11
Und dieses Auge war das von August.
»Ich bin’s nur«, sagte er, ohne zu wissen, dass sie gerade fast einen Herzanfall erlitten hatte. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Das Wetter ist ziemlich übel.«
Sadie schüttelte den Kopf, riss die Tür auf und baute sich stirnrunzelnd vor ihm auf. »Wäre schön gewesen, wenn du angerufen hättest. Ich wusste ja nicht, wann du kommst, und nun hast du mich halb zu Tode erschreckt.«
Er schleppte seinen durchnässten Körper in die Wohnung und zog sich sofort seine triefende Jacke und seine mit Regenwasser vollgesaugten Schuhe aus. »Ich habe dich erschreckt?«, entgegnete er. »Was hat dich denn so aus der Fassung gebracht? Liest du etwa Geistergeschichten oder so etwas?« Er grinste und löste die Krawatte mit dem Blumenmuster, die er trug. »Ich wollte uns etwas zu essen besorgen, aber die Straßen sind unbefahrbar. Ein Teil von Secor steht unter Wasser – Rathbun auch.«
»Ist schon gut.« Sie schloss die Tür ab und verkroch sich wieder auf ihren Sessel, wo sie sich die Knie an die Brust zog.
»Und?« Er ließ sich auf dem Sofa nieder und legte seine Hände zusammen. »Was hast du heute so gemacht?«
Wortlos griff sie nach der Fernbedienung und zappte durch die örtlichen Nachrichtenkanäle, bis sie einen gefunden hatte, der von dem Hausbrand in der Laurel Street berichtete. Mit geschürzten Lippen benutzte sie die Fernbedienung, um auf den Bildschirm zu deuten.
»Uff«, sagte August, während er die feurigen Bilder betrachtete. »Das ist ja schrecklich. Man sollte meinen, dass der Regen helfen würde, das Feuer schneller zu löschen. Aber es brennt immer weiter, was? Vielleicht ist es ein Chemiebrand. Vielleicht hat der Bewohner in seinem Keller Drogen oder so etwas zusammengebraut. Ich frage mich, wessen Haus das ist.«
»Es ist das Haus von meinem alten Seelenklempner«, fauchte sie.
Er neigte seinen Kopf und sah sie mit einem ungläubigen Blick an. »Hä?«
»Ich war dort, genau in diesem Haus. Es gehört … gehörte Marcus Halloran, dem Mann, zu dem mich meine Großeltern brachten und der mich als Teenager behandelte, als ich die lockenden Toten zum ersten Mal sah. Aber wie sich herausstellte, war Halloran gar kein Arzt oder Therapeut. Er war ein Freund meines Vaters, der sich zu sehr mit seinen okkulten Studien beschäftigt hat.« Sie berichtete in aller Kürze von ihrem Besuch bei Halloran und schauderte jedes Mal, wenn sie von August hinüber zu dem Flammenmeer auf dem Bildschirm blickte. »Ich habe keine Ahnung, ob er es hinaus geschafft hat«, sagte sie schließlich.
