Jeden Morgen verlässt Isobel das weiße Häuschen mit den grünen Fensterläden und nimmt den gepflasterten Weg oberhalb der Steilküste. Es gibt kürzere Wege zu dem Café, aber sie mag den Ausblick. Die Hitze, die von den Pflastersteinen abstrahlt, die alten gefliesten Mäuerchen in Rosa, Blau, Grün und Gold, die Kakteen und Palmen, die dort gepflanzt wurden, um die schwarze Eintönigkeit des Vulkangesteins zu durchbrechen.
Dies ist ihr zwölfter Morgen. Wie jedes Mal nickt sie den Frauen auf ihren weißen Plastikstühlen vor ihren Haustüren zu. Die Gesichter sind gerötet und wettergegerbt, die Sommerkleider ausgebleicht. Perlenvorhänge oder Plastikstreifen, die in der Brise rascheln, versperren den Blick durch die offenen Haustüren. Die Frauen erwidern ihren Gruß. Isobels Sandalen scheinen sie zu amüsieren. Isobel lächelt freundlich und stellt sich vor, hier zu leben, stehen zu bleiben und mit diesen Frauen in deren Sprache zu plaudern: wie es nur so aus ihr heraussprudeln und sie sich leidenschaftlich über den Preis für Fisch oder den nicht enden wollenden Touristenstrom aufregen würde. In der Schule hat man ihr immer bescheinigt, sie hätte ein Ohr für Sprachen. Warum hat sie nichts aus ihrem Talent gemacht?
Die Häuser entlang dieses Küstenabschnitts sind flach und kantig mit bröseligen Wänden. Strom- und Telefonleitungen hängen zwischen den Gebäuden und zerschneiden den Ausblick. Ein Stück weiter, wo die Wände pink-, gold- und terrakottafarben sind, posieren die Touristen für Fotos. Sie selbst kann sich nur den entfernteren Teil leisten, wo es sich eher nach ausgebombtem Beirut anfühlt. So beschreibt sie es – oder würde es so beschreiben, wenn sie jemanden hätte, dem sie es beschreiben könnte.
Aber Postkartenidylle will sie auch gar nicht, redet sie sich ein. Man stelle sich den Comer See oder die Provence vor – all diese Aussichtspunkte, üppiges Grün und ein Einzelzimmer in einem netten Hotel. Nein, das ist nichts für sie.
Das Café heißt Bloom. Es ist eingerichtet wie ein Achtzigerjahre-Boudoir, mit Marmorboden, pinken Tapeten und limettengrünen Sitzpolstern. Isobel steuert wie immer direkt die Bar an, um ihr übliches Getränk zu bestellen.
Als sie sich setzt, bleibt ihr Blick am Bloom -Schriftzug auf der Speisekarte hängen, und unwillkürlich steht ihr die einstige Schwester in ihrem fantastischen bestickten Kleid vor Augen.
»Einmal Caffè Latte, wie immer?«, sagt die Bedienung.
In ihrem Kopf unterhält Isobel sich mit dem Mädchen. Sie schätzt sie auf sechzehn. Isobel meint, den Akzent in Yorkshire zu verorten, doch in ihren imaginären Unterhaltungen spricht sie ihre Muttersprache, Spanisch. Und sie heißt Esmeralda statt Paige. Sie kommentiert Isobels Vorliebe für das Café und staunt, weil Isobel Backwaren essen und trotzdem so eine Figur haben kann. Aber mit Backwaren wird Isobel spielend leicht fertig.
