Ihr Herz, ihr Herz

Isobel

Victors Wohnung lässt sich beim besten Willen nicht kategorisieren. Ein großer Wohn-Ess-Bereich, aber Raumteiler und Pflanzen sorgen für Gemütlichkeit. Isobel fährt diskret mit dem Finger über eine Kommode, als er die Tür hinter ihr zumacht. Kein Staub.

Sie hatte nicht vor, mit hochzukommen. Eigentlich hat sie nach Hause fahren und sich ein Bad einlassen und nachsehen wollen, ob Patrick sich gemeldet hat, und vielleicht sinnlos fernsehen. Aber als er sie gefragt hat, ob sie noch etwas trinken wolle, hat sie sich dabei ertappt, wie sie nickte. Insgeheim war sie neugierig zu sehen, wie dieser Mann wohnt. Was er vor sich sieht, wenn er aufsteht. Und ob seine Wohnung sauber und ordentlich ist, auch wenn er nicht mit Besuch rechnet.

Kurz flackert Enttäuschung in ihr auf, als sie sieht, dass er sehr gut imstande ist, für sich zu sorgen.

»Kaffee?«, fragt er und wirft den Schlüsselbund in eine Schale.

In ihr legt sich ein Schalter um. »Ich kümmere mich darum«, sagt sie, lässt die Handtasche fallen und steuert, immer noch in ihrer Jacke, die Küche an. Sie wirft einen Blick in den Wasserkocher und ist beglückt, als sie darin Kalk entdeckt. Hier könnte sie helfen.

Mit ihren Kaffeebechern in der Hand stehen sie am Wohnzimmerfenster und lassen den Blick über die Stadt schweifen. Die Abendsonne taucht alles in weiches Rosa, und Isobel ist merkwürdig gerührt angesichts des Verkehrs auf dem Stadtring und der Häuser mit Minifenstern, in denen Menschen leben. Da sind Ordnung und Struktur in der Anlage dieser Gebäude und Straßen – und doch herrscht Chaos in den Herzen derer, die sie bewohnen. Wenn sie zu lange darüber nachdenkt, bekommt sie garantiert Kopfschmerzen.

»Deine Familie liebt dich«, stellt sie fest.

Victor lächelt schief, will keine große Sache daraus machen, dass ihm dieser Umstand, na ja, bewusst ist.

»Deine Kinder – sie tolerieren dich nicht nur. Sie mögen dich nicht nur. Sie lieben dich.«

»Die meisten Kinder lieben ihre Eltern«, erwidert er. »Sie zeigen ihre Liebe nur auf unterschiedliche Art und Weise, das ist alles.«

Isobel fällt wieder ein, wie sie die weiche Patschehand ihres Sohnes gehalten hat, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Wie sie immer zwischen ihm und der Straße ging. Und Cassandra. Besuchte Isobel nicht jedes Jahr die Schultheateraufführung und saß inmitten der anderen Eltern auf diesen niedrigen, harten Bänken? Sie liebte diese Aufführungen.

Es ist Wochen beziehungsweise Monate her, seit sie von den beiden gehört hat.

Victor schwenkt seinen Becher. »Kinder sind wie Kaffee.«

Sie sieht ihn verständnislos an. »Wie bitte?«

»Man zieht ein Kind groß, so wie man Kaffee macht: Man darf nie die Milch im Nachhinein eingießen, weil das Weiße so vom Dunklen geschluckt wird und der Eindruck von Bitterkeit bleibt. Wenn man das Helle zuerst eingießt, ist es völlig egal, wie viel Dunkles man hinzufügt: Das Helle schluckt das Dunkle. Die Farbe ist deutlich angenehmer. Das Gleiche gilt auch für Kinder. Man muss ihnen schon als Babys alle Liebe zuteilwerden lassen – noch bevor sie wissen, wer sie sind und wie hart die Welt da draußen sein kann. Wenn man ihnen Helligkeit gibt, können sie später mit der Dunkelheit umgehen, mit der sie unweigerlich konfrontiert werden. Sie absorbieren sie – wie die Milch den Kaffee. Sie lassen sich davon nicht unterkriegen. Sie überlassen der Dunkelheit nicht das Feld.«

Isobel blickt auf ihren dunklen, bitteren Kaffee hinab.

