Nessel

Zelda und Isobel

Zelda schiebt die Finger tief in die Erde und wühlt das letzte Unkraut heraus. Sie hat fast die ganze Woche hier draußen verbracht, ist der Stille im Haus aus dem Weg gegangen und hat versucht, dem Garten wieder Leben einzuhauchen. Sie hat ihn den Sommer über vernachlässigt. Ständig war sie mit dem Kopf woanders.

Selbst an kühleren Tagen, wenn sie mit Nadel und Faden arbeitet, kauert sie sich draußen auf die Verandaschaukel, hört den Vögeln beim Zwitschern zu und näht den Sommer auf Seide, während sich ringsum der Winter anschleicht.

Jener letzte Morgen mit Jen ist Wochen her, doch der Takt der Zeit hat sich verschoben. Schon als Kind hatte sie Momente, in denen das Leben sich verlangsamte oder beschleunigte, in denen die Münder von Leuten sich nicht im selben Tempo bewegten wie ihre Stimme. Mal waren es angeblich Wachstumsschmerzen, mal Einbildung. Und jetzt? Jede Minute zieht sich eine Stunde lang hin, jede Stunde einen Tag.

Sie hält ihre Hände beschäftigt, um sich abzulenken. Und es zahlt sich aus. Sie hat Kleider genäht, fotografiert, sich Zeit zum Experimentieren genommen und abgewartet, wohin es sie führt. Sie hat im Bad eine Dunkelkammer eingerichtet und sich selbst in der Alchemie der Prozesse, im Geruch der Fixierlösung, in den Stunden der Einsamkeit verloren. Zelda ist verblüfft, wie viel sie schaffen kann, aber die Leere bleibt, wirklich kreativ ist sie nicht.

Sie richtet sich auf und streckt den Rücken durch. Um sie herum werden die Schatten lang. An ihren Händen der Geruch von Erde.

Sie hört Schritte, und als sie sich umdreht, steht ein Gespenst vor ihr. Die Frau aus der Zahnarztpraxis. Die Ehefrau des Ältesten.

»Was machen die Schmerzen?«, fragt die Frau. »Besser?«

Zelda hebt die Hand an die Wange. Die andere Hand liegt fest auf ihrem Herzen. »Was machen Sie hier?«

Die Frau weicht ihrem Blick aus. »Ich hab in der Praxis Ihre Adresse aufgerufen. Die Adresse, die Sie angegeben hatten. Entschuldigen Sie, ich weiß schließlich, dass das verboten ist.«

»Was wollen Sie?«

Die Frau blickt auf einen Zettel hinab. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern … Es ist schon Jahre her. Ich heiße Isobel F…«

»Ja, ich weiß, wer Sie sind.«

Isobel lächelt erleichtert. Dann lässt sie den Blick über das Haus schweifen. »Sie wohnen in einem Schuppen?«

»Was wollen Sie?« Allmählich wird Zelda ungehalten.

»Das Kleid, das Sie anhatten … Das war besonders. Ich bräuchte ein Kleid, wissen Sie, für einen speziellen Anlass, und hab mir überlegt, eins schneidern zu lassen … statt eins von der Stange zu kaufen.«

Zelda schüttelt den Kopf. »Ich nähe nur für mich selbst.«

»Ich bezahle natürlich dafür, wenn es eine Frage des Geldes wäre?«

Zelda versucht, ihren Puls zu beruhigen. »Nein.«

»Okay. Ich hab nur … Als ich Ihr Kleid gesehen habe, hatte ich plötzlich eine starke Empfindung. Dieses Muster aus welken Rosen … Es war, als hätten Sie Ihren Schmerz nach außen gekehrt. Das klingt jetzt wahrscheinlich albern.«

Zelda ist verwirrt, weil diese Frau, wie sie da vor ihr steht, nicht im Geringsten mit ihrer Erinnerung an sie übereinstimmt. »Nein, es klingt nicht albern.«

»Ich heirate. Und ich brauche ein Kleid.«

»Sie heiraten?« Zelda starrt sie an.

Isobel lacht. Ihr gefällt es, dass sie jemanden überraschen kann. »Ja. Ich bin geschieden. Und ausgeschlossen worden. Mein Leben ist jetzt ein anderes.«

Die Neugier siegt, und Zelda kann nicht anders, als sie hineinzubitten. Sie bleibt ein Stück abseits stehen, während Isobel sich umsieht. Ihr Stirnrunzeln angesichts der toten Blumen. Sie kann Isobel ansehen, wie sie etwas sagen will und es sich anders überlegt.

Zelda holt sich Stifte und Papier und räumt den Tisch frei. Randvoll mit nervöser Energie sind ihre Bewegungen hektisch. Sie gibt Isobel mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich setzen soll. Isobel setzt sich auf die Stuhlkante, als wollte sie jeden Moment wieder aufspringen.

»Vielleicht könnten Sie mir erzählen, was Ihnen vorschwebt«, sagt Zelda. »Das heißt noch nicht, dass ich es mache. Aber unterhalten können wir uns darüber.«

Sie tauschen Ideen aus. Zeldas Stift tanzt über das Papier, während sie Isobel zuhört, die von Freiheit , von Schönheit , von Liebe spricht. Zelda macht Vorschläge. Isobel nickt immer wieder.