August verschränkte seine Beine und kaute auf seinem Daumennagel. »Wenn er so viele Bücher angehäuft hat, war solch ein Feuer nur eine Frage nach dem Wann, nicht nach dem Ob. Es grenzt an ein Wunder, dass ein Kettenraucher wie er es nicht schon viel früher ausgelöst hat. Bist du dir sicher, dass es von jemandem gelegt worden ist und nicht bloß ein Unfall war?«
Sie blickte ihn finster an. »Ja, ich bin mir sicher. Wir hörten, wie jemand das Haus betrat, während wir uns im Keller unterhielten. Er erwartete keinen Besuch und trotzdem ist jemand einfach so hereinspaziert. Er schien zu wissen, dass es meine Mutter war oder wenigstens jemand, der mit ihr in Verbindung stand. Er drängte mich, durch die Hintertür zu verschwinden, und schloss sie dann hinter mir ab. Das hätte er wohl kaum gemacht, wenn er sich einer Bedrohung nicht sicher gewesen wäre, glaubst du nicht auch?«
»Sicher, sicher«, sagte er mit erhobenen Händen. »Ich will nur keine vorschnellen Schlüsse ziehen, das ist alles. Brandstiftung ist eine ziemlich große Nummer.«
»Nicht für jemanden, der seine eigenen Kinder verspeist«, erwiderte sie – und die Wirklichkeit solch einer Sache erschien ihr so verrückt, dass sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. »Alles, was er mir erzählte, war so abgefahren. Ich konnte es nicht glauben – wollte es nicht glauben! Und trotzdem …« Sie zuckte resignierend mit den Schultern. »Es ergibt alles einen Sinn.«
»Also«, begann August und hob seine Finger, als er ein paar der zentralen Punkte durchging. »Dieser Typ in Italien, Sinistrari, ermordet einen Haufen Leute in seiner Fabrik als eine Art okkultes Ritual. Dann landet er in einem Rollstuhl, kauft sich ein Haus in Tiffin, ausgerechnet, und – wie der Zufall es will – die Dinge im Rainier gehen den Bach hinunter, gleich nachdem er angekommen ist. Das Sanatorium wird von einem entstellten Viech heimgesucht, das nach verbranntem Fleisch stinkt und wie Dutzende eingeschlossener Italiener klingt, und deine Mutter ist so eine Art Kinder fressende Hexe, die von Sinistrari und seiner Sekte verehrt wird. Stimmt das ungefähr?«
Sie nickte ernst.
Seine Nasenflügel bebten, als er die ganze Geschichte noch einmal in Gedanken durchging. »Das ist, nun ja … die absolut verrückteste Sache, die ich je gehört habe. Ohne Frage.«
Sie hielt das Tagebuch in die Höhe. »Ich habe das hier gelesen. Einige Seiten fehlen, aber darin stehen Tagebucheinträge von meinem Vater, in denen er seine Beziehung zu meiner Mutter beschreibt. Er hat sie in diesem Haus kennengelernt – Winslow Manor –, und Halloran glaubte, dass sie vielleicht noch immer dort ist. Da sie aus dem Sanatorium befreit wurde, ist es durchaus möglich, dass sie sich dort versteckt hält. Die jahrelange Gefangenschaft hat sie geschwächt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis …«
»Und was hat er zu John, dem Farmarbeiter, gesagt? Dass er so etwas wie ein Hochstapler war – deine Mutter in einer anderen Gestalt?«
»Davon ging er aus, ja. Und ich denke, ich stimme ihm zu. Das Sanatorium hat mich ganz durcheinandergebracht, daran besteht kein Zweifel – aber ich weiß, was ich dort unten gesehen habe. Ich habe seinen Leichnam mit meinen eigenen Augen gesehen. Und nun, während ich darüber nachdenke, glaube ich auch, dass ich ihn, als ich heute Morgen einen Spaziergang machte, auf der Straße gesehen habe. Es war nur für einen kurzen Augenblick, aber es sah aus, als würde er mich anstarren, und das Radio machte dieses Geräusch wie …« Sie verstummte. Der Vorfall in der Bar schien ihr nun so weit weg zu sein, dass ihr die Worte fehlten. »Ich glaube aber, dass er recht hat. Ich glaube nicht, dass John Ford immer noch John Ford ist.«
»Du hast doch Johns Telefonnummer gefunden, stimmt’s?«, fragte August und holte sein Handy hervor. »Dann lass ihn uns anrufen. Mal sehen, wer rangeht.«
Sie kauerte sich zusammen und klammerte sich an ihre Decke. »Daran habe ich vorhin auch schon gedacht, aber ich … ich konnte nicht. Was, wenn sie rangeht? Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte.«
Darüber musste er kichern. »Stell dir das nur einmal vor: Du bist eine Kinder fressende Höllenbrut, die seit ’94 eingesperrt gewesen ist, und als du endlich befreit wirst, klaust du dir das Handy von einem jungen Kerl und trägst es mit dir herum, damit du so tun kannst, als wärst du er … und vielleicht um seinen Candy Crush -Highscore zu knacken. Es muss ein verdammt großer Kulturschock sein, zurück in diese Welt zu kommen, nachdem man ein Vierteljahrhundert in einem Raum unterm Keller gefangen war. Als sie das letzte Mal in Freiheit war, standen Hootie & The Blowfish an der Spitze der Musikcharts!«
»Nun, es tut mir leid, wenn ich den Humor darin nicht erkennen kann«, blaffte sie. Dann suchte sie Johns Nummer auf ihrem Handy und wählte sie, bevor sie der Mut verließ. Anschließend drückte sie August das Telefon in die Hand und er schaltete sofort den Lautsprecher ein.
