Ich entscheide so etwas nicht

Jen

In der Hoffnung auf Wärme betritt sie die Markthalle. Eine Tasse Tee, eine heiße Schokolade, irgendetwas.

Es war ein langer Predigtdienstvormittag, ein eisiger Tag, an dem einem die Kälte bis in die Knochen kriecht, und kaum jemand hat ihnen aufgemacht. Natürlich waren diese Leute zu Hause, haben sich hinter ihren Vorhängen verschanzt. Sie ist die neugierigen Gesichter hinter Gardinen gewohnt, die unendlichen Minuten, die sie verstreichen lassen muss, ehe sie weiterziehen darf. Ich weiß, dass ihr zu Hause seid, denkt sie auf dem Weg zurück zum Gartentor. Ich weiß es, und ihr wisst, dass ich es weiß, aber tun wir einfach weiterhin so, als würde der andere nicht existieren.

Die Häuser strahlen Weihnachtlichkeit aus. Heute war sie entlang der teureren Straßen unterwegs, wo die Dekoration sich auf einen Kranz oder eine geschmackvolle Lichterkette rund um eine Topfpflanze beschränkt. Sie kann die Lichter durch die Milchglaseinsätze in den Türen sehen, die Spitzen der Weihnachtsbäume im Erker, die Kinder mit rot-weißen Bommelmützen, während die Familie das Haus für die glückliche Bescherung vorbereitet.

Der Einzige, mit dem sie geredet hat, sah sie merkwürdig an, als sie ihre Broschüre zückte. Weihnachten – heilig oder heidnisch? Sie trug ihren vorbereiteten Text vor, war aber nicht überrascht, als er anschließend höflich abwinkte. Tut mir leid, wenn Ihnen das respektlos vorkam, sagte sie, als sie die Broschüre wegpackte. Ich entscheide so etwas nicht.

Sie hatte das Auto am Morgen stehen lassen, weil die Vorhersage gut war und ihr Einsatzgebiet nicht weit von ihrer Wohnung lag. Außerdem tat ihr Bewegung gut, ganz zu schweigen davon, dass sie Sprit sparen würde, doch jetzt, auf dem Heimweg, zückt sie ihren Geldbeutel und will die letzten paar Pfund, die sie gespart hat, für ein Getränk ausgeben, das sie wieder aufwärmen soll.

Es ist ein Markt für Kunsthandwerk, unter einem altehrwürdigen schmiedeeisernen Dach in der Nähe des Stadtkerns gelegen. An zahlreichen Ständen in mehreren Reihen werden handgefertigte Seifen, Makramee- und andere Geschenkartikel feilgeboten. Sie bezahlt ihren heißen Kakao und schlendert die Reihen entlang. Sie hat nur noch zehn Pfund in der Tasche.

Sie hat fast die letzte Reihe erreicht, als ihr wieder einfällt, dass sie am Abend bei ihren Eltern zum Essen eingeladen ist und zweifelsohne zu Schweigsamkeit während des Desserts. Ihr Vater hat sie seit ihrer Wiederaufnahme kaum auch nur angeguckt. Womöglich kann er mir das fremde Blut in den Adern ansehen, denkt sie, und ihr fällt wieder ein, dass er immer einen Sohn wollte.

Sie schüttelt den Gedanken ab.

Einer der letzten Verkaufsstände weckt ihre Aufmerksamkeit. Der Tisch dort ist vollgestellt mit Töpferwaren auf einem Leinentischtuch: Schalen, Becher, Teller, allesamt schlicht in der Form und in ruhigen, dezenten Farben. Eine Frau etwa in ihrem Alter sitzt dahinter und liest.

Jen lächelt sie an. Die Frau blickt kurz auf, liest dann aber weiter. Jen ist erleichtert. Sie will sich nicht unterhalten.

