»Du bist Jen, oder?«
Jen lässt das Stück Brie fallen und dreht sich zu der jungen Frau links von ihr am Käsebüfett um. Mit einem schiefen Lächeln hebt sie den Käse vom Boden auf, der neben deren nackten Füßen gelandet ist.
»Ich bin Susanna«, stellt sie sich vor. »Aus der Versammlung in Chestone. Meine Familie ist mit Lina und Tom befreundet. Na ja, hauptsächlich mit Tom. Er ist in unserer Gemeinde aufgewachsen.«
Jen nickt und sieht sich nach ihrer Schwester und ihrem Schwager um, die den Gästen im Wohnzimmer Getränke nachschenken. Sie versucht, Susanna nicht anzustarren. Jen schätzt sie auf Anfang zwanzig, und sie hat ein bildschönes Gesicht. »Hi«, murmelt sie.
»Lina ist überglücklich, dass du zurück bist. Sie hat damals, als es passiert ist, Rotz und Wasser geheult. Wir haben alle unser Bestes gegeben, um sie abzulenken und zu unterstützen, aber nichts hat geholfen. Sie wollte dich wiederhaben.«
»Aha.«
Als Jen ankam, hatte sie angenommen, die Familie würde sich treffen, doch dann kreuzte stattdessen die halbe Versammlung zu Wein und Käse auf. »Hab ich das nicht erwähnt?«, fragte Lina, als sie Jen den Mantel abnahm. Es war ihr erster Besuch bei Lina seit der Wiederaufnahme im vergangenen Monat. »Ach, egal. Das haben wir vor einer Ewigkeit geplant. Geh wieder, wenn es dir nicht recht ist. Niemand zwingt dich zu bleiben.«
Jen hat den Abend in der Küche verbracht und sich dort nonstop beschäftigt, um sich nicht einsam zu fühlen. Nach all den Monaten, in denen man ihr aus dem Weg gegangen ist, will sie nicht Gefahr laufen, inmitten von anderen Leuten festzustellen, dass sie einander immer noch nichts zu sagen haben. Diese Leute kennt sie ihr Leben lang. Die Leute, zu denen sie zurückgekehrt ist. Bei der Vorstellung wird ihr ganz anders.
Doch dann ist da diese Susanna, die sie angesprochen hat.
»Wie wär’s«, sagt Susanna, »du schnappst dir die Stühle dort in der Ecke, und ich hole uns zwei Prosecco?«
Jen will sie aus diversen Gründen küssen.
Als Susanna nach fünf Minuten nicht zurück ist, fängt Jen an, nervös auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Sie ist gleich wieder da, will sie den neugierigen Blicken entgegnen. Sie holt uns nur Wein, ihr werdet schon sehen.
Dann kommt Susanna tatsächlich mit zwei Sektgläsern zurück und streift Jens Bein, als sie sich setzt. »Die hier musste ich gegen zwei alte Damen verteidigen.«
Jen lacht und nimmt einen Schluck. Die Bläschen kitzeln auf der Zunge.
»Das mit deinem Baby tut mir sehr leid«, sagt sie und berührt Jen am Arm. »Das muss schrecklich gewesen sein.«
Jen starrt ihren Käse und ihre Cracker an.
»Ich war mir nicht sicher, ob ich es erwähnen soll«, legt Susanna eilig nach. »Aber meine Cousine hat das Gleiche durchgemacht und meint, das Schlimmste ist, dass die Leute so tun, als wäre nichts passiert. Sie sollten sich an das Baby erinnern, sagt sie. Sorry, wenn das nicht in Ordnung war.«
»Doch, doch«, sagt Jen. »Du bist nur die Erste, die ihn erwähnt, das ist alles.«
Stille breitet sich zwischen ihnen aus.
»Wie hieß er denn?«
»Jacob.«
»Schön.«
»Er war wirklich schön.« Jen spürt Susannas Hand an ihrer Schulter.
»Nicht mehr lange«, sagt sie und lächelt sanft. »Dann hältst du ihn wieder im Arm.«
Jen nimmt noch einen Schluck.
Zwei Frauen stürzen kreischend in die Küche. Sie sind ungefähr in Susannas Alter, jünger als Jen, was vielleicht die Ekstase angesichts von Käse und Wein erklärt. Susanna stellt ihr Emma und Donna vor, die sie entfernt von Feiern in den vergangenen Jahren wiedererkennt.