Doch es klingelte nicht. Stattdessen erklang eine bekannte, blecherne Stimme: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben …«
Er biss die Zähne zusammen und probierte es noch einmal. Das Ergebnis war dasselbe.
»Tja, das ist ein wenig seltsam. Wenn ich tagelang verschwunden gewesen wäre und die ganze Stadt nach mir gesucht hätte, dann kann ich dir versichern, dass der Kauf eines neuen Handys oder eine neue Telefonnummer, nun ja, ziemlich weit unten auf meiner Prioritätenliste stehen würde.«
»Dieses Handy«, warf sie ein, »ist in dem Sanatorium wahrscheinlich kaputtgegangen – oder es liegt noch immer bei seinem Leichnam in diesem Loch …«
»Ich schätze, dass der Empfang dort unten ziemlich lausig ist.« Als auch dieser Versuch, für ein wenig Unbeschwertheit zu sorgen, fehlschlug, räusperte er sich. »Okay, mal angenommen, dass alles, was dieser Halloran gesagt hat, der Wahrheit entspricht … Was nun?«
»Wenn ich ihn beim Wort nehme, dann gibt es nichts, das ich tun kann. Es ist ein Geduldsspiel. Sie wird mich irgendwann finden – wahrscheinlich wenn ich am wenigsten damit rechne – und sich nehmen, was sie haben will. Ich kann davonlaufen und vielleicht werde ich ihr eine Weile entkommen können, aber sie wird nicht aufhören, mir nachzustellen. Die Wurzeln dieser ganzen Sache reichen so tief, dass sie Kundschafter im ganzen Land hat, die nach mir Ausschau halten – vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Die lockenden Toten werden immer wieder ihre Finger nach mir ausstrecken und es ist nur eine Frage der Zeit, bis …«
»Aber was, wenn Halloran falschliegt?«, fragte August und beugte sich vor. Er runzelte die Stirn und zeigte eine ungewohnte Ernsthaftigkeit, die, so fand sie, seinem rosafarbenen, jugendlichen Gesicht wirklich gut stand. »Er hat viel gelesen, was ich als Bibliothekar nur begrüßen kann, aber das heißt noch lange nicht, dass er alles weiß, was es zu diesem Thema zu wissen gibt, stimmt’s? Er sagte doch selbst, dass er, als sie all diese Jahre eingesperrt gewesen war, vielleicht die Möglichkeit hatte, sie zu vernichten. Sie ist immer noch dort draußen – viel geschwächter als zu der Zeit, als dein Vater sie wegsperrte. Wir könnten sie wieder einsperren oder versuchen sie zu töten. Nichts auf diesem Planeten ist unsterblich. Sie muss irgendeinen Schwachpunkt haben. Wenn sie in diese Welt gesetzt wurde, kann sie auch wieder zurückgeschickt werden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist zu schwer. Halloran und mein Vater haben es ein Mal geschafft, doch so wie er heute redet, glaubt er nicht, dass es möglich ist, sie noch einmal gefangen zu nehmen. Es gibt zu viel zu verlieren …«
»Das stimmt allerdings«, sagte er und deutete auf sie. »Wenn wir es nicht versuchen, können wir dich ihr auch gleich auf dem Silbertablett servieren! Ich stehe dir jetzt schon so lange zur Seite und habe nicht vor, das Handtuch zu werfen, nur weil es knifflig wird. Jetzt ist die Zeit, mutig zu sein und zuzuschlagen. Damit wird deine Mutter nicht rechnen. Sie erholt sich noch immer von den Jahren ihrer Gefangenschaft. Die Zeit ist reif für einen Überraschungsangriff, einen Tiefschlag. Wir bringen diese Sache an ihre Haustür, finden heraus, wo ihre Schwächen liegen, und räumen sie aus dem Weg, egal wie. Ein Pflock ins Herz, eine Silberkugel … Wir werden tun, was immer nötig ist. Hat Halloran nicht angedeutet, dass Sinistrari womöglich ein paar seiner Sachen zurückgelassen hat? Dann lass es uns tun. Los geht’s!«
