Tags darauf wacht Jen in ihrem Zimmer auf. Oder vielmehr in dem, was mal ihr Zimmer war. Es dauert einen Augenblick, bis sie sich wieder an das Was, Wann und Warum erinnert, und dann blüht der Schmerz in ihrer Brust auf.
Sie streicht über den Baumwollschlafanzug, der Zelda gehört. Warum fühlt sich ihr Körper so sauber an? Bruchstücke der vergangenen Nacht fügen sich zusammen, und sie hat das Gefühl von Wasser auf Haut und von Zelda, die sie abtrocknet.
Unter der Tür wehen Geräusche hindurch. Das Klappern von Geschirr und Besteck. Jen stemmt sich hoch und tritt durch die Tür in das große Zimmer, in dem sich die Decke bis zu einem heiligen Punkt in der Höhe erstreckt. Dort fällt das Licht herein.
Zelda steht in der Küche und isst etwas aus einer Schüssel. Die Erinnerungen an vergangene Tage strömen auf sie ein. Joghurt mit Heidelbeeren, manchmal eine Handvoll Nüsse oder Kerne. Der Löffel kratzt über das Porzellan.
Jen erkennt Zeldas blassrosa Anzug aus der Verkleidungskammer wieder. Aufgestickte blaue und orangefarbene Blüten am Revers. Zelda hat sich die roten Haare auf dem Oberkopf locker zusammengezwirbelt, allerdings haben sich ein paar Strähnen gelöst. Sie sieht zugleich schick und leger aus. Ihre Fototasche steht an der Tür.
Erst als Zelda sich zu ihr umdreht, ertappt sie sich selbst dabei, wie sie starrt. Sie lächeln beide, und nach einem kurzen Moment des Schweigens fasst Zelda sich winselnd an die Wange.
»Immer noch nicht beim Zahnarzt gewesen?« Jen schüttelt den Kopf. »So erfährst du nie, was da los ist.«
»Ich weiß. Diesbezüglich sind wir uns anscheinend ähnlich.« Zelda stellt die Schüssel beiseite, beugt sich über die Arbeitsplatte und überfliegt ihren Zeitplan. »Irgendwas von deinen Freunden gehört?«
Jen macht ein paar Schritte und sieht sich um. Nichts hat sich verändert, trotzdem ist alles anders. »Meine Sachen …?«
Zelda nickt in Richtung Ofen. Dort hängen ihr Rock und ihr Oberteil am Trockengestell. Der Stoff fühlt sich warm an. Sie schnuppert daran. »Dann war mir doch nicht schlecht«, sagt sie und will die Erinnerung an die vergangene Nacht aus ihrem Gedächtnis tilgen.
Zelda dreht das Blatt Papier um. »Oh doch. Hast ordentlich gekotzt.«
Jen schnuppert erneut an ihren Sachen. »Aber die riechen sauber …?«
»Weil ich sie gewaschen habe.«
Jen sieht sie unverwandt an. Zelda besitzt keine Waschmaschine. Fast all ihre Kleidungsstücke sind so empfindlich, dass sie sie in der Küchenspüle per Hand waschen muss, mit spezieller Seife und Waschbrett. Jen drückt die Sachen an sich.
»Wo wohnst du eigentlich jetzt?«, will Zelda wissen.
Letzte Nacht, nachdem Zelda ihr ins Bett geholfen hatte, hat Jen ihr erzählt, dass man sie wiederaufgenommen hat. Sie hatte den Kopf aufs Kissen fallen lassen, Zelda im Türrahmen unverwandt angesehen und auf eine spöttische oder scharfzüngige Antwort gewartet. Doch Zelda blickte nur ausdruckslos drein, stand reglos da, und mit einem leisen Gute Nacht knipste sie das Licht aus. Die Tür ging zu, und das Zimmer war dunkel.