Victor macht einen Schritt auf sie zu und zieht sie an sich. Das Gefühl, in die Arme genommen zu werden, ist ihr immer noch fremd, Hände, die sich ohne eine bestimmte Absicht nach ihr ausstrecken. Im Supermarkt ist sie immer wütend geworden, wenn jemand ihren Arm gestreift oder sich im Eingang an ihr vorbeigequetscht hat. Diese vergeudete Berührung. Wer sind diese Leute, dachte sie immer, die Körperkontakt so sehr gewohnt sind, dass sie völlig sorglos damit um sich werfen.

Ich sollte gehen, denkt sie in seinen Armen.

Er weicht von ihr zurück, sodass sie einander gegenüberstehen, und streicht ihr über die Wangen. Als seine Lippen ihre berühren, weiß sie nicht, ob sie aufblühen oder die Dornen wetzen soll. Doch seine Lippen sind weich.

»Victor …« Sie macht sich von ihm los. »Ich kann nicht. Du weißt, was ich meine.«

Er legt die Finger an die Lippen und nickt bedächtig. »Sollen wir einen Wein aufmachen?«

Sie ist schlagartig angespannt. »Glaubst du, mit Wein würde ich nachgeben?«

Er macht einen Schritt zurück. »He, hör auf damit.«

»Womit denn? Mit meinen Prinzipien?«

»Damit, dass du immer gleich denkst, ich hätte Hintergedanken.« Er klingt sanft, aber nachdrücklich. Sie geht ihm auf die Nerven. Sie weiß es.

Isobel schlägt die Hände vors Gesicht und stößt einen lang gezogenen, kehligen Seufzer aus, der sie selbst ebenso sehr überrascht wie Victor. Sie weicht in die Ecke zurück. Und dann kommen die Schluchzer, schwer und in schneller Folge. Sie presst sich die Hand auf die Brust. Ihr Herz, ihr Herz. Es donnert.

»Komm.« Victor führt sie zum Sofa. Er eilt in die Küche, sie hört ihn hantieren, und im nächsten Moment drückt er ihr ein Glas Whisky in die Hand.

Mit zitternden Händen nimmt Isobel gierige Schlucke. Sie beugt sich vor, will den Kopf zwischen die Knie schieben, und Victor streichelt ihr den Rücken.

»Oh Gott«, flüstert sie dem Boden zu, auf den Tränen tropfen.

»Lass los«, sagt Victor und nimmt ihr das Glas ab. »Dein Körper will etwas sagen.«

Langsam richtet sie sich auf und lehnt sich zurück. Er verschwindet in der Küche, und dann hört sie, wie er in der Wohnung auf und ab geht.

»Bleib heute Nacht hier«, sagt er und bleibt kurz stehen, um sie anzusehen. »So kannst du sowieso nicht mehr fahren. Ich schlafe hier draußen. Oder ich rufe dir ein Taxi, wenn dir das lieber ist.«

Isobel streckt sich aus. Allmählich kommt ihr Kopf zur Ruhe. So hat sie noch nie geheult – und sie hat auch noch nie ein ganzes Glas Whisky getrunken. Sie hat sich nie auf einem Sofa ausgestreckt. Alles dreht sich.

Was, wenn die Leute, die sie kennt, sie jetzt sehen würden?

Aber das können sie nicht. Und werden sie nicht. Und sie weiß, hier ist sie sicher.

Als sie am folgenden Morgen aus dem Schlafzimmer kommt, steht Victor in der Küche und betrachtet die Welt draußen vor dem Fenster. Lächelnd dreht er sich zu ihr um.