Fast hätte er sie mit seiner Leidenschaft überzeugt, doch so ganz konnte sie seiner »Sturm auf die Normandie«-Haltung nicht folgen. Mehr als alles andere verdutzte sie seine Hingabe für ihre Angelegenheit. »Warum hilfst du mir überhaupt noch? Wäre es nicht viel leichter für dich, keine Ahnung … nicht ranzugehen, wenn ich anrufe? Eine andere Schicht zu übernehmen?« Sadie lächelte ihn verschämt an. »Ich weiß wirklich zu schätzen, was du alles getan hast, aber ich verstehe nicht, warum du so kampfesfreudig bist. Du wärst viel besser dran, wenn du all dies hinter dir lässt und so tust, als würdest du mich gar nicht kennen.«
August richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. »Das hat bei Halloran nicht so toll geklappt, oder?« Er seufzte und massierte sein Ohrläppchen zwischen seinen Fingern. »Weißt du, zuerst habe ich bei der Sache mitgemacht, um etwas zu tun zu haben. Es hörte sich interessant an, du warst eine gute Freundin und so dachte ich mir: ›Ach, warum denn nicht?‹ Doch nun vergehen die Tage, wir fallen immer tiefer in diesen Kaninchenbau und es wird immer unheimlicher. Aber weißt du, was mich nachts wirklich wach hält?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es mit einem Schulterzucken abzutun, so wie Halloran es getan hat. Jahrelang wusste er, was vor sich geht. Er hätte versuchen können, allem ein Ende zu bereiten, auch noch nachdem dein Vater gestorben war. Aber er war zu feige. Weißt du, du bist eine gute Freundin, Sadie, aber du bist nicht das einzige Opfer in dieser Angelegenheit. Du bist nur der erste Dominostein in einer langen Reihe, die, so wie es sich anhört, die ganze Welt zum Einsturz bringen wird. Aber … wenn wir dich davor bewahren können umzustürzen, dann können wir die Apokalypse verhindern, oder? Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber für mich ist das Anreiz genug, um weiterzumachen. Und noch etwas anderes: Es ist spannend . Je mehr wir erfahren und von dem Netzwerk freilegen, das hinter allem steckt, desto größer wird mein Drang, bis zum Herz der ganzen Sache vorzudringen. Ich mag gute Rätsel und auch wenn mir alles, was bisher geschehen ist, eine Heidenangst einjagt, kann ich nicht anders als weiterzumachen. Ich bin ganz süchtig nach dem Nervenkitzel, der an verlassenen Orten wartet, und danach, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Ich mach sonst nicht viel in meiner Freizeit. So viel Spaß hatte ich noch nie.«
»Verstanden. Nun, ich weiß es zu schätzen.« Ihr Lächeln verging ein wenig, als sie an ihr Treffen mit Halloran zurückdachte. »Aber denk dran … Halloran hat mich ausdrücklich gewarnt, als ich mit ihm gesprochen habe. Er hat mich gewarnt, dass es einen verändern und auf den Kopf stellen kann, wenn man sich zu sehr mit der Finsternis und dem Okkulten einlässt. Er hat es nicht weiter ausgeführt, aber …« Bilder von dem verwahrlosten, kettenrauchenden Mann, der wie ein Einsiedler lebte, schossen ihr durch den Kopf. »So interessant es auch sein mag, wir sollten versuchen, einen gewissen Abstand zu der Sache zu wahren. Ich glaube nicht, dass es klug wäre, das Haus aufzusuchen. Davor hat er mich ausdrücklich gewarnt.«
»Keine Sorge«, sagte er und stand auf. »Mir ist nicht danach, mich durch das Necronomicon zu blättern oder so etwas in der Art. Mein Interesse ist rein intellektuell. Und ja, der Typ wollte nicht, dass du verletzt wirst. Aber das alte Haus ist der beste Anhaltspunkt, den wir haben. Es gehörte Sinistrari – Ground Zero. Es ist schwer zu sagen, was wir alles finden könnten, wenn wir es erkunden.« Er runzelte die Stirn. »Hat er dir vielleicht gesagt, wo dieses Herrenhaus steht?« Er hob das Foto von dem Haufen mit den Schwarz-Weiß-Aufnahmen und beäugte es. »Dies ist das Haus, nehme ich an, aber … wir haben keine Adresse dafür, oder?«
