Exil

Zelda

Sobald Isobel weg ist, geht Zelda den schlammigen Gartenweg entlang in Richtung Straße – ganz ohne dass sie darüber nachdenken würde, irgendetwas zieht sie dorthin.

Die Farbe auf der Holztür ist spröde und rissig, das einst leuchtende Rot ist verblasst. Zelda klopft dreimal fest an und wartet.

Als die Tür aufgeht, würde sie am liebsten losheulen. Ihre Mutter dürfte Anfang siebzig sein, sieht aber wesentlich älter aus. Sie ist geschrumpft, reicht ihrer Tochter gerade bis zur Schulter, und fast kann man die Knochen unter der papiernen Haut sehen. Ihre Haare sehen vernachlässigt aus. Bei Zeldas Anblick weicht sie reflexartig zurück.

»Nein«, sagt sie, »nein, nein, nein, du darfst nicht herkommen.«

»Mum!«

Marjorie macht kehrt, lässt aber die Tür offen stehen.

Zelda tritt über die Schwelle und zieht die Tür hinter sich zu. Im Flur atmet sie Staub und abgestandene Luft ein. Ihre Mutter macht selten die Fenster auf, weil sie Angst vor dem hat, was von draußen hereinkommen könnte. Es hängen immer noch dieselben Bilder an der Wand, und derselbe Nippes, der noch aus dem Haus ihrer Großeltern stammt, verstaubt in den Regalen.

Ihr Kontakt hat sich auf Zettel unter der Tür beschränkt – und auch das nur, wenn es unvermeidbar war. Eine Rechnung, die sie sich teilen mussten, ein Brief, der falsch zugestellt worden war.

Ihre Mutter setzt sich in den Sessel in der Wohnzimmerecke und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Also, was ist?«, fragt sie. »Ist etwas passiert? Bist du krank?«

»Nein, ich bin nicht krank.«

Zelda sieht sich um. Das Wohnzimmer ist bis heute klamm und dunkel. Keine einzige Lampe brennt, obwohl die Sonne schon untergeht, und nur der Hauch von Abendlicht dringt durch die Gardinen. Alles ist genauso, wie sie es kennt. Das heißt … abgesehen von den Fotos. Sie sind abgehängt worden.

»Wo sind die Fotos von Dad? Die, auf denen er seinen Preis bekommt?«

Der Tag hat sich Zelda ins Gedächtnis eingebrannt: der Tee im Ritz, der Applaus für ihren Vater, die verunsicherte Mutter mit ihrem Hut. Noch Jahre später hat Zelda sie hin und wieder gebeten, ihn sehen zu dürfen, und ihre Mutter entgegnete jedes Mal wieder, sie solle vorsichtig sein mit ihrem Als-dein-Vater-den-Preis-bekommen-hat- Hut, er sei kostbar.

»Was kümmert es dich?«, erwidert sie.

»Liegen wir wenigstens in einer Schublade? Oder hast du uns auf den Müll geworfen?«

Keine Antwort.

»Wie kannst du es hier drinnen ertragen?«

Ihre Mutter sieht sie trotzig an. »Habe ich eine Wahl?«

Zelda starrt den Sessel ihres Vaters an. Er ist immer noch zum Fernseher gedreht, neben dem Sessel der Mutter, als würde er jeden Moment kommen und sich mit ihr die Nachrichten und die Wettervorhersage ansehen oder ihre Lieblingskrimiserie.

»Rück endlich raus damit. Warum bist du hier?«, fragt Marjorie mit Blick auf den Teppich.

Zelda bekommt kaum noch Luft. »Ich gehe zur Polizei, Mum.«

Ihre Mutter seufzt. »Bist du immer noch bei dem Thema?«

»Wie soll ich das bitte jemals vergessen?«

»Ach Alice.« Sie sieht ihre Tochter an. »Vertraue deine Bürde Gott an, und er wird dich stützen. Leute lassen ständig Sachen hinter sich. Warum musst du es anders machen?«

Lehrsätze ihrer Mutter aus ihren Teenagerjahren hallen in riesigen, unterstrichenen Buchstaben laut in ihrem Kopf wider. Bleib bei der Wahrheit. Mach einfach weiter. Du hältst nur deshalb an der Vergangenheit fest, weil du vergisst, was die Zukunft bereithält.