Die Stücke sind fein, fragil, meisterhaft. Form und Farbe sind unaufdringlich und bescheiden, sodass das Essen darauf im Mittelpunkt steht. Jen nimmt einen Becher zur Hand und sieht sich selbst vor sich, wie sie einen Bauerntisch deckt, zwei Gedecke, ein prasselndes Feuer in der Kaminecke eines entlegenen Cottage auf dem Land, Jacob am Fenster, der auf Wolken zeigt.

Sie untersucht den Becher. Er hat eine Textur, ein Muster aus Graten, die einmal ringsherum verlaufen, und ein einsamer Tropfen getrockneter Glasur rinnt an der Seite hinab. Die pure, ehrliche Form erinnert sie unwillkürlich an Zelda.

»Die Sachen sind wunderschön«, sagt sie, ohne nachzudenken.

Die Frau blickt auf und lächelt. »Dieser Becher ist auch mein Lieblingsstück.«

Jen dreht den Becher um. Dem Preisschild auf der Unterseite zufolge ist er doppelt so teuer wie das, was sie noch in der Tasche hat. »Ach«, sagt sie traurig. »Aber das verstehe ich gut. Er ist perfekt für Tee.« Sie stellt den Becher zurück auf den Tisch. Enttäuschung flackert über das Gesicht der Frau.

Wahrscheinlich hat sie heute noch nichts verkauft, schießt es Jen durch den Kopf. Sitzt hier unter dem hohen Metalldach, von allen Seiten zieht es, und hofft, dass irgendwer an einer Schale oder Tasse Gefallen findet.

Jen sieht sich nach etwas anderem um, was sie sich leisten kann. Sie nimmt einen winzigen schwarzen Teelöffel hoch, dessen Griff an gehämmertes Metall erinnert, und dreht ihn hin und her. Er ist wunderschön, und sie hätte sogar noch ein wenig Kleingeld über. Der Becher ist nicht ihre Liga – aber vielleicht der Löffel, um Zucker im Tee zu verrühren?

Zusammen mit dem Zehn-Pfund-Schein überreicht sie der Frau den Löffel und verspürt einen Anflug von Macht und Güte angesichts deren Dankbarkeit.

Genau deshalb hätte es für mich nie funktioniert, denkt sie, als sie geht. So abhängig davon zu sein, dass jemand mag, was sie getöpfert hätte, wäre schlimm für sie gewesen. Was hatte ihre Mutter vor Jahren gleich wieder gesagt? Davon kannst du nicht leben. Warum sollte irgendwer für einen Kaffeebecher mehr bezahlen, als er im Laden kostet? Sie hatte recht. Es hat etwas schrecklich Verzweifeltes, auf die Aufmerksamkeit von Fremden angewiesen zu sein und darauf, dass deren Geld und Geschmack zum Maßstab für die Wertschätzung der eigenen Arbeit werden. Ja, denkt Jen. Es ist verzweifelt, verachtenswert, und in diesem Moment bauscht ihr Kopf es mehr auf als nötig. Ihre Mutter hatte recht, der Älteste hatte recht. Geld auf weltliche Dinge zu verschwenden ist unnötig, wenn doch das Ende der Welt bevorsteht. Besser, sie predigt, sie lehrt, sie sorgt für die Errettung anderer Menschen.

Richtig!

Jen macht kehrt, und ihre Hand wandert in ihre Tasche, als sie abermals auf die Frau zutritt, die sich wieder ihrem Buch widmet. »Ich würde Ihnen das hier gern dalassen«, sagt sie und legt die Broschüre auf den Tisch. Ewiges Leben – wann? Noch bevor die Frau Nein sagen kann, ist sie wieder weg.

Sie ist schon zu weit gekommen, um es sich jetzt anders zu überlegen. Sie hat zu viel zu verlieren. Stattdessen erlaubt Jen ihrem Blick, die Dinge zu sehen, so wie sie es will, damit sie gewiss sein kann, dass sie recht hat.