Sadie stand auf und holte ihren Laptop. Sie stellte ihn auf der Küchenzeile ab, öffnete die Webseite mit den Satelliten-Karten und zeigte ihm die Aufnahme, die sie vorhin gefunden hatte. »Also«, begann sie, »ich behaupte nicht, dass dies die richtige Stelle ist, aber es scheint, als gäbe es dort ein Haus, das von Hügeln und Bäumen umgeben ist und das von den umliegenden Straßen aus nicht eingesehen werden kann. Es passt zu der Beschreibung, die mein Vater in seinem Tagebuch hinterlassen hat, aber wir werden nicht erfahren, ob es das richtige Haus ist, bis wir es von Nahem sehen.«
Er verglich die Neigung des Daches in dem Schwarz-Weiß-Foto mit dem unscharfen Satellitenbild. »Es könnte dasselbe Haus sein. Ich erkenne ein paar winzige Unterschiede in der Form des Daches, aber das liegt vermutlich daran, dass es über die Jahre verwittert und zu Bruch gegangen ist.« Er nickte. »Ich bin dafür, dass wir es wagen.«
»Bist du dir wirklich sicher?« Auf der einen Seite wollte sie seinem Plan zustimmen, doch auf der anderen klang ihr noch immer Hallorans Warnung in den Ohren. »Uns noch tiefer zu verstricken und weiter in diesen bösen Sachen zu wühlen … Vielleicht ist es nicht sicher. Es könnte uns verändern, August – so wie es Halloran verändert hat.«
Er rollte mit den Augen. »Ehrlich gesagt klingt es, als sei Halloran schon einer dieser New-Age-Spinner gewesen, bevor du überhaupt geboren wurdest. Seine Faszination für dieses Zeug war von Anfang an krankhaft. Ich will gar nicht mehr wissen, als unbedingt nötig ist. Wenn Sinistraris Unterlagen noch immer in dem Haus sind, erfahren wir vielleicht mehr über deine Mutter und ihre Schwachstellen. Und wenn wir so etwas nicht finden, dann treffen wir womöglich auf sie. Sie ist nicht gerade in bester Verfassung, stimmt’s? Nun, wir sind zu zweit und sie ist ganz allein. Ich finde, das Risiko ist überschaubar.«
»Soweit wir wissen, ist sonst niemand in dem Haus«, fügte sie hinzu. »Wer weiß, was dort alles auf uns lauert.« Sie legte sich die Hand auf die Stirn. »Wann würden wir denn gehen? Mein Krankentag verschafft mir genügend Zeit, aber wie sieht es bei dir aus?«
»Mein Terminkalender ist recht flexibel«, antwortete er. »Debra geht mir schon seit Tagen auf die Nerven, weil sie zusätzliche Schichten haben möchte. Ich glaube, sie und ihr Mann sparen auf ein Hausboot oder so etwas. Ich frage sie mal, an welchen Schichten sie Interesse hat. Vielleicht kann ich mir den Rest der Woche freinehmen, wenn sie so scharf auf zusätzliche Stunden ist. Theoretisch könnten wir schon morgen aufbrechen.«
Dieser Vorschlag ließ sie erschaudern, doch sie war froh, August an ihrer Seite zu haben – und dass er anscheinend alles unter Kontrolle hatte.
Er stapfte durch das Wohnzimmer und nahm sich den Rest der Schwarz-Weiß-Fotos. Zuerst betrachtete er sie abwechselnd, dann deutete er auf die Aktenmappe, die auch in der Schachtel gewesen war. »Hast du schon einen Blick hineingeworfen?«
»Nein«, antwortete sie. »Dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Ich habe in dem Tagebuch gelesen.«
August tauschte die Fotos gegen die Mappe aus und setzte sich damit wieder auf das Sofa. Er öffnete den Umschlag und las die körnige Schrift auf der ersten Seite im Flüsterton. Sie gesellte sich zu ihm und las über seine Schulter mit.