»Ich muss noch ein paar Monate in meiner Wohnung bleiben.« Jen legt sich die Kleidungsstücke über den Arm. »Dann … weiß auch nicht … ziehe ich vielleicht zu meinen Eltern. Traurig, oder?«
Zelda antwortet nicht gleich. Sie faltet das Blatt Papier mehrmals zusammen und schiebt es sich in die Jackentasche. Dann drückt sie das Fenster auf und zündet sich eine Zigarette an. »Zieh hier ein.«
Jen kann sie nicht ansehen. »Ich sollte nicht mal mit dir reden.«
Kopfschüttelnd nimmt Zelda einen Zug. »Dann sind diese Idioten, die dich betrunken allein gelassen haben … Die sind heilig, ja? Die sind besser als die gute Samariterin, die sofort zu Hilfe kam und dich gewaschen hat?«
»Zelda …«
»Diese Arschlöcher, die dich dort sitzen gelassen haben …« Sie muss tief durchatmen. »Das sind nicht deine Freunde, Jen.«
»Zelda, du kennst die Regeln.«
»Regeln?«
Jen kann ihre Freundin noch immer nicht ansehen. Das hier haben sie doch schon besprochen, und sie weiß nur zu gut, wie es ausgehen wird. Sie will den Zorn nicht, trotzdem ist es tröstlich zu wissen, dass sie hier widersprechen kann. Sie muss an ihr Elternhaus denken, an den Saal, an Linas Haus – an all die Orte, an denen sie sich benimmt. Bei Zelda darf sie Widerworte geben, und trotzdem ist hinterher alles in Ordnung.
»Ich habe all das nicht ertragen für nichts und wieder nichts«, erklärt sie. »Diesmal mache ich es nicht wieder kaputt.«
»Indem du mich Teil deines Lebens sein lässt, meinst du.«
Jen macht einen Schritt auf sie zu. »Komm zurück in die Wahrheit, Zelda. Ich kann meine Beziehung zu Gott nicht aufs Spiel setzen. Nur indem ich ihm zu Diensten bin, kann ich eines Tages …«
»Die Wahrheit ?« Zelda donnert die Faust auf die Arbeitsplatte. »Hast du den Ältesten etwa die Wahrheit gesagt? Als sie dich vorgeladen haben, haben sie dich doch bestimmt gefragt, ob du die Bluttransfusion bereust. Und was hast du da geantwortet?«
Jen sieht Zeldas Zigarette auf dem Weg zu deren Lippen zittern. »Ja . Ich habe geantwortet, dass ich es bereue, mittels Blut mein Leben verlängert zu haben.«
Zelda schlägt die Hand vor den Mund. Sie schüttelt den Kopf, und rote Strähnen fallen ihr über die Schulter. Sie wissen beide, was das heißt.
»Dann glaubst du das wirklich?«
Jen presst sich immer noch ihre Kleidung an die Brust, allerdings ist die Wärme verflogen. »Für welches Leben hätte ich mich denn entscheiden sollen? Für eines, in dem meine Familie mich behandelt, als wäre ich tot? In dem ich zu nichts anderem imstande bin, als Teilzeit in einem Laden zu stehen?«
»Aber du könntest kreativ arbeiten, Jen. Die Leute würden gutes Geld für deine Sachen bezahlen.«
Jen sieht auf ihre Hände hinab. »Das ist nur kalter Ton. Der hat keinen Herzschlag.«
Zeldas Blick brennt sich durch ihre Haut und fährt die Wunden entlang, die nie zu heilen scheinen.
»Nur weil man sich wünscht, etwas möge wahr sein«, sagt Zelda leise, aber mit Schärfe, »heißt das noch lange nicht, dass es auch wahr ist.«
In Jen flammt Wut auf. »Hast du je ein totes Kind im Arm gehalten? Und deinen eigenen Körper gehasst, weil du unfähig warst, es zu beschützen?«
Zelda drückt ihre Zigarette aus. Sie macht ein paar Schritte, legt die Arme um Jen, drückt sie an sich, als Jen von Schluchzern geschüttelt wird, und hält sie weiter fest, als die sich von ihr losmachen will. Sie wissen beide, was diese Geste bedeutet: Du kannst mich von dir wegschieben, aber ich bin immer noch da. Dein Schmerz ist hier willkommen.
Jen riecht den Zitrusduft an Zeldas Hals. Es ist der Duft des Frühlings, des Hochsommers, der Möglichkeiten, des Lebens. Und es ist noch etwas: das Zuschlagen einer Tür, die sie verzweifelt aufhalten wollte. Zeldas Berührung beruhigt und wühlt sie auf, und ihre Schluchzer gelten nicht allein Jacob. »Du verstehst das nicht«, flüstert sie.
»Ich weiß.«
Nach einer Weile lassen sie einander los und weichen wortlos voneinander zurück.
»Ich mache uns Frühstück«, sagt Zelda. »Immerhin die wichtigste Mahlzeit des Tages.«
»Aber du musst doch irgendwohin?« Jen wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Du weißt, dass ich bei Hochzeiten immer viel zu früh da bin. Ich hab noch Zeit. Setz dich.«
Jen setzt sich, während Zelda in der Küche hantiert. Jen sieht sich um, mustert alles, macht Inventur. Die bestickten Tücher an den Wänden, die toten Blumen in ihren Vasen, das Chaos aus Farben und Weiß. Den Verlust all dessen betrauert sie schon jetzt.
