Dienstag, 28. August
Nach der Zusammenkunft in die Bibliothek gerufen worden. Sie haben um eine Erklärung gebeten, also hab ich es ihnen erklärt. Dass ich mich unwohl gefühlt hatte und dass er im Wohnzimmer geschlafen hat. Mir ist fast schlecht geworden, als sie gefragt haben, ob es zu einer körperlichen Begegnung gekommen sei. Es klang so klinisch, so wie sie es formuliert haben, als wären er und ich ein Gesundheitsproblem, das es zu behandeln gilt. Mir ist die Hitze gar nicht mehr aus dem Gesicht gegangen. Es müsse darüber Gericht gesessen werden, sagten sie. Nächste Woche. Draußen an die dreißig Grad.
Mittwoch, 29. August
Arbeit. Schlecht gefühlt. Kein Lebenszeichen von V. Les Connell hat angerufen – Beschluss am 3. September. Abends nichts runtergekriegt. Heiß draußen.
Donnerstag, 30. August
Arbeit. Furchtbar heiß, Ventilator kaputt. Sadie hat selbst gebackenen Kuchen mitgebracht. Meinte, ich solle das letzte Stück essen. Sie hat wohl gespürt, dass ich melancholisch war. Sie hat Antennen, auch wenn ihr Biskuit zu trocken war.
Freitag, 31. August
Immer noch nichts von V. Vielleicht besser so. Besser, es zu beenden, ehe es richtig beginnt. Arbeit – zu gestresst, um nachzudenken. Auch das besser so. Anscheinend gibt es bald Unwetter.
Samstag, 1. September
Predigtdienst abgesagt, weil es schüttet. Versucht, Patrick zu erreichen, Jude etwas ausrichten lassen, aber bestimmt kommt die Nachricht nicht bei ihm an. Konnte mich nicht auf den Fernseher konzentrieren, stattdessen in der Bibel gelesen. Keine Ruhe gefunden. Kopfschmerzen. Auf Patricks Rückruf gewartet. Mit dem Handy sein Festnetz probiert, nicht dass irgendwas mit der Leitung ist, vielleicht liegt es ja an seinem Anschluss. Spät ins Bett. Gewitter.
Sonntag, 2. September
Keine Ahnung, wie das Wetter war, den ganzen Tag verschlafen.
Montag, 3. September
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann gerade nicht denken.
Lieber Patrick,
du musstest so schnell wieder weg – ich konnte es dir ansehen, an der Art, wie du mich angeguckt hast, als wäre ich plötzlich ein anderer Mensch. Aber ich bin immer noch deine Mutter. Hörst du, was ich sage? Ich bin immer noch ein und dieselbe.
Du meintest, wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Aber lass mich dir sagen, mein lieber Junge: Es ist nichts passiert. Ich weiß natürlich selbst, wie das aussieht – dass ich die Nacht in der Wohnung eines weltlichen Mannes verbracht habe – , aber vielleicht, nur vielleicht entspricht der äußere Anschein ja nicht den Tatsachen. Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich war ehrlich zu ihnen. Trotzdem …
Sie haben in der Schrift nachgeschlagen, sie haben gebetet, sie haben betont, dass der Gemeinschaftsentzug eine Geste der Liebe Gottes sei, die mich zur Besinnung bringen soll. Aber eines verstehe ich nicht. Wenn Gott es so will – dann muss er doch wissen, dass nichts passiert ist? Wenn Entscheidungen durch den Heiligen Geist vermittelt werden, muss der Heilige Geist doch die Wahrheit kennen?
Ich weiß das alles schon mein Leben lang, aber es selbst zu erleben ist etwas vollkommen anderes.
Ach Patrick, verweigere mir nicht, das Baby zu sehen. Was du gesagt hast … Ich habe nichts falsch gemacht. Ich würde dich niemals belügen. Bitte, nimm mir das nicht weg, gerade jetzt, da mein Enkelsohn jede Minute zur Welt kommen könnte. Ich weiß nicht, warum sie mir das antun, Patrick, ich habe die Wahrheit gesagt. Die reine Wahrheit.
Wen habe ich denn jetzt noch?
Sag Jude, dass ich damals alles versucht habe – Currygerichte, Dehnübungen, Ananas – , aber Erstgeborene kommen oft später als zum berechneten Termin. Sogar Rizinusöl habe ich probiert. Nichts davon hat deine Schwester dazu gebracht, sich zu rühren. Sie kam erst, als ihr danach war. Bei dir habe ich nichts davon ausprobiert. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du meinen Bauch verlassen würdest.
*
Am darauffolgenden Sonntag zwingt Isobel sich hin und schlüpft in den Saal, als die anderen bereits das erste Lied angestimmt haben, so wie es für Ausgeschlossene vorgesehen ist. So vermeidet man das peinliche Gesehen- und Übersehenwerden. Früher war sie es, die so tat, als wäre das schwarze Schaf überhaupt nicht da. Jetzt ist sie es, die später kommt, die sich in die letzte Reihe setzt, die sonst für Verspätete, schreiende Babys und Frevler reserviert ist.
Wenn jemand sie fragen würde, was sie von der Zusammenkunft mitgenommen hat, könnte Isobel sich an kein einziges Wort mehr erinnern. Nein, das stimmt so nicht. Es gibt einen Moment, der sich ihr Wort für Wort ins Gedächtnis eingebrannt hat.
