinkante«, sagt er und lässt den riesigen Karton vor dem Hauseingang stehen. Jen klopft an der nächstbesten Tür im Erdgeschoss, stellt sich kurz vor und fragt, ob der Nachbar ihr vielleicht helfen könne, ihr Bett in den vierten Stock hochzutragen. »Tut mir leid, Schätzchen, kaputte Schulter«, bekommt sie zu hören, und er schlägt ihr die Tür vor der Nase zu. Sie lehnt sich gegen die Wand und seufzt. Die folgende Stunde verbringt sie damit, das Bett in Einzelteilen nach oben zu schleppen.
In der Wohnung baut Jen den Futon zusammen und rückt ihn an die Wand. Sie lässt sich darauf fallen – und winselt, weil die Matratze so hart ist. Aus dieser Position kann sie ihr komplettes neues Reich überblicken: von der verzogenen Wohnungstür über die Küchenschränke und das deckenhohe Fenster – mit Blick auf die Mülltonnen – bis hin zu der Tür, hinter der ein in die Jahre gekommenes Bad mit angeschlagenen Fliesen und tropfendem Wasserhahn liegt. Dafür geht also nun beinahe ihr kompletter Monatslohn drauf.
Sie hat sich eine billige Bohrmaschine gekauft, um Bilder aufzuhängen, doch die Wände sind so porös, dass sie spezielle Aufhänger bräuchte, deshalb lehnen die gerahmten Drucke fürs Erste auf dem billigen Laminatboden.
Pulsierende Bässe dröhnen durch die Wand.
Morgen kaufe ich mir Zimmerpflanzen, beschließt Jen. Und dann sehe ich ihnen beim Sterben zu.