Bei dem Gedanken, dass sie in seinem Bett geschlafen hat, errötet sie. Am liebsten würde sie zu ihm sagen: Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und die Wände angestarrt. Ich habe mich gefragt, auf welcher Seite du normalerweise schläfst. Ich glaube, links, deshalb habe ich rechts gelegen und die Hand nach der Stelle ausgestreckt, an der du gewesen wärst.

»Ganz schön hart«, sagt sie, »deine Matratze.«

Er antwortet nicht. Er hat seinen Kaffeebecher in der Hand, die andere Hand hat er in die Hosentasche geschoben. Isobel stellt sich vor, wie er sich Kaffee gemacht und die Milch zuerst eingeschenkt hat.

Sie denkt an all die Dinge, die sie sagen könnte. »Ich muss jetzt gehen.«

Er stellt seinen Becher ab und sieht weg.

»Ich glaube, ich habe dir nie wirklich von meinem Glauben erzählt. Oder davon, dass ich verheiratet sein muss.«

Victor greift zum Wasserkocher und hält ihn unter den Wasserhahn. »Ich hab mich schon gefragt.« Er stellt den Wasserkocher an, und Isobel wartet darauf, dass es blubbert. Ein tröstliches Geräusch. Besonders jetzt, in dieser Küche, in der sie soeben verkündet hat, dass sie gehen muss, und er Wasser aufsetzt, als wollte sie bleiben.

»Aber ich sollte ehrlich mit dir sein«, sagt Victor dann. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mal heiraten will.«

Der heiße Atem des Wasserkochers steigt in der Küche nach oben.

»Oh.«

»Verheiratet zu sein hat der ersten Frau, die ich geheiratet habe, nicht viel bedeutet, und da … Na ja … Es kam mir vor, als würde man einen schnöden Vertrag abschließen.«

»Verstehe.« Sie sieht auf ihre Hände hinab. Natürlich, er will nicht heiraten.

»Außerdem bin ich nicht gläubig.« Er lacht verlegen.

»Ach Victor.« Isobel fasst sich an die Stirn und lacht ebenfalls. »Was machst du mit mir?«

»Ganz ehrlich – mit mir willst du nicht über Religion reden.«

Die Stimmung ist annähernd komisch. Isobel – die ihr Leben lang jeden Dienstag in der Gemeinde verbracht hat, um zu lernen, wie man verhindert, dass sich eine Tür vor ihr schließt – hat keine Ahnung, was sie darauf erwidern soll. Sie weiß nur, dass dies eine Tür ist, die nicht zugehen darf.

»Tja, dann ist es eben so.« Sie strafft die Schultern und kramt ihre Schlüssel hervor. Sie weicht seinem Blick aus und geht zur Tür, wo sie umständlich ihre Schuhe anzieht. Sie muss schnell sein, nicht dass ihr Körper sie wieder hintergeht.

Eine Schwester aus ihrer Versammlung tritt aus der Wohnung gegenüber. Isobel haucht den Namen, und dann blickt sie mit verblüffender Klarheit an sich hinab und sieht sich, wie die Schwester sie sieht: durch den Wind, müde, eindeutig hat sie hier übernachtet, Victor, der hinter ihr in der Tür auftaucht. In diesem außerkörperlichen Moment sieht sie sich als Gemälde in der Tate Britain hängen und betrachtet sich aus Sicht der Schwester. Isobel starrt zwar zur gegenüberliegenden Flurseite, doch statt der Schwester sieht sie Museumsbesucher, die tuschelnd mit dem Finger auf sie zeigen, alles Männer, sie haben graue Bibeln dabei. Das Gemälde heißt Isebel .

Die Schwester hat einen schwarzen Müllsack in der Hand und starrt Isobel an, die ihrerseits die Hände vor den Mund geschlagen hat. Nein, will sie schreien, es ist nicht so, wie es aussieht! Angst schießt ihr durch die Adern, als ihr dämmert, dass in jener Welt, die sie mit dieser Schwester gemein hat, lediglich zählt, wie etwas aussieht.