»Und jetzt noch eine schöne Nachricht: Bruder und Schwester Forge haben gestern Morgen ihren Sohn Noah bekommen. Ist das nicht wunderbar? Ich bin mir ganz sicher, dass sie in diesen aufregenden Zeiten eure Glückwünsche sehr zu schätzen wissen – oder ein Essen, das sie nicht selbst zubereiten müssen.«
Victors Tür fühlt sich unter ihren Fingern kühl und glatt an. Ihr bleiben womöglich nur ein paar Minuten, ehe die Schwester von gegenüber von der Zusammenkunft kommt. Isobel darf ihr unter keinen Umständen noch einmal hier im Treppenhaus begegnen. Bitte, sei da, wispert sie und klopft hektisch an.
Als die Tür aufgeht, stürzt sie fast über die Schwelle. In einem luftigen Hemd – beim Anblick des Blumenmusters zieht sich ihr der Magen zusammen – , in Shorts und mit offenem Mund steht Victor vor ihr. »Was …«, setzt er an. »Komm rein. Komm.«
Mit der Handtasche im Arm taumelt sie vorwärts. Victor murmelt betreten vor sich hin, als er gebrauchte Tassen und Teller einsammelt und Bücher aufeinanderlegt. »Tut mir leid, ich hab keinen Besuch erwartet.«
Isobel weint. »Es muss dir nicht leidtun.« Sie sieht sich in dem Durcheinander um. »Du hast keine Ahnung, wie froh mich dieser Anblick macht.«
Er sieht sie verwirrt an. Als hätte sie ihm eine Fangfrage gestellt. Das Geschirr hat er in die Spüle gestellt, und jetzt steht er verlegen neben dem Sofa und schiebt die Hände in die Hosentaschen. Drei Wochen. Noch hat er sich das Recht, sie zu trösten, nicht wieder verdient, deshalb tippt er mit dem Fuß gegen einen Bücherstapel, bis der umkippt. »Wie war das? Unordnung macht dich froh?«
Sie lacht und wischt sich die Tränen mit der Handkante aus dem Gesicht. Ich bin immer noch ein und dieselbe, hat sie Patrick geschrieben, doch so, wie sie hier ist, ist sie neu.
»Ach Victor …«
Als hätte er genau darauf gewartet, geht er auf sie zu, und sie fällt ihm in die Arme. Einen Augenblick lang stehen sie nur da, spüren dem Atem des jeweils anderen nach, dann setzen sie sich, und es platzt alles aus ihr heraus. Es auszusprechen macht es real. Sie hält sich auch nicht mehr die Augen zu.
»Dann sprechen sie nicht mehr mit dir? Patrick auch nicht?«
Isobel erzählt ihm von ihrem Enkelsohn, dass sie von dessen Geburt erst zusammen mit allen anderen erfahren habe, und er steht auf und stellt sich ans Fenster.
»Was ist mit Cassandra?«
»Die ist sowieso nie ans Telefon gegangen.«
Er schüttelt leicht den Kopf. »Und ich dachte, im christlichen Glauben ginge es um Nächstenliebe?«
»Der Gemeinschaftsentzug ist eine Geste der Liebe, wirklich. Er bringt Sünder wieder zur Besinnung. Sie können eine neue Beziehung zu Gott aufbauen und sich so das ewige Leben verdienen.«
Er dreht sich zu ihr um. »Aber du hast nicht gesündigt.«
»Na ja, nein, aber …«
»Du gibst gerade nur das wieder, was sie dir jahrelang eingeimpft haben. Aber Isobel – du musst doch erkennen, dass das nicht Liebe ist. Sie verhalten sich falsch. Du hast die Wahrheit gesagt, und sie haben – willkürlich – beschlossen, dir nicht zu glauben.«
Sie starrt auf ihre Hände. Es fühlt sich merkwürdig an, die jüngsten Vorkommnisse zu verteidigen, andererseits hat sie das schon ihr Lebtag gemacht. Wir denken in der Sprache, die wir gelernt haben.
»Du verstehst das nicht«, entgegnet sie.
»Nein. Wirklich nicht.« Er sieht runter zur Straße. »Aber ich weiß, was Liebe bedeutet.«
Von Liebe sprechen. Liebe infrage stellen. Verschiedene Versionen von Liebe umreißen. Von all dem Gerede wird sie hungrig.
Isobel mustert die Kontur seines sonnenbeschienenen Körpers. Sie steht vom Sofa auf und geht auf ihn zu. Er dreht sich überrascht zu ihr um, als sie ihn berührt, und lässt zu, dass sie ihn in die Arme nimmt. Sanfte Küsse.
Denk nicht drüber nach, schießt es ihr durch den Kopf. Du bist für alle anderen, die du kennst, gestorben, das hier zählt also nicht.
Ein doppeltes Wagnis.
Es ist vollkommen anders, als sie es kennt. Victor lässt sich Zeit. Er wendet den Blick nicht von ihr ab, küsst ihre Narbe, und sie ist gleichermaßen glücklich und geniert.
Und sie hatte recht. Er schläft auf der linken Seite des Bettes.