»Ach Esmeralda«, sagt sie dann, »ich war vor Jahren schon einmal hier. Mein Sohn Patrick war damals ein paar Jährchen jünger als du. Wir wohnten in dem Hotel auf dem Hügel – in dem, das aussieht wie ein Kreuzfahrtschiff. Dort saßen wir auf unserem Balkon – wir hatten eine Zweizimmersuite – und sahen uns den Sonnenuntergang an. Und in der Ferne jenseits der Pools mit den Sonnenanbetern entdeckte ich ein flackerndes pinkes Neonschild. Mit dem Schriftzug Bloom. Genau – es war dieses Café. Ich saß auf dem Balkon und fragte mich, wie es hier wohl wäre. Ja, ich hatte einen Sohn. Willst du ein Foto von ihm sehen?«
Sie hat vergessen, Cassandra zu erwähnen. Die in jener Woche auf Teneriffa immer noch ihr kleines Mädchen war, bis Isobel eines Morgens bei den Sonnenliegen einen Mann mittleren Alters dabei ertappte, wie er sein Buch sinken ließ und ihrer fünfzehnjährigen Tochter hinterhergaffte, als diese aufstand und in den Pool stieg. Als Cassandra an die Wasseroberfläche kam und sich auf dem Rücken treiben ließ, starrte der Mann immer noch in ihre Richtung. Und als sie aus dem Pool stieg und ihr das Salzwasser aus den Haaren troff.
Im selben Moment betrachtete Isobel sie wie mit neuen Augen. Dieser Hauch eines wissenden Blicks, als ihre Tochter zu dem Mann sah. Isobel war sich sicher, dass sie dabei sogar die Beine ein bisschen weiter auseinandernahm.
Reiß dir die Augen aus, fauchte sie dem Mann wortlos entgegen und warf ihrer Tochter ein Handtuch zu.
Sie geht hügelaufwärts zum Hotel, als eine Nachricht von Victor kommt.
Wie geht es dir? Wann bist du zurück? Ohne dich ist es hier nicht dasselbe. X
Sie schiebt das Handy zurück in ihre Handtasche.
Alles fing an, als sie das Windspiel wiederfand.
Patrick hatte am Tag, ehe der Verkaufsvertrag unterschrieben werden sollte, die letzten Sachen vorbeigebracht. Sobald er wieder gegangen war, machte Isobel einige Kisten auf und sofort wieder zu. Es war Jahre her, dass sie diese Sachen zuletzt in der Hand gehabt hatte, und sie war wunderbar ohne sie klargekommen. An Plunder hatte sie keinen Bedarf.
Sie fing an, die Kisten an der Tür aufzureihen, als ein vertrautes Geräusch aus einer der Schachteln sie innehalten ließ. Sie zog den Deckel auf und nahm ein kleines Windspiel heraus – perlmuttfarbene Capiz-Muschelscheiben, die klimperten. Sie hielt es ins Licht.
»Sieht dir gar nicht ähnlich«, hatte Steven gesagt, als sie in dem Souvenirladen auf Teneriffa danach gegriffen hatte.
Isobel wartete an der Kasse darauf, dass er bezahlte, und entgegnete bloß: »Ist doch eine schöne Erinnerung. Vielleicht kommen wir nie wieder hierher.«
Am Ende war es Steven, der sie nötigte, das Windspiel runterzunehmen. Das Geräusch mache ihn irre, sagte er. Wie tippelnde Tauben.
Sie nahm einen Haken aus der Schublade und drehte ihn in die Küchendecke. Die Fenster standen offen, damit Luft hereinkam. Sie lehnte mit verschränkten Armen an der Küchenanrichte und spitzte die Ohren. Kommt schon, Tauben, sagte sie, macht schön Krach.
Zwei Tage später starb die Katze.
Drei Tage später war der Hausverkauf unter Dach und Fach. Sie war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, als die Anwältin anrief, um ihr mitzuteilen, dass die Verkaufssumme eingegangen sei. Isobel öffnete nebenbei Post. Schob den Finger unter die Lasche des ersten Umschlags, während die Anwältin weiterredete.
Sie ließ den Brief zu Boden fallen. Da stand es, schwarz auf weiß, ohne jede Graustufe dazwischen.
Geschieden.
In der darauffolgenden Woche flog sie nach Teneriffa.
Das Tor zu der Anlage ist zwar geschlossen, aber von ihrem Standpunkt aus hat Isobel einen unverstellten Blick auf die Balkone. In den Glasbalustraden spiegelt sich das Sonnenlicht, und hier und da kann sie dahinter eine Frau im Bikini oder nasse Badesachen auf einer Stuhllehne erahnen. Isobel lehnt sich gegen die aufgeheizte Vulkansteinmauer entlang der Grundstücksgrenze und spürt, wie die Sonne ihr die Waden versengt.