Sie sahen in eine Krankenakte. Der klobige Schriftsatz und das unästhetische Layout verrieten ihr, dass die Akte schon ziemlich alt sein musste, noch bevor sie einen Blick auf das Datum ganz oben auf der ersten Seite geworfen hatte. Besonders dick war die Akte nicht, was entweder auf fehlende Unterlagen oder auf einen nur kurzen Krankenhausaufenthalt deutete. Die erste Seite war voll schnörkeliger Unterschriften, an denen nur die medizinischen Titel wie »RN« und »MD« leicht zu entziffern waren.
Die Akte war auf den Oktober 1994 datiert und zeigte das grießige Logo einer ihr unbekannten Einrichtung: Carrow Lake Hospital. Das gelbliche Papier darin kringelte sich schon und war in den Jahren seiner Archivierung ganz rau geworden. Die dunkle Schrift war staubig, aber noch immer lesbar. »Wessen Akte ist das?«, murmelte sie.
August blätterte auf die nächste Seite, und dort fand sie ihre Antwort.
Die Ecke links oben und die ganze untere Hälfte der Seite waren mit in Spalten getippten und handgeschriebenen Einträgen vollgestopft. Doch es war das Schwarz-Weiß-Foto oben rechts, das all ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und den Rest der Seite wie von einem Schleier bedeckt aussehen ließ.
Ein blasses Gesicht blickte von der Seite zu ihr herauf – ein Gesicht mit solch schönen und friedvollen Zügen, dass es fast nicht menschlich erschien. Eine wohlgeformte Stupsnase, ein lächelnder Mund mit vollen Lippen und zwei liebliche, wenn auch intensive Augen, die zwischen zwei Vorhängen aus perfekt geglättetem schwarzem Haar hervorschauten. Sadie stockte der Atem, als sie die körnige Fotografie erblickte.
Sie starrte auf ein Gesicht, das ihr unzählige Male im Traum erschienen war.
Das Gesicht ihrer Mutter.
Zu ihrer Überraschung war Augusts Reaktion auf das Foto fast genauso stark wie ihre eigene. Das verwitterte Papier raschelte in seinen zitternden Händen. Behutsam legte er die Akte auf das Sofa und griff sich die alten Fotos. Er war ganz blass im Gesicht.
»Was ist los?«, fragte sie. Der plötzliche Wandel seiner Gemütslage beunruhigte sie.
»S-sieh doch«, sagte er, während er sich durch den Bilderstapel wühlte und eines der Fotos hervorholte. Er hatte es ein paar Sekunden lang betrachtet, als er unruhig auf seinem Platz umherrutschte und ein hohes, erstauntes Lachen ausstieß. Aber dann führte er es näher an sein Gesicht heran, bis seine kleine, spitze Nase es fast berührte, und machte große Augen. Seine Heiterkeit war schlagartig verschwunden. Er warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu und murmelte: »Sadie … Was ist das?«
Sie war sich nicht sicher, wovon er sprach, und schüttelte sachte den Kopf. »Äh … Was meinst du?«
»Warum hast du mir davon nichts erzählt?« Er drehte das Foto in seiner Hand um, damit sie es sehen konnte. Das Foto zeigte das Sanatorium im Hintergrund und eine Gruppenaufnahme davor. Eine Handvoll Männer in schicken Anzügen, wie man sie im frühen 20. Jahrhundert trug, stand hinten, während eine Gruppe von Frauen in altmodischen Kleidern davor saß. Ein paar von ihnen trugen Sonnenschirme und weiße Seidenhandschuhe. Das Foto war augenscheinlich vor fast 100 Jahren gemacht worden.
