Kreide

Jen

Jen legt Kleidungsstücke zusammen und beseitigt das schlimmste Durcheinander nach dem ersten Tag des Schlussverkaufs. Sie bewegt sich schleppend. Es ist schon das achte Mal an diesem Vormittag, dass sie die T-Shirts neu stapelt.

In ihren Augenwinkeln sieht sie ein Licht aufblitzen, und sie blickt hoch zu der Überwachungskamera, die direkt auf sie gerichtet ist. Die sie beobachtet.

»Die meisten Leute verstehen sich selbst als Hauptdarsteller in ihrem Leben.«

Es ist der Monat, bevor Jen auszieht. Sie liegen im langen Gras hinter dem Blechhaus, lauschen den Bienen und genießen die Hitze. Wenn sie sich unterhalten, springt Zelda oft unvermittelt vom Sofa oder Stuhl und zieht Jen nach draußen. Gespräche klingen in Farbe viel besser, sagt sie.

Zelda dreht ihr Gesicht in Jens Richtung und wartet auf die Fortsetzung.

»Ich nicht«, sagt Jen nach einer Weile. Sie starrt eine vereinzelte Wolke am Himmel an. »Bevor ich mir ein Kleid kaufe, stelle ich mir vor, wie ich in diesem Kleid in der Küche stehe. Oder mich über den Tisch beuge, während die Kinder ihre Hausaufgaben machen. Aber ich bin nie im Kopf dieser Jen – ich stehe abseits, als wäre da eine Kamera, die alles aufzeichnet, und sehe einer anderen Version von mir zu. Einer ruhigen, ruhiggestellten Jen, die genau weiß, dass sie beobachtet wird. Einer guten Jen.«

Zelda schweigt. Sie sieht hoch zum Himmel, hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Die Luft ist angefüllt mit Sommeraromen, mit Lavendel und Portugiesischem Kirschlorbeer.

»Und es sind nicht nur Kleider«, fährt Jen fort. »Das passiert mir bei jeder einzelnen Entscheidung. Ich frage mich jedes Mal, was diese Jen machen würde. Ich sehe ihr zu, wie sie hin und her geht … und diese Person bin nie wirklich ich.«

»Frauen dürfen nie einfach nur sein «, sagt Zelda.

Jen setzt sich in den Schneidersitz. »Ich bin nie im Mittelpunkt. Immer spielt jemand anders die Hauptrolle. Ich bin nur Komparsin. Sogar auf meiner eigenen Bühne.«

Lange herrscht Stille. Zelda streckt sich nach Jen aus, die unter der Berührung zusammenzuckt. Sie sieht flüchtig auf Zeldas Hand hinab, die ihre Haut streicheln und sie trösten will. Doch Zeldas Berührung ist Balsam und Gift gleichermaßen. Jen zieht ihre Hand zurück.

»Jen«, sagt Zelda leise. »Willst du nicht diejenige sein, die du bist? Nicht irgendeine idealisierte Version, sondern du selbst

Jen sieht sie an. »Du glaubst, das wäre so einfach?«

»Ich verstehe nicht, wie es so schlimm sein kann, jemanden zu lieben.«

Jen atmet hörbar aus. »Nimm Eva, die den Apfel gegessen hat. Die nur mal kosten wollte – um den Preis der Ewigkeit.« Sie schüttelt den Kopf. »Meine Schuldgefühle sind zu stark. Das ist es nicht wert.«

»Aber du suchst etwas, das du lieben kannst«, sagt Zelda nachdrücklich. »Ich kenne dich, Jen. Du brauchst das so sehr. Ach, Scheiße … Brauchen wir das nicht alle?«

Jen sieht ihre Freundin an, diese Frau, die sie besser kennt als jeder andere. Sie wünschte sich, sie könnte sie nah bei sich behalten.

»Die Version von mir, die ich gerade sehe, ist eine, deren Arme leer sind, obwohl sie voll sein sollten.«

Sie muss wieder ans Krankenhaus denken, wo sie ihr Jacob weggenommen hatten, wo sich ihre Augen aus ihrem Kopf gelöst hatten und zur Decke emporgeschwebt waren. Die Erinnerung ist glasklar. Sie musste hin zu ihm. Zum ersten Mal überhaupt hörte sie ihre eigene innere Stimme und blickte auf. Sie war zum Leben erwacht und wäre gleichzeitig fast gestorben.

Jen schließt die Augen. »Es gibt nur einen Menschen, den ich lieben darf. Und zu ihm muss ich zurück.«

Zelda sagt nichts dazu. Sie nimmt Jens Hand und umschließt sie mit beiden Händen. Diesmal ist ihr Griff fest. Diesmal lässt Jen sie gewähren.

Die Türglocke geht. Es ist der Paketbote. Die jüngeren Frauen an der Kasse stupsen einander an. Sie sind alle in ihn verschossen und kommen nicht darüber hinweg, dass seine Aufmerksamkeit immer nur Jen gilt. Und es stimmt, mit seinen Paketen kommt er immer zu ihr, streift ihre Finger, wenn sie eine Lieferung entgegennimmt, und zögert das Ende der Lieferung mit Small Talk hinaus.

»Alles gut?«, fragt er und sieht sie von Kopf bis Fuß an. Er will ihr schon ein Paket in die Hand drücken, als Jen den Kopf schüttelt und in Richtung Kasse nickt.

Sein Lächeln verblasst leicht, als er auf die Mädchen zugeht, die sich um die beste Position drängeln.

Jen faltet weiter T-Shirts zusammen. Sie sieht ihm hinterher. Zugegeben, er sieht echt gut aus, hat die Art Gesicht, bei dem Zelda sie auf der Straße mit dem Ellenbogen anstoßen würde. Sie sieht seine Attraktivität, erkennt sie an. Könnte sie … Jen versucht, sich seine Hände auf ihrer Haut vorzustellen. Seine Lippen auf ihren. Sie hofft nicht mal, dass sie dabei ein Prickeln spürt, sondern einfach nur, dass sich das flaue Gefühl in ihrem Bauch wieder verzieht.

Sie schließt die Augen. Dieses Gefühl wird sie im Paradies nicht mehr haben. Eines Tages wird sie aufwachen, und alles ist wie neugeboren. Der steinigere Weg ist der richtige. Gott stellt sie auf die Probe, und Jacob wird ihr Lohn für alles sein.

Jen nimmt das nächste T-Shirt hoch und späht zur Uhr. Noch drei Stunden. Wie in jeder Schicht fleht sie die Sekunden an zu verstreichen. Wieder einen Tag geschafft, denkt sie, wenn sie abends ins Bett geht.

An der Zellenwand in ihrem Innern zählt sie mit Kreide die Tage.