»Dann heißt das, Sie übernehmen den Auftrag?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Zelda bohrt den Stift ins Papier.

»Was möchten Sie dafür?«

»Es geht mir nicht um Geld.«

Isobel nimmt erneut das alte, abgewohnte Mobiliar in Augenschein. »Worum dann?«

Zelda starrt ihre Zeichnung an. Sie braucht ein Projekt, und vielleicht steckt hier etwas drin; die Möglichkeit für sie, alles zu Papier zu bringen, ihr Talent einzusetzen, um zur Ruhe zu kommen. »Haben Sie noch ein bisschen Zeit?«, fragt sie. »Ich habe Baumwollnessel da. Ich könnte Ihre Maße nehmen und etwas abstecken.«

Isobel klatscht begeistert in die Hände.

Zelda stellt einen Schemel für Isobel in die Zimmermitte. Sie geht zur Spüle, befüllt ein Glas mit Wasser und leert es gleich dreimal. Als sie sich wieder umdreht, steht Isobel auf dem Schemel und wartet.

»Ich muss Maß nehmen …«

»Ja?«

»Dafür … müssten Sie sich bitte ausziehen. Bis auf die Unterwäsche.«

»Oh.«

Zelda sieht weg, als Isobel vom Schemel steigt. Sie hört, wie Stoff raschelt und zusammengelegt wird und Isobel sich schließlich räuspert. Zelda zieht ihr Maßband zwischen den Fingern hindurch und wartet, bis sie ein leises Bereit hört.

Sie macht sich an die Arbeit. Abwechselnd nimmt sie Maß und schreibt Zahlen in ihr Notizbuch. Abgesehen vom Zwitschern der Vögel, dem Rauschen der Bäume und dem leisen Pfeifen des Windes im Dach ist es mucksmäuschenstill. Das Leben draußen geht seinen Gang. Als sie fertig ist, hält sie den Nesselstoff hoch. »Soll ich loslegen?«

Isobel nickt. Kerzengerade steht sie da, während Zelda an ihrem Körper Stoff zurechtzieht, feststeckt und hier und da zurücktritt, um ihr Werk zu begutachten. Zwischendurch erklärt sie, was sie womit bezweckt, aber überwiegend herrscht Stille.

»Erinnern Sie sich noch an mich?«, fragt sie Isobel nach einer Weile. Sie steht hinter ihr und zieht den Stoff glatt. »Ist schon Jahre her.«

»Als wir in derselben Gemeinde waren?« Isobel nickt.

»Was hielten Sie damals von mir?« Ihre Stimme ist leise.

»Oh … Ich kannte Sie ja kaum …«

»Aber Sie müssen doch eine Meinung gehabt haben. Jeder hatte eine Meinung.«

»Vielleicht ein bisschen außer Rand und Band«, sagt Isobel. »Aber wie gesagt, viele Berührungspunkte hatten wir nicht.«

»Nein, außer Rand und Band stimmt schon. Zu wild für dieses Leben. Das wusste sogar ich selbst.«

»Und was dachten Sie über mich?«

»Prüde. Frigide. Dumme Ziege.«

Isobel sieht sie überrascht an, und dann brechen beide in Gelächter aus.

»Tut mir leid«, sagt Zelda. »Sie haben gefragt.«

»In dieser Welt gibt es eine Norm, der man zu entsprechen hat, nicht wahr?«, sagt Isobel nach einem Moment. »Nur was, wenn man da nicht reinpasst?«

Zelda antwortet nicht, aber ihre Handgriffe werden sanfter. »Was ist mit Ihrem Mann passiert?«

»Sagen wir einfach, ich war ihm nicht genug«, antwortet Isobel.

Zelda starrt sie an. »Wie bitte?«

»Er hat mich für eine Achtzehnjährige sitzen lassen. Die inzwischen ein Kind von ihm hat.«

Zelda geht auf die Knie und nimmt die untere Stoffkante zur Hand. Sie starrt sie an und lässt den Stoff durch die Finger gleiten. »Ich habe mich oft gefragt, was aus meiner Geschichte geworden ist«, murmelt sie nach einer Weile. »Ob bei Kaffee und Kuchen darüber getratscht wurde oder ob sie immer noch im Aktenschrank ganz hinten in der Bibliothek lagert.«

Isobel runzelt die Stirn. »Geschichte?«

Zelda sieht zu ihr hoch. »Sie wissen es gar nicht?«

»Was denn? Was weiß ich nicht?«

Und dann erzählt Zelda Isobel alles. Zerrt die Erinnerungen aus der Dunkelheit ans Licht. Hier steht eine Frau vor ihr, von der sie sich nicht hätte träumen lassen, dass sie es ihr je erzählen würde. Am Ende sagt sie: »Der Älteste … Das war Steven Forge. Ihr Steven.«

Schweigen.

Isobel schlägt die Hand vor den Mund, während ihr Leben sich verlangsamt. Dann krümmt sie sich vornüber und erbricht sich über den Stoff.