»Wo ist Dad?« Zelda fängt an, die Schubladen zu durchwühlen. »Was hast du mit uns beiden gemacht?«

Ihre Mutter dreht sich weg und zieht ihre Strickjacke enger. »Ich warte darauf, dass die neue Welt anbricht.«

»In diesem Sarg von einem Haus!«

»Ich hatte dich gewarnt«, entgegnet sie scharf. »Du solltest es ihm nicht erzählen, es würde ihn umbringen, und guck, was passiert ist.« Sie stolpert über ihre eigenen Worte, über ihre eigene Einsamkeit.

Zelda schlägt die Schubladen zu. Sie hat das unbändige Bedürfnis, ihren Vater zu sehen, nicht als Gestalt in irgendeiner abstrakten Zukunft, sondern hier und jetzt, auf einem Foto. Sie weiß noch, wie sie manchmal abends nach Hause fuhren, wie sie auf dem stillen Rücksitz so tat, als wäre sie eingeschlafen, damit er sie hochheben und ins Bett tragen würde. Dad, es war immer Dad. Nie ihre Mutter. Dafür sei sie nicht stark genug, meinte sie.

»Du glaubst immer noch, ich wäre schuld«, sagt Zelda. »Ich bin an allem schuld.«

Ihre Mutter zuckt zusammen. »Ich habe versucht, es dir zu erklären. Deine Kleidung, deine Art … Was hast du erwartet? Wer sich wie eine Schlampe anzieht, wird auch für eine gehalten.«

Zelda lehnt sich gegen die Kommode und atmet mit einem Seufzer aus. Sie weiß noch gut, wie sehr sie gehofft hatte, die Taufe würde sie einander näherbringen. Sie hatte immer für ihren Vater Partei ergriffen, nie für ihre Mutter, und sie hatte auch keine Geschwister, die hätten einspringen können. Die Taufe war ihr wie ein leichtes Opfer vorgekommen, damit sie und ihre Mutter etwas gemein hätten. Sie war zwölf und konnte die Konsequenzen damals nicht absehen.

»Ich war ein Kind, Mum«, sagt sie.

»Ich hatte dich anders erzogen.«

»Du wolltest, dass ich still und unterwürfig bin«, schreit Zelda sie fast an. »Du hast mir beigebracht, kein Aufheben zu machen, dass Männer dafür vorgesehen sind zu führen und dass ich ihnen gehorchen muss.«

»Doch nicht so! Du hättest Nein sagen sollen!«

Zelda dreht sich zu ihr um. »Und wann hättest du mir je beigebracht, wie das geht?«

Sie schürzt die Lippen. »Versuch jetzt nicht, deine Geschichte umzuschreiben, nur weil dir nicht gefällt, was aus deinem Leben geworden ist.«

»Du hast mich einer Welt ausgesetzt, die mir das Wort verboten hat. Schau dir an, was passiert ist, als ich die Wahrheit gesagt habe.«

Marjorie schnaubt ungeduldig. »Sie konnten nichts tun, weil es keinen zweiten Zeugen gab. Das weißt du genau.«

»Wann gibt es bei so etwas jemals zwei Zeugen?«

»Du kannst nicht ändern, was in der Schrift steht.«

»Nein, aber wahrscheinlich ist es nicht unbedingt vernünftig, sich auf ein zweitausend Jahre altes Buch zu berufen, wenn es um Mitmenschlichkeit geht.«

Marjorie lacht schrill. »Alice, du denkst sowieso, was du willst. So warst du schon immer.«

Zelda schließt die Augen. Sie weiß, dass ihre Mutter sie als Weltliche beäugt, die vom Teufel angeleitet wird. Sie kann die Liebe ihrer Mutter nicht länger greifen. Aber nur weil sie verschüttet ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht da ist.

