Zeitreise

Zelda

Sie entdeckt ihn zuerst.

Mit einem Kaffeebecher in der Hand und einer abgewetzten Tasche über der Schulter kommt er durch den Haupteingang des Gebäudes. Zelda ruft nicht nach ihm. Sie sitzt auf der Steinbank gegenüber und sieht zu, wie er sich die blonden Strähnen aus den Augen schiebt, genau wie er es während ihres Dates im Frühjahr gemacht hat. Dies ist ein Experiment – an diesem warmen Herbsttag hier zu sitzen. Sie will wissen, was sein Anblick in ihr auslöst.

Er entdeckt sie, als er die Straße überquert, und er kleckert Kaffee auf seine Jeans. Sein zerknittertes Hemd, das Stück Haut, das der Kragen entblößt – irgendetwas daran löst einen Kitzel in ihr aus.

Er reibt über die Kaffeeflecken. Und dann steht er schließlich vor ihr. »Du hast meine Spur aus Brotkrumen gefunden.«

Zelda lächelt. Sie kennt keine Frau in ihrem Alter, die nicht Meisterin im Spurenlesen wäre. »Du hast mal erwähnt, dass du etwas mit Wissenschaft machst.« Sie nickt zu dem Klinkergebäude hinter ihm. »Wissenschaft.«

»Erneuerbare Energien«, sagt er, dreht sich kurz nach hinten und dann wieder zu ihr um. »Chemie.«

»Chemie. Richtig.« Zelda sieht zu ihm hoch. Ihr ist klar, dass er sie gerade aus dem ungünstigsten Blickwinkel sieht – ihre linke Gesichtshälfte sieht besser aus als die rechte. Sie schiebt den Gedanken beiseite. »Und was machst du da drin?«

Ein Schauder läuft ihr am Rückgrat entlang, als er ihre Hand nimmt. Seine Hemdsärmel sind hochgekrempelt und entblößen blonde Härchen, in denen das Licht sich fängt. »Komm«, sagt er. »Ich zeige es dir.«

In der vorangegangen Woche hatte sie ihn angerufen, und er ging beim zweiten Klingeln ran. Er sei mit Kumpels unterwegs, meinte er, und als sie anbot, später noch mal anzurufen, fragte er: »Soll das ein Witz sein? Ich hab weiß der Himmel wie viele Monate darauf gewartet, dass du dich bei mir meldest. Du legst jetzt nicht wieder auf!« Sie lachte, und dann plauderten sie, Minuten wurden zu Stunden, und von seinen Freunden war nicht mehr die Rede.

Ich will weder heiraten noch Kinder kriegen, sagte sie fast gleich zu Beginn. Okay, gut, antwortete er, weil ich dich nämlich gerade erst zwei Mal getroffen habe, da denke ich auch eher nicht darüber nach. Sie hielt inne und setzte nach: Ich meine es ernst. Und ganz ruhig erwiderte er: In Ordnung.

Sie war überrascht, wie leicht sie sich mit ihm unterhalten konnte und wie sehr sie das Gefühl hatte, ganz sie selbst zu sein. Mit Matt hatte sie sich immer gemäß seinen Bedürfnissen verhalten und sich ein traditionelles Leben mit ihm ausgemalt, das sie insgeheim gar nicht wirklich wollte. Mit Will jedoch konnte sie scherzen und lustig sein, statt die Stimme zu einem verführerischen Wispern zu senken, und sie musste auch nicht ständig in den Spiegel gucken, um nachzusehen, wie sie gerade wirkte.

Aber vielleicht heißt das ja, dass wir Freunde sind, dachte sie, nicht zwei Menschen, die sich ineinander verlieben. Wenn ich nicht versuche, ihn zu beeindrucken, wenn es zu Anfang kein Feuerwerk ist – wie wird es da schon weitergehen? Sie ist ein fünfunddreißigjähriges Kind, ihre Erfahrungen mit der Liebe sind eingeschränkt und einseitig.

Nachdem sie schon zwei Stunden lang telefoniert hatten, erzählte sie ihm von ihrer Vergangenheit, von der sie Matt nie erzählt hatte. Er hörte ihr zu. Er unterbrach sie kein einziges Mal. Und als sie fertig war, fragte er, ob er ehrlich mit ihr sein solle.

Geh zur Polizei, sagte er. Und in Therapie. Hol dir Hilfe.

*

Die Windräder sind riesig, ihre langen Gliedmaßen stehen im Kontrast zu der flachen Sumpflandschaft. Nicht ein Hügel bis zum Horizont. Eine schnurgerade Linie trennt das Land vom Himmel, davor nur vereinzelte Häuser. Gebannt von ihrem Rhythmus starrt Zelda sie unverwandt an.