»Tut mir leid …«, entgegnete sie, »aber ich kenne niemanden von ihnen. Wahrscheinlich haben sie etwas mit dem Sanatorium zu tun, aber …« Sie kicherte. »Es ist ein altes Foto. Sieht aus wie aus den 1920ern oder 30ern.«
Er nickte stumm, während seine Augen von einer Ecke des Fotos zur nächsten sprangen. »Tja, ich schätze, du hast nicht besonders gut hingesehen, was?«, sagte er. »Es stammt sicherlich aus dieser Zeit … irgendwann in den 20ern oder 30ern …« Er atmete tief durch und räusperte sich, dann warf er es in Sadies Schoß und deutete nachdrücklich auf etwas, das darauf zu sehen war. »Und warum um alles in der Welt ist deine Mutter darauf zu sehen?«
»Hä? Wovon redest du?« Sadie nahm das Foto erschrocken in die Hand, beäugte es fieberhaft und blickte noch einmal in die Gesichter der abgebildeten Personen. Sie betrachtete jede der dort sitzenden Frauen, aber nichts in ihren Gesichtern kam ihr sonderlich bekannt vor. »Hör mit deinen Spielchen auf …«
Plötzlich verstummte sie. Sadie richtete ihr Augenmerk auf eine der abgebildeten Personen ungefähr in der Mitte des Fotos – eine Frau, die allein auf dem Rasen saß, vor den Füßen der anderen. Sie trug ein fließendes weißes Kleid und ihr langes schwarzes Haar, das sie sich hinter ihre beiden elfenhaften Ohren geklemmt hatte, hing wie ein Ölteppich an ihren Schultern herab.
Sadie griff die Ecken des Fotos so fest, dass sie es zerknautschte.
Als wäre es notwendig, es noch einmal zu überprüfen, schnappte sich August die Krankenakte und schlug die Seite mit dem Foto von Sadies Mutter auf. Dann nahm er behutsam das Gruppenfoto aus Sadies Händen, brachte beide hinüber zur Küchentheke, schaltete das Licht über der Spüle ein und ließ eine Minute lang seinen Blick zwischen den beiden Aufnahmen hin- und herpendeln, wobei die Furche auf seiner Stirn immer tiefer und der Ausdruck auf seinem Gesicht immer düsterer wurde. »Das … Das ist die unheimlichste Sache, die ich je gesehen habe. Sie ist es, keine Frage – dieselbe Frau. Diese Fotos wurden in einem Abstand von 60 oder 70 Jahren aufgenommen, aber sie ist keinen Tag älter geworden!«
Sadie blieb auf dem Sofa sitzen. In diesem Augenblick war ihr nicht danach aufzustehen.
»Dies ist wie eins von diesen schrägen retuschierten Bildern von Zeitreisenden, die immer wieder im Internet auftauchen, wo auf Fotos aus der Zeit des Bürgerkriegs plötzlich iPhones zu sehen sind. Gibt es hier ein Gasleck? Hast du mir etwas eingeflößt?« Er schauderte. »Das ist verrückt. Sie ist es wirklich. Ich meine, ich hatte keinen Zweifel an deinen Schilderungen, aber … deine Mutter ist wirklich so was wie … wie ein …«
Natürlich wusste sie, dass ihre Mutter ein unsterbliches Monster war, aber diese beiden Fotos zu betrachten und den bildlichen Beweis zu sehen, dass sie fast ein ganzes Jahrhundert überdauert hatte, war trotzdem ein Schock für sie. »Ich wusste nicht, dass sie auf dem Foto ist …«, murmelte sie. »Ich … Ich kann mich nicht erinnern, sie darauf gesehen zu haben. Ich habe doch nur einen kurzen Blick darauf geworfen.«
August schlug die Beine übereinander und fummelte zwanghaft an dem zerfransten Aufschlag seiner Hose. »Wer oder was ist sie?«
Da sie keine befriedigende Antwort auf diese Frage wusste, richtete Sadie ihre Aufmerksamkeit auf die anderen lächelnden Personen auf dem Bild.
»Wenn wir schon dabei sind, wer sind die anderen? Ich dachte, es ist nur ein Gruppenfoto vom Personal oder von ein paar Besuchern, als ich es zum ersten Mal gesehen habe.«
»Kann schon sein … aber die Tatsache, dass sie dabei ist, spricht dagegen, wenn du mich fragst. Es sieht aus, als würden sie grinsen, weil sie alle in denselben Scherz eingeweiht sind.« Wie ein Irrer, der nicht still sitzen konnte, hüpfte er vom Sofa und lief zurück in die Küche. »Wenn wir herausbekommen, wer diese Leute sind, da gehe ich jede Wette ein, finden wir eine Verbindung zu der Sekte.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, während er das Foto sorgfältig betrachtete. »Ich frage mich, ob Sinistrari darunter ist …«
Sie gesellte sich zu ihm und stierte auf das Foto, und ihr Blick auf die grinsenden Gesichter holte eine weitere verborgene Erinnerung hervor. »Warte mal, ist das …?« Sie deutete mit einem zitternden Finger auf eine der sitzenden Frauen. »Ich glaube, das ist … Margot Blake.«
August dachte ein paar Sekunden nach. »Die Madenmutter?«
»Ich habe ihr Gesicht in dem Spiegel gesehen, den wir aus diesem Haus mitgenommen haben. Sie ist es«, sagte sie mit größerer Gewissheit.
