Kintsugi

Isobel

Tags darauf kehrt Isobel vom Café zurück, blickt auf, und Victor steht vor ihrer Tür. Er kommt ihr entgegen.

Sie lässt ihre Tasche fallen.

»Aber woher wusstest du, wo ich hinwollte?«, fragt sie, als er vor ihr steht. »Und wo ich wohnen würde?«

Er hat die Hände in die Taschen geschoben, und sein Lächeln bringt etwas in ihr zum Lodern.

»Tja«, sagt er. »Wir zwei, wir haben eben einen besonderen Draht.«

Isobel blinzelt ihn an. »Haben wir das?«

»Klar. Außerdem hast du die Buchungsbestätigung auf meinem Computer offen gelassen. Fast als hättest du gewollt, dass ich sie finde.«

Er legt ihr die Arme um die Taille, und Isobel gibt ihm einen Kuss. Sie nimmt seine Hand, führt ihn zu ihrem kleinen Häuschen, und er folgt ihr nach drinnen und trinkt die Einsamkeit von ihrer Haut.

Später schlendern sie gemeinsam in die Touristengegend, um irgendwo draußen zu Mittag zu essen. Isobel ist schon öfter an den Tischen vorbeispaziert, an denen Pärchen und Familien saßen. Sie war nie mutig genug, sich allein dort hinzusetzen.

Mit aufgestützten Ellenbogen trinken sie abwechselnd Sangria und küssen sich. Der Kellner witzelt, dass er gleich mit dem Wasserschlauch kommt, und sie lachen, ehe sie sich wieder einander widmen.

»Ich habe dich noch nie mit hochgesteckten Haaren gesehen«, stellt Victor fest.

Isobel errötet. Richtig, sie hatte sie sich zu einem losen Dutt hochgebunden, und dann hat sie nicht mehr in den Spiegel geguckt. »Oh Entschuldigung, ich muss schrecklich aussehen …«

»Du siehst wunderbar aus. Und hör auf, dich zu entschuldigen.«

»Aber mein Hals …« Sie berührt ihr Kinn. Ihre Haut brennt.

»Was ist damit?«

Sie trinkt ihre Sangria aus, und nach dem Essen spazieren sie in die Stadt. Isobel erkennt den Laden wieder, in dem sie das Windspiel gekauft hat, und bleibt Hand in Hand mit Victor vor dem Schaufenster stehen. Dort liegen die üblichen Muschel-Dekoartikel und andere maritime Souvenirs, doch dann entdeckt sie drei Vasen in der Mitte. Schwarz, bauchig, Silber und Gold strömt über die unglasierte Keramik. Davor liegt ein Kärtchen. Kintsugi , steht darauf, und dann sowohl auf Englisch und Spanisch: japanische Kunst des Reparierens. Scherben werden mit metallicfarbenem Kleber zusammengefügt, damit die Bruchstellen sichtbar bleiben. Fehlende Stücke werden mit Gold- und Silberkitt aufgefüllt, sodass aus Fehlerhaftigkeit Schönheit entsteht.

»Wo willst du denn hin?«, fragt Victor, als sie seine Hand loslässt und die Tür ansteuert.

»Eine Erinnerung«, antwortet sie über die Schulter. »Vielleicht komme ich ja nie wieder hierher.« Sie entscheidet sich für die mittlere Vase, die mit den meisten Bruchkanten.

Sie strahlt immer noch, als sie zurück im Haus sind.

»Da unten im Wasser hast du bestimmt Stunden verbracht.« Victor nickt in Richtung Meer, während sie die Tür aufschließt.

Sie sieht zum Strand, und ihr Lächeln verblasst. »Ich war dort kein einziges Mal.«

Er runzelt die Stirn.

Mit wem hätte ich denn gehen sollen?, will sie fragen. Wer hätte auf meine Sachen aufgepasst, während ich schwimmen gegangen wäre? Aber sie sagt es nicht. Sie mag es, wenn er denkt, sie wäre mutiger, als sie in Wahrheit ist.

»Gehst du mit mir?«, fragt er. »Sieht gerade ruhig aus.« Er zeigt auf eine zugewucherte Treppe, die zu einem flachen braunen Felsen führt.

Als sie sich umgezogen haben, laufen sie runter ans Ufer. Es gibt dort nur Wasser, Fels und die mit braunem Gestrüpp bewachsene Uferkante. Alle anderen ziehen die Strandabschnitte mit den Raffia Schirmen und den Cocktails vor. Hier ist der Strand übersät mit porösem Stein, der die Hitze speichert. Isobel sieht sich in der Kargheit um und findet, dass das völlig ausreicht.