»Mum«, sagt sie und kniet sich vor ihr hin. »Man hat von mir erwartet, dass ich Woche für Woche dort hingehe und ihm zusehe und seinen Predigten lausche. Als ich das nicht mehr ertragen habe – die Lügen, die Heuchelei, sein Lächeln – , haben sie mich vor die Tür gesetzt. Sie haben mir alles genommen. Sogar dich. Und mich nannten sie schwach.«

Marjorie steht auf und verlässt das Zimmer.

Zelda beugt sich vor, sitzt fast in Embryonalhaltung da, kriegt kaum noch Luft. Sie wartet einen Moment, dann geht sie in die Küche, wo ihre Mutter aufräumt.

»Mum, guck mich an.«

Eine Schranktür schlägt zu.

»Guck mich an, Mum.«

Zelda fängt an zu weinen. Sie lehnt am Türrahmen, und ihre Wange liegt auf den Filzstiftmarkierungen, die ihr Wachstum über die Jahre dokumentieren. Sie fährt mit den Fingern über die oberste Markierung. Dad. Sie ist inzwischen größer, als er damals war.

»Ich zeige dir gerade, wer ich bin«, sagt sie mit heißen Wangen. »Ich verberge nichts vor dir und spiele auch nichts vor. Das hier bin ich. Und ich bin nun mal nicht diejenige, die du gern hättest.«

Marjorie lässt eine Pfanne auf den Küchentresen fallen. Sie lehnt sich gegen die Spüle und sieht aus dem Fenster. »Das ist nicht wahr, Alice.«

»Sondern?«

»Ich wurde auch geprüft.«

Als sie nicht fortfährt, setzt Zelda sich an den Küchentisch – auf denselben Platz, auf dem sie als Kind immer saß.

»Also gut.« Sie trocknet sich die Hände ab, dreht Zelda aber weiterhin den Rücken zu. »Wenn mein Vater betrunken nach Hause kam, hat er die Fäuste geschwungen. Als meine Mutter zu den Ältesten ging und fragte, was sie tun solle, befahlen sie ihr zu bleiben. Nur Hurerei setzt einer Ehe ein Ende. Bist du jetzt überrascht? Tja, sie sollte es also ertragen und ihn wenn möglich durch ihre friedfertige Art dazu bewegen, sich zu verändern. Und genau das passierte. Er kam in die Wahrheit, weil meine Mutter nie den Mut verlor. Sie hat ihm das Leben gerettet.«

»Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, sagt Zelda und stützt den Kopf in beide Hände.

»Ich habe ihn oft mit ihr beobachtet und mich gefragt: Warum? Warum geht Gott nicht dazwischen? Aber am Ende wurde alles gut. Sie blieb stark in ihrem Glauben, und deshalb fand er den seinen. Das wäre niemals geschehen, wenn meine Mutter sich gegen den Rat der Ältesten gewandt hätte.« Marjorie nickt nachdrücklich. »Gott wusste genau, was passieren würde.«

»Das ist das Traurigste, was ich jemals gehört habe.«

Ihre Mutter reckt trotzig das Kinn. »Es ist wunderbar.«

Zelda starrt die Zimmerdecke an, die Ecken, in denen zig Spinnweben zu hoch oben hängen, als dass ihre Mutter dort heranreichen könnte. »Warum müssen immer die Frauen und Kinder hinter den Männern zurückstehen?«

Ihre Mutter seufzt. »Ach Alice. Das war ja klar.«

»Ihnen wird erzählt, dass sie schwächer wären. Dass sie Opfer bringen und sich unterordnen müssten.«

»Du findest, meine Mutter war schwach?« Sie schnalzt mit der Zunge. »Meine Mutter war stark. Sie hat es ausgehalten.«

Zelda sieht sie an. »Oh Mum.«

Ihre Mutter setzt sich an den Küchentisch. Sie sitzen einander jetzt gegenüber. Unfähig, ihre Tochter anzusehen, starrt Marjorie durch die Hintertür zu Alice’ alter Kinderschaukel mit den rostigen Ketten. Sie will etwas sagen, hält aber inne.