»Nun, das überrascht mich nicht. Dies ist wahrscheinlich das Who’s Who der Sekte. Sieh sie dir doch nur an, so breit grinsend wie die dicksten Freunde. Warum sonst hätte dein Vater dieses Foto aufbewahren sollen? Ich bin mir sicher, dass es von Bedeutung ist.« Er erlaubte sich ein kleines Lächeln und zeichnete mit seiner Fingerspitze ein »X« über das Gesicht von Margot Blake. »Wenn dies ein Foto von deiner Mutter und, sagen wir mal, ihren Groupies ist, dann haben wir diese hier schon unschädlich gemacht. Wie viele andere gibt es wohl noch, die wie die Madenmutter versuchen, den Dämon mit noch mehr Leid zu füttern?«
Sie erinnerte sich nicht zum ersten Mal an Ophelias Beschreibung der ganzen Sache: ein schwarzer Baum mit zahllosen Wurzeln, der sich in die Höhe reckt. Den Baum zu fällen hatte sich im Laufe der Jahrhunderte als wirkungslos erwiesen, weil sein Wurzelwerk unberührt geblieben war. »Wahrscheinlich gibt es noch viele Wurzeln, die durchtrennt werden müssen«, stimmte sie zu.
August warf einen Blick auf die Uhrzeit. »Also gut, ich rufe jetzt Deb an. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht will sie ja schon meine vier Stunden morgen übernehmen, um sich ein bisschen Hausboot-Geld zu verdienen.« Er stand auf und ging in den Flur, um seinen Anruf zu tätigen.
Auch wenn sie mittlerweile wusste, dass sie die geheime Schachtel ihres Vaters mit äußerster Vorsicht betrachten musste, so erschien sie ihr aber auch als ein riesiger Schatz – und als ein Werkzeug, mit dem er ihnen sogar noch aus seinem Grab heraus behilflich sein konnte. Er war bei dem Versuch, sich ihrer Mutter entgegenzustellen, ums Leben gekommen, doch seine Nachforschungen lebten weiter. Sie teilte zwar Augusts entspannte Haltung nicht, erkannte aber die riesige Chance, die sich vor ihnen aufgetan hatte.
Ihre Mutter war ein Vierteljahrhundert lang eingesperrt gewesen und ihrer teuflischen Nahrung beraubt worden. Auch wenn sie jetzt wieder frei war, würde die dämonische Hexe von Winslow Manor eine gewisse Zeit brauchen, um ihre alte Stärke zurückzuerlangen. Das verschaffte Sadie und August die Möglichkeit, die Unterlagen zu nutzen, die ihnen zahlreicher und erhellender zur Verfügung standen, als sie es je angenommen hatten, um einen Überraschungsangriff auszutüfteln und diesem Albtraum, der seit fast 100 Jahren wütete, ein Ende zu bereiten. Es war möglich, dass ihr einziger Verbündeter in diesem Fall, Halloran, dem Feuer zum Opfer gefallen war, das noch immer sein Haus heimsuchte – aber er hatte ihr viel erzählt.
August hatte eine erfreuliche Nachricht zu verkünden, nachdem er seinen Anruf beendet hatte und zurück zum Sofa geschlendert war. »Man mag es kaum glauben, aber Debra will wirklich morgen für mich einspringen. Außer am Freitag kann sie auch alle meine anderen Schichten in dieser Woche übernehmen. Sieht aus, als hätten wir morgen etwas vor.«
Sadie blickte hinunter auf den Abzug von Winslow Manor auf dem Couchtisch und nickte. »Sieht so aus …«