12

Als sich der Sturm gelegt hatte, brach August auf. Er wollte die üblichen Sachen zusammenpacken – Lampen, Kameras, Proviant – und noch etwas schlafen, bevor sie in aller Frühe aufbrachen. »Wir sollten uns gleich nach Sonnenaufgang auf den Weg machen. Wir wollen so viel Tageslicht wie möglich haben.«

Wieder allein, aber von den Gesprächen mit August gestärkt nahm Sadie die Krankenakte mit ins Schlafzimmer und setzte sich in ihrem Pyjama auf das Bett, um sie zu lesen. Einen langen Augenblick betrachtete sie das Foto ihrer Mutter auf der ersten Seite und fühlte sich dabei zur selben Zeit entsetzt und sonderbar wehmütig.

Sie hatte ihre Jugend damit zugebracht, in den Familienalben nach einem Bild wie diesem hier zu suchen, und da sie ihre Mutter nie kennengelernt hatte, sehnte sie sich danach, ihre Gesichtszüge zu betrachten und sie wenigstens ein bisschen besser kennenzulernen. Das war der Grund, warum sie, auch wenn die Wahrheit schrecklich war, dieses Foto nicht völlig verachtenswert fand. Es anzuschauen brachte sie, wenn auch nur kurz, zurück in ihre Kindheit, als sie sich durch die alten Schuhkartons voller Fotos wühlte, die ihrem Vater gehörten, und davon träumte, ein normales