Die Farben des Lebens

Isobel und Zelda

Zelda geht bis zum Ende der Straße. Mit jedem Schritt wiegt die Kleidertasche an ihrer Schulter schwerer, und sie bereut es, gleich den ersten freien Parkplatz genommen zu haben. Sie hat nicht damit gerechnet, dass die Straße so lang ist, aber nun geht sie schon eine halbe Meile und ist immer noch nicht da.

Dann hat Zelda das Haus erreicht. Sie vergewissert sich, dass sie hier richtig ist, steigt die Vordertreppe hoch und drückt auf den Klingelknopf, neben dem Obergeschoss steht. Die Tür klickt auf.

Isobel steht auf dem Treppenabsatz und beugt sich übers Geländer. Ihre Haare sind nass, und sie hat ein herzliches Lächeln auf dem ungeschminkten Gesicht. »Stimmt etwas nicht?«, fragt sie, als Zelda oben ankommt. Sie berührt sie am Arm und sieht sie beunruhigt an. »Gibt’s schlechte Nachrichten?«

Zelda schüttelt den Kopf. »Alles in Ordnung. Komm, verheiraten wir dich!«

Sie haben sich in den vergangenen Wochen oft gesehen. Als Zelda Anzeige erstattet hat, war Isobel an ihrer Seite. Sie hat der Polizei Stevens letzte bekannte Adresse genannt und die Dringlichkeit des Falls betont. Die Beamten waren freundlich, hörten Zelda zu und nahmen ernst, was sie ihnen erzählte. Sie versprachen, alles zu tun, um ihn aufzuspüren. Als sie fertig waren, stand Zelda auf der Vordertreppe des Reviers und heulte. Man hatte ihr zugehört. Man hatte ihr geglaubt. Eine schwere Last fiel von ihr ab.

Anschließend lud Isobel sie auf einen Kaffee ein – sie müssten auch nicht reden. Sie ließ Zelda für sich sein. Und Zelda wunderte sich über diese neue Isobel Forge. Wir alle haben einhundert verschiedene Gesichter, dachte sie, und versuchen nur, nach vorn zu blicken.

Zelda hat es ihr mit dem Kleid vergolten. So, wie Isobel ihr zur Seite stand, hat sie ihr zur Seite gestanden, alles abgesteckt, geändert, noch einen Saum nachgebessert.

Die Wohnung badet in Sonnenlicht, und Zelda starrt Isobel mit offenem Mund an.

»Ich weiß«, sagt Isobel und errötet. »Das Licht. Es ist wirklich besonders.«

Zelda zieht den Kleidersack auf und nimmt das Kleid heraus. Jetzt ist Isobel an der Reihe, nach Luft zu schnappen. »Oh.« Sie presst sich die Hand aufs Herz. »Und ich habe noch überlegt, wie es fertig wohl aussieht!«

Elfenbeinfarbener Seidentüll. Ausgestellte Ärmel. Hier gerafft, dort fließend. Quer über das Kleid verlaufen aufgestickte Farbtupfer in leuchtendem Pink, Rot und Gold, die sich um grüne Stängel ranken. Die Farben des Lebens.

Mit den Haaren fangen sie an. Isobel setzt sich auf einen Hocker am Fenster, und Zelda dreht Isobels Haare zu weichen Locken. Vom üblichen Hochzeitsmorgen-Durcheinander spürt Zelda nichts: keine Brautjungfern, die einen freien Spiegel suchen, keine aufgeklappten, überquellenden Koffer am Boden. Nur sie beide und ein vereinzelter Wortwechsel.

»Schon nervös?«, fragt Zelda und trägt das Make-up auf.

»Müsste ich nervös sein? Ich bin nämlich total ruhig, so als …«

»Als wäre alles genau richtig so?«

Isobel lächelt. Sie spürt Wärme in sich aufsteigen, als Zelda einen Schritt nach hinten macht und ihr Gesicht mustert. Sie haben sich auf ein dezentes Make-up geeinigt, damit – wie Zelda sich ausgedrückt hat – Isobels Strahlen zur Geltung kommt. Sie will nicht wie ein anderer Mensch aussehen, auch wenn sie sich so fühlt.

Als Isobel fertig ist, geht Zelda das Auto holen. Langsam fährt sie die Straße entlang, kommt an der Stelle vorbei, wo Jen geparkt hatte und wo jetzt ein anderer Wagen steht. Sie fährt weiter, bis sie die Braut auf den Stufen sieht.

»Hier riecht es gut«, stellt Isobel fest, als sie einsteigt.

»Wirklich? Wonach denn?«

Isobel atmet tief ein. »Nach Orangenblüten.«

Sie fahren zum Standesamt. Victor wartet schon. Er trägt einen eleganten karierten Anzug und war beim Friseur, und als sie ihn sieht, ist Isobel von der Wucht ihrer Gefühle überwältigt.

Zelda sieht zu, wie er Isobel aus dem Wagen hilft, wie zärtlich sie miteinander umgehen, als er ihr einen Kuss auf die Nase drückt und den Kopf bei ihrem Anblick schüttelt. Ich bin sprachlos, sagt er.

Auch Will ist gekommen. Als sie in ihrem Seventies-Hosenanzug auf ihn zugeht, mustert er sie und schnalzt mit der Zunge. Sie lacht, und er beugt sich vor, um ihr unter ihrem breitkrempigen Hut ein Küsschen zu geben. »Du siehst umwerfend aus«, flüstert er.

Gemeinsam betreten sie das Gebäude: Isobel, Victor, sein Sohn, seine Tochter, der Enkel, Will und Zelda. Sie ist gefragt worden, ob sie Trauzeugin sein will.

Nach der Trauung macht Zelda das Hochzeitsporträt. Dann ein Gruppenfoto auf den Stufen, und Isobel verspürt einen Anflug von Trauer, als Victors Kinder sich ringsum aufstellen. Sie schiebt die Trauer beiseite.

Sie essen Fish and Chips in einem Lokal, in dem sie ihren eigenen Sekt mitbringen durften. Die Servietten sind aus Papier, das Erbsenpüree ist wässrig, die Liebe stark. Zelda mustert Isobels Gesicht. Wie sie von innen leuchtet. Victor hält ihre Hand und gibt ihr hin und wieder einen Kuss. Die Behutsamkeit. Zeldas Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

»Erheben wir unser Glas«, sagt sie, und alle folgen der Aufforderung. »Auf zweite Chancen.«

Isobel lacht und stößt reihum mit allen an.

Anschließend versammeln sie sich vor der Tür, werfen Konfetti und jubeln dem glücklichen Hochzeitspaar zu, bis die beiden davonfahren. Isobel hat die Arme fest um Victor geschlungen, als er Gas gibt. Die Gäste winken ihnen nach. Zelda lässt als Letzte die Hand sinken. Sie steht im Abendlicht, und ihre Gedanken kreisen um Isobel und auch um Jen.

Seltsam, denkt sie, wie unerwartet ein Mensch sich verhalten kann – und nicht, weil sich dieser Mensch von Grund auf verändert hätte. Dieser Teil in ihm war immer da. Wir haben ihn zuvor nur nicht gesehen.