»Ich hab mir überlegt, dass wir vielleicht ja doch heiraten könnten.« Victor blickt zum Horizont. Er steht mit den Händen in den Hüften da und spricht beiläufig, als würde er aufziehende Regenwolken kommentieren. »Du hast immerhin einige deiner Ansichten geändert, und vielleicht könnte ich das ja auch. Da siehst du, was du mit mir machst.«

»Victor …«

»Denk darüber nach.« Und dann stürmt er ins Wasser.

Gemeinsam schwimmen sie ein Stück raus. Er nimmt ihre Hand, und sie umarmen sich unter dem weiten Himmel.

Nach einer Weile waten sie an Land und setzen sich auf die warmen Felsen. Isobel sieht zu, wie das Wasser aus Victors Bart und Pferdeschwanz tropft. Er hat krumme Schultern, seine Hüften sind ein bisschen üppiger, als sie es gewohnt ist, und sie will daran nicht das Geringste ändern.

»Mir gefällt die Vorstellung, das du der Einzige bist, der weiß, wo ich bin«, sagt sie und schlingt die Arme um die Knie.

»Hast du Patrick gar nichts erzählt?«

Sie schüttelt den Kopf. »Er hätte mich vielleicht davon abbringen wollen. Du nicht.«

Er antwortet nicht, und Isobel setzt sich auf ihre Handflächen, um sich zu beherrschen und nicht zu fragen. Warum hast du mich nicht aufgehalten? Warum hast du mich nicht gebeten zu bleiben?

Dann sagt er ruhig und leise: »Du hattest über die Jahre genug Leute, die dir vorgeschrieben haben, wie du leben sollst.«

»Ich mag das aber«, sagt sie. »Wenn mir jemand sagt, was ich tun soll.«

»Weil du es nicht anders gewohnt bist.«

Sie hören den Wellen zu, die an die Felsen schlagen, als die Flut einsetzt. Der Wind frischt auf und kühlt ihre Haut. Sie spürt, dass Victor sie ansieht.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du je genug geliebt worden bist«, sagt er. »Von irgendwem.«

Isobel dreht sich weg, lässt den Blick übers Meer schweifen. Sie erinnert sich an die kahlen Wände in ihrer Wohnung. »Cassandra hat mich als kleines Mädchen immer gezwickt. Richtig fest. Sie hat die Zähne zusammengebissen und mich gezwickt, und ich habe ihr mit einem lauten Nein einen Klaps auf die Hand gegeben. Ich muss immer wieder daran denken und frage mich, ob das ihre Art war, mir ihre Liebe zu zeigen. Das Gefühl war für sie einfach zu übermächtig. Sie hat Intensität mit Schmerz verwechselt. Und ich habe Nein zu ihr gesagt, Victor … Ich habe sie von mir weggeschoben.«

Inzwischen weint sie leise.

»Du kriegst das schon hin.« Er streichelt ihren Rücken.

»Und jetzt kommst du.« Sie dreht sich halb zu ihm um. »Ich dachte erst, du wärst eine nette Ablenkung. Was du gedacht hast, war mir egal. Und dann urplötzlich war mir nur noch wichtig, dass du mich wahrgenommen hast. Ein weltlicher Mann. Bis ich die Deckung hochgenommen habe, hattest du sie schon überwunden.«

Seine Hand wandert hoch zu ihrem Hals. »Ich liebe dich auch.«

Sie hat ihr streng geregeltes Leben geliebt, die Küche mit der Kücheninsel und den Falttüren, die Gesichter der Gäste, wenn sie erfuhren, wie alt der Wein zum Essen war, die Gewissheit, dass es auf jede Frage eine Antwort gab, dass jede Laune des Lebens und jede unvorhergesehene Wende in eine Zukunft münden würde, die sicher bevorstand. Sie hat sich nie wirklich nach Liebe verzehrt, sondern nach Gewissheit. Nach der Richtigkeit, der Rechtschaffenheit eines Lebens innerhalb fester Grenzen, die für sie immer schon selbstverständlich gewesen waren. Sie hat auch gar nicht um Steven getrauert, sondern um ihr soziales Standing, um ihre Wirkung nach außen, den guten Benimm. Doch dann fiel all das in sich zusammen. Sie war die Leiter emporgestiegen und abgerutscht. Und seltsamerweise blieb nach alledem nur, von einem Mann gesehen zu werden, der in der Welt, von der sie immer dachte, dass sie die rechte wäre, nicht zählte.

»Nichts ist, wie es hätte sein sollen«, sagt Isobel und drückt sich Victors Hand an die Wange. »Und trotzdem hat es sich nie so richtig angefühlt.«