»Ich mag deine Frisur«, sagt Emma. »Sehr mutig!«
Jen berührt sich am Hals. »Oh, ich lasse sie wieder wachsen.«
»Die Ältesten würden über mich herfallen, wenn ich mir die Haare so schneiden würde! Wahrscheinlich würden sie mich für eine Lesbe halten!« Sie flüstert das Wort.
Dann ist die Rede davon, dass man früher gehen und in einer Bar noch Freunde treffen will, und als Susanna fragt, ob Jen sich anschließen mag, zuckt sie mit den Schultern. »Wenn du willst?«
Sie entschuldigen sich bei Lina, die abwinkt. »Ach, geht nur und habt Spaß!« Doch dann hält sie Jen am Arm zurück. »Du weißt schon, dass die alle so was wie zwanzig sind?«, flüstert sie ihr ins Ohr.
Hab ich eine Wahl?, will Jen schon antworten. Keiner deiner Freunde kann etwas mit mir anfangen. Sie macht sich los und läuft den anderen hinterher.
Jen spürt jedes ihrer fünfunddreißig Jahre, als sie den Pub betreten und die Männer begrüßen. Lina hatte recht – sie sind alle sehr jung. Jungs. Frauen können zwischen dem Ende der Teenagerjahre und Anfang dreißig alles sein, aber Männern sieht man das Alter an. Die picklige Haut und der Haaransatz sind mehr oder weniger genaue Hinweise.
Die Jungs nicken Jen desinteressiert zu, drehen sich wieder zu den Mädels um und vertiefen sich ins Gespräch.
Nach dem ersten Getränk fühlt Jen sich beschwipst. Dann fallen ihr der Prosecco und der Käseteller wieder ein, von dem sie sich nichts genommen hat. Bestimmt knurrt ihr Magen, allerdings ist es zu laut, als dass sie es hören würde.
»Los, bestellen wir Shots«, ruft sie, und die Jungs drehen sich gleich ein bisschen interessierter um.
»Meinst du wirklich?«, fragt Susanna überrascht.
Jen ist aufgekratzt, als sie die Blicke der anderen auf sich spürt. Sie haben sie eindeutig unterschätzt. Sie, die Neue in der Gruppe. Nervöse Energie pulsiert durch ihre Adern. »Tequila?«
»Go, Jen!«, ruft Donna und hebt ihr Glas.
»Für mich nicht«, sagt ein schlaksiger, großer Typ namens Simeon. »Ich muss morgen vortragen, da sollte ich heute halbwegs nüchtern bleiben.«
»Wir setzen uns alle in die erste Reihe und verdrehen besoffen die Augen!« Emma drückt seinen Arm.
Jen kommt mit sechs Tequilas und Limettenspalten vom Tresen zurück. Sie muss zweimal gehen und ein drittes Mal, um den Salzstreuer zu holen. Die anderen sind in angeregte Gespräche verwickelt. Sie reiht die Gläser an der Tischkante auf und hebt die Stimme, damit alle sie hören – »Leute? Tequila? Schon vergessen?« – , und dann zählen sie bis drei und huldigen dem Salz-Tequila-Limetten-Ritual. Als Susanna den Kopf schüttelt, greift Jen ein zweites Mal zu. Donna verpasst ihr einen solidarischen Knuff.
»Bäh«, sagt jemand, »ich vergesse jedes Mal, dass ich Tequila nicht mag.«
Jen ist angenehm wattig im Kopf, die scharfen Kanten sind abgerieben. Das ist angenehm, denkt sie, so soll es bleiben.
Sie bestellt eine weitere Runde auf Kreditkarte.
»Ich lasse mein Auto stehen und hole es morgen ab«, flüstert Susanna ihr ins Ohr. »Okay, wenn wir uns nachher alle ein Taxi teilen?«
Jen nickt und vergisst dabei, dass ihr eigener Wagen bei Lina steht. In ihrem Tequila-Nebel sieht Susanna noch besser aus als zuvor. Treib’s nicht zu weit, Jennifer, ruft sie sich zur Räson und leckt die letzten Tropfen Tequila aus ihrem Glas.
Wo es als Nächstes hingehen soll, müssen die anderen ohne sie abgesprochen haben, denn kaum dass sie sichs versieht, folgt sie ihnen hinaus an die kalte Herbstluft. Auf der Schwelle des altehrwürdigen Pubs stolpert sie. Irgendwer lacht.