»Ich konnte es nicht mehr aushalten«, flüstert Zelda.

»Da siehst du es. Du glaubst, du wärst stark, aber du hast die Flucht ergriffen. Genau wie er  – sie nickt in Richtung des Blechhauses – »hast du mir zum Vorwurf gemacht, was passiert war. Du bist immer schon nach deinem Vater gekommen.«

»Verstehst du nicht, warum ich gehen musste? Dass es mich erstickt hat?«

»Ich habe es ertragen.« Marjorie presst die Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Die blauen Flecken im Gesicht meiner Mutter. Warum musstest du so anders sein?«

Zelda ahnt, dass der Versuch vergebens war. Sich der Dunkelheit in der Vergangenheit ihrer Tochter zu stellen hätte von ihrer Mutter erfordert, den eigenen Schmerz in neuem Licht zu betrachten. Zelda sieht sie an, wie sie dort gegenüber am Tisch sitzt und dem Tod entgegenschrumpft. Was würde es nützen, wenn sie so spät im Leben ihre Wahrheit als Lüge anerkennen würde? Sie hatte recht, als sie sagte, sie sei nicht stark genug, um ihre Tochter zu tragen. Alle Traurigkeit der Welt – die erträgt kein Mensch.

Marjorie schüttelt den Kopf. »Willst du denn nicht ewig leben?«

Ein Holzlaster donnert mit frisch gefällten Baumstämmen vorbei. Das Dröhnen erschüttert das Haus.

»Ich lebe jetzt, Mum, und du willst mit mir nichts zu tun haben.«

»Jetzt stellst du dich mutwillig dumm. Du hast etwas Schlimmes erlebt. Das passiert vielen. Aber die Schrift ändert sich nicht, nur weil du beschließt, die Dinge anders zu sehen. Komm zurück in die Wahrheit, und alles wird gut.«

Zeldas Blick bleibt an den Bildern am Kühlschrank hängen. Fingerfarben, Filzstifte, darüber in Kinderschrift Alice . Sie erkennt sie aus ihrer Kindheit wieder. Sie hat immer das gleiche Haus gemalt, mit Blumen und einer dreiköpfigen Familie davor.

Ihre Mutter will das Mädchen, nicht die Frau, zu der sie geworden ist.

»Den Glauben kann man nicht erzwingen«, sagt Zelda. »Aber wie kann es sein, dass ich ein ewiges Leben einbüße, weil Gott zugelassen hat, dass sie die Wahrheit vertuscht haben? Wessen Schuld ist das wirklich?«

»Wie konnte ich so ein widerspenstiges Mädchen großziehen?« Ihre Mutter nestelt am Etikett auf der Saftflasche.

Tiefer Frieden durchströmt Zelda. »Ja«, sagt sie, »ich bin nun mal, wer ich bin. Ob du mich liebst, liegt nicht in meiner Hand.«

»Ich würde dich jederzeit wieder in die Arme schließen, wenn du in die Wahrheit zurückkehren würdest.«

Zelda wirft noch einen Blick auf die Bilder an der Kühlschranktür. »Wir kommen aus der Dunkelheit und kehren dorthin zurück. Ein paar Jahrzehnte Licht. Soweit wir es wissen, bekommen wir nicht mehr.« Sie sieht abermals zur düsteren Zimmerdecke hoch und schließt die Augen. Sie hat die Illusion satt. »Ich kann nicht mehr lügen, Mum.«

Ihre Mutter schüttelt den Kopf. »Ich weiß nichts von Dunkelheit.«

Zelda steht auf. Sie wartet, mit flach auf den Resopaltisch gestützten Händen. Doch ihre Mutter rührt sich nicht. Zuckt nicht mit der Wimper.

Draußen ist die Luft frisch. Draußen kann sie wieder atmen.