»Und die baust du?«

Mit den Händen in den Hosentaschen lehnt Will am Auto. »Mein Job ist auszutüfteln, wie wir die Energie speichern können, die sie produzieren.« Als sie die Stirn runzelt, fügt er hinzu: »Das Äußere ist nicht alles. Irgendwer muss sich auch um die unsichtbaren Teile kümmern.«

Gemeinsam betrachten sie die Windräder. Es ist still – nur die Rotoren schneiden durch die Luft und klingen wie ein weit entfernter Sturm.

»Wo warst du die ganze Zeit?«

Zelda stellt ihren Kragen gegen die Brise hoch und schiebt die Hände in die Taschen. »Glaubst du an Zeitreisen?«

»Ich bin Naturwissenschaftler.« Er verpasst ihr einen freundschaftlichen Knuff. »Alles ist möglich.«

Unter seiner Berührung verändern sich ihre Gefühle. »Na ja, ich hab’s mal mit einer Zeitreise versucht.«

»Vorwärts oder rückwärts?«

»Wenn Zeitreisen möglich wären, glaube ich kaum, dass Leute vorwärts reisen würden.«

»Wo würden sie denn hinwollen?«

»Zu ihrem Glück. Oder zu der Zeit, die sich am ehesten so angefühlt hat.«

Schweigend schlägt er den Blick nieder. »Aber du hast deins nicht wiedergefunden?«

»Wäre ich ansonsten hier?«

Er grinst. »Dann bin ich froh, dass du es lebend zurückgeschafft hast. Das gelingt wahrscheinlich nicht allen.«

Stimmt, denkt sie. So muss man es sehen. Sie lebt noch. All die Jahre, in denen sie versucht hat, die einzig echte Beziehung nachzuahmen, die sie je hatte, jeden neuen Mann in ihrem Leben aufs Körperliche abzuklopfen und dies zum heiligen Gral zu machen …

Der Wind wird stärker, und Zelda schlingt sich die Arme um den Leib. »Warst du je verliebt?«

»Ich bin vierundzwanzig, nicht zwölf.«

Zelda stellt sich so dicht neben ihn, dass sich ihre Arme berühren. »Ich hab mir so gewünscht, dass es das gewesen wäre …«

»Wenn es der Typ aus dem Pizza Hut war, dann …« Will schüttelt in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Mit dem hätte ich mir dich nie vorstellen können.«

»Waren wir wirklich so schlimm?«

Er starrt sie leicht stirnrunzelnd an. »Du bist ziemlich direkt, Zelda. Da solltest du mit jemandem zusammen sein, der das zu schätzen weiß.«

Zelda nimmt seine Hand und mustert seine Finger, dann sein Gesicht. Dieser Mann war noch ein kleiner Junge, als ihr all jene Sachen passiert sind. Die Tränen und die Hoffnungen und die zig Male Nie wieder. Trotzdem hat er etwas Reifes an sich. Sie ist gut zehn Jahre älter, allerdings nicht hinsichtlich der Dinge, die wirklich zählen.

»Ich will ehrlich sein. Diese Zeit, die Leute, diese Welt …« Sie schüttelt den Kopf. »Die sind immer noch nicht fertig mit mir. Ich schiebe es von mir weg, aber es kommt immer wieder.«

»Siehst du, und genau da liegst du verkehrt. Du musst alldem Raum geben. Gib alldem Raum, und es wird verschwinden. Es wird sich totlaufen, ohne dass du es überhaupt merkst.«

Zelda weiß noch, wie Matt auf Will reagiert hat. Ich hätte ihm eine verpassen sollen, hat er gesagt und finster dreingeblickt. Und sie musste lachen, teils weil er so überreagierte, aber insgeheim auch, weil sie sich freute, dass er eifersüchtig war. Will sieht sie verwirrt an, und ihr dämmert, dass sie gerade wieder lacht.

»Sorry.« Sie berührt ihn am Ellenbogen. »Ich wusste nicht, dass ein kühler, rationaler Kopf so sexy sein kann.«

Will streckt sich nach ihr aus, dreht sie zu sich um und schiebt sich zwischen sie und den Wind. Als ihre Nasen sich berühren, entspannt sich Zeldas Körper. Sie lässt den Gedanken an Matt noch kurz zu, doch dann kommt Will ihr in die Quere, mit seinen Lippen, seinem warmen Atem.

Sie lässt ihn gewähren.