Als sie über die Brücke laufen, bleibt sie stehen, um sich die Schuhe zuzubinden. »Wartet kurz«, ruft sie, aber ihre Stimme wird vom Verkehrslärm verschluckt. Autos brettern vorbei, die Lichter der Scheinwerfer verschwimmen. Als sie zu guter Letzt aufblickt, sind die anderen weg. Sie läuft schneller, erreicht das andere Ende der Brücke, als die anderen gerade die Treppe zu einer Bar hochgehen.
Jen stolpert über die erste Stufe, reißt die Hände hoch und fängt sich gerade noch rechtzeitig. Ein Stöhnen entringt sich ihrer Kehle. Die Drinks schwappen in ihrem leeren Magen.
»Hoch, Jennifer«, murmelt sie und greift nach dem Geländer. Dann steigt sie die Stufen nach oben.
»Ich glaube nicht«, sagt der Türsteher, als sie fast oben ist. »Sorry, Schätzchen, du bist zu betrunken.«
»Aber meine Freunde sind da drin.«
Er verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf.
»Was …« Sie rülpst in die hohle Hand. »Was mach ich denn jetzt?«
Sein Walkie-Talkie knistert, als er in Richtung des Taxistands zeigt. »Da.«
»Aber … meine Freunde. Die wissen dann nicht, wo ich bin.«
»Dann ruf sie an. Schreib eine Nachricht. Schon erstaunlich, was die Technik von heute möglich macht.«
»Ich weiß die Nummern doch gar nicht.«
»Dachte, es wären deine Freunde?«
Jen starrt auf ihr Handy hinab, als könnte sie Susannas Nummer auf dem Display heraufbeschwören. Ein kleineres Grüppchen schiebt sich an ihr vorbei und klopft dem Türsteher auf die Schulter, als er einen Schritt nach hinten macht, um sie einzulassen. Ihre Einsamkeit ist ohrenbetäubend.
Doch dann, als sie die Treppe wieder runtergeht, sieht sie Emma und Simeon oben auf dem Balkon. Er steht dicht neben ihr und hat seine Hand auf ihren unteren Rücken gelegt.
Jen muss mehrmals rufen, bis sie sie hören. Emma späht über das Balkongeländer und runzelt die Stirn, als müsste sie erst überlegen, wer die Frau dort unten ist.
»Ach, du bist das!«, ruft sie dann. »Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst!«
»Sie lassen mich nicht rein. Meinen, ich wäre zu betrunken.«
Simeon flüstert ihr etwas ins Ohr, und Emma nickt. Dann lachen sie beide und unterhalten sich weiter.
»Ähm … Hallo?«, ruft Jen nach oben.
»Ja?«
»Also … Könnten wir vielleicht alle zusammen woandershin gehen?«
Obwohl sie betrunken ist, weiß Jen, was Emmas Gesichtsausdruck zu bedeuten hat. Verachtung. Sie schluckt einen Schluchzer hinunter.
»Leider nicht«, sagt Emma gespielt mitfühlend. »Wir haben gerade erst unsere Drinks bestellt, und …«
»Da drüben sind Taxis«, ruft Simeon.
»Könntet ihr Susanna bitten, kurz rauszukommen?«
Emma nippt an ihrem Getränk. »Klar«, antwortet sie und schiebt Simeon nach drinnen. Jen setzt sich auf ein Mäuerchen und wartet.
Minuten verstreichen. Weder die kühle Nachtluft noch das Alleingelassenwerden hat sie ausgenüchtert. Andere Betrunkene ziehen vorüber. Sie alle haben einen Arm, an dem sie sich festhalten können.
Ich kann hier nicht bleiben, denkt sie. Jen traut ihrem benebelten Schädel nicht, kurz blitzt ein Bild vor ihr auf, wie sie rückwärts von der Mauer fällt und dann in irgendeine dunkle Ecke geschleift wird. Sie dreht sich zum Taxistand um, der hell erleuchtet ist und vor dem sich eine lange Schlange gebildet hat.
Ich bin gleich wieder nüchtern, denkt sie, stützt sich an der Wand ab und stellt sich leicht breitbeinig hin, um das Gleichgewicht zu halten. Doch eine Minute nach der anderen verstreicht, und noch immer dreht sich alles. Ihr betrunkener Kopf will nur noch schlafen, und sogar so benommen, wie sie ist, hat sie Panik, dass sie mutterseelenallein einfach umkippen könnte.
Nach mehreren Anläufen hat sie die Nummer gefunden. Es geht sofort jemand ran.
»Du musst mir helfen«, sagt Jen, und der Rest geht in Tränen unter.