Sechzehn Jahre zuvor war sie jeden Morgen früh aufgewacht, allerdings nicht von der Sonne. Sie war aufgewacht, um die Frauen mit ihren Schrubbern zu sehen. Während der Bademeister die Schutzhüllen über den Sonnenschirmen entfernte und ordentlich zusammenlegte, machten die Frauen sich an die Arbeit. Schweigend bewegten sie sich um den Pool herum und wischten die Spuren des vorigen Tages auf. Isobel genoss es, ihnen zuzusehen. Gute Arbeit , hätte sie gern gerufen, oder hin und wieder auch: Sie haben da was übersehen.
Unten am Pool beobachtete Steven die Frauen durch die Sonnenbrille. Einige Tage später tauchte ein japanisches Pärchen im Hotel auf und entschied sich für die Liegen neben ihm. Sie hatte mal gehört, wie er ein paar Freunden erzählte, dass er auf asiatische Frauen stehe. Das war auf einer ihrer Partys, als die Ehemänner grillten, während die Frauen in der Küche beisammenstanden. Nach ein paar Bieren schwenkte Steven seine Grillgabel und erzählte, er habe ein Faible für Japanerinnen – oder meinetwegen auch Chinesinnen. Da sei er nicht wählerisch. Er nehme sie, wie sie kämen. Die Männer hatten gelacht.
Stevens Blick folgte der Frau, wann immer sie an seinem Liegestuhl vorbeiging. Sein Kopf bewegte sich dabei kaum. Doch Isobel, die mit ihrem Buch kerzengerade neben ihm saß, entging nicht die geringste Bewegung. Sie starrte Steven an, und ihr Blick blieb an der Schweißpfütze hängen, die sich in seinem Nabel gebildet hatte.
Auf dem Rückweg betritt Isobel den Inselladen. Sie geht an den aufblasbaren Strandutensilien und dem Touristenschrott vorbei und sucht weiter hinten bei den Lebensmitteln ein paar Sachen zusammen, die sie zu Abend essen will. Lebensmittel sind teuer auf Teneriffa, denkt sie und greift zu einer Packung Nudeln. Fliegen schwirren über dem Obst. Sie nimmt sich eine eingeschweißte Packung Tomaten.
Die Kassiererin redet auf jemanden ein, der Zigaretten kauft. Isobel bleibt stehen und lauscht, wie die Wörter ineinanderfließen. Wo eines aufhört und das nächste beginnt, kann sie nicht erkennen. Sie leert ihren Einkaufskorb auf das Kassenband und bezahlt, so schnell sie kann.
Am Abend sieht sie von ihrem schäbigen Balkon aus dem Sonnenuntergang zu. Musik und Gelächter wehen von den Touristenburgen zu ihr her. Isobel isst ihre Nudeln und trinkt eine Flasche Wein.
Bislang hat sie noch auf keine Nachricht reagiert. Zwar hat sie sich hin und wieder in ihren Social-Media-Account eingeloggt, einfach nur, um wem auch immer, der dort nachsehen will, zu signalisieren, dass sie noch lebt. Doch ansonsten war sie auf sich gestellt. Du schaffst das, Isobel, redet sie sich gut zu. Du kommst allein klar.
Steven sah sich nie mit ihr den Sonnenuntergang an. Scheißmücken, sagte er nur, klatschte sich auf den Arm und verschwand nach drinnen. Wie allein sie schon damals war, trotz Goldring am Finger.
Die Sonne taucht ins Meer ein und setzt den Himmel in Brand.
Isobel sitzt da, lässt sich die Haut vom Wind kühlen und denkt an den Tag zurück, als sie erstmals auf einem Motorrad saß und die Arme um seine Hüften geschlungen hatte.
Manche Menschen sind bei einem, selbst wenn sie nicht da sind.