Über Rührei und Toast plaudern sie weiter. Über ihre Teenagerjahre, in denen sie im Park Hooch tranken und sich aus den Fenstern von Jungs lehnten und mitten in der Nacht Wonderwall grölten. Sie besiegeln das Ende ihrer gemeinsamen Zeit mit schönen statt schmerzhaften Themen. Für diesen kurzen Moment gilt nur das Hier und Jetzt.
»Ich wünschte mir, es gäbe eine Möglichkeit …« Jen verstummt und sieht auf ihren leeren Teller hinab.
Zelda, die mit Berührungen immer schon großzügig ist, beugt sich über den Tisch und drückt Jens Hand. Sie hebt an, etwas zu sagen, und hält inne. Sie wissen beide, dass ihre Wege sich hier trennen.
Und dann sagt Zelda doch noch etwas, sieht Jen dabei aber nicht an. Ihr Stuhl schrammt über die Dielen, und das Geräusch hallt von den Dachsparren wider. »Lass das Geschirr einfach stehen. Wenn du nicht mehr da sein solltest, schließ ab und leg den Schlüssel ins übliche Versteck, ja? Du weißt schon.« Es klingt beiläufig, als wäre dies ein normaler Morgen, und Jen käme wieder zurück.
Zelda geht zur Tür, nimmt die Fototasche hoch und macht sich auf den Weg.
Nach einer Weile steht Jen auf und spült ab, ehe sie sich anzieht. Sie ruft sich ein Taxi, schreibt ZAHNARZT auf einen aussortierten Briefumschlag und legt ihn auf den Esstisch. Sie klaubt ihre Sachen zusammen. Ein letzter Blick.
Auf einem Beistelltischchen liegen wild durcheinander Schwarz-Weiß-Fotos. Auf dem hochglänzenden Fotopapier ist jede Einzelheit der Blumen zu sehen. Der Hintergrund im Schatten, die toten Blüten im Licht.
»Manche möchten ein Foto«, sagt die Hebamme. »Sie finden das tröstlich. Wäre das auch etwas für Sie?«
»Ähm …« Jen wird mulmig, und sie muss den Kopf aufs Kissen legen. »Ich bin mir nicht sicher … Was machen denn die meisten?«
Pete schüttelt den Kopf. »Ich will kein Foto.«
Die Hebamme – die ihr den Rücken gestreichelt hat, die mit dem freundlichen, älteren Gesicht – lächelt Pete mitfühlend an, dreht sich dann aber wieder zu Jen um. »Es gibt da keine Regel, meine Liebe. Jeder ist anders. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Sondern nur das, womit Sie sich wohlfühlen.«
Jens erster Impuls ist, Ja zu sagen. Ein Foto könnte hilfreich sein, es könnte diesen Tag irgendwann in der Rückschau besser erklären. Aber in ihrer Handtasche nach ihrem Handy zu kramen, die Pushnachrichten auf dem Display zu sehen, die Kamera auf Jacob zu richten und das Fake-Klicken zu hören, kommt ihr geschmacklos, sogar abstoßend vor.
In ihrem Sichtfeld schweben schwarze Flecken.
Jen blickt ein letztes Mal hinab und weiß, dass sie kein Foto braucht. »Sie müssen ihn mir jetzt abnehmen, solange er sich nach meiner Körperwärme anfühlt. Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass er kalt wird.« Sie presst die Lippen auf seine Stirn und spürt den Knochen unter seiner Haut.
Berührung ist die einzige Erinnerung, die sie braucht.
Jen sieht die Fotos an, die Blüten, nimmt eines hoch und starrt es an. Endlich sieht sie, was Zelda gemeint hat.
Wenn wir sie tot vor uns sehen, stellen wir sie uns sofort lebendig vor. Wir brauchen den Kontrast, weil wir das Leben aus dem Blick verlieren – bis wir plötzlich mit dem Gegenteil konfrontiert werden. Indem wir einen Blick auf den Tod erhaschen, wünschen wir uns, dass die Blumen wieder neu aufblühen.
Sie lässt das Bild fallen.
Draußen verriegelt sie die Tür und schiebt den Schlüssel unter den angestoßenen Terrakottatopf. Sie geht an den Rosen vorbei, deren Blütenblätter überall verstreut liegen. Bald ist Winter.
Jen geht ohne einen Blick zurück den Pfad entlang, dann in Richtung des Wäldchens.
Jacob.
Sie wird ihn wieder im Arm halten.
Jacob.
Ich komme, mein Engel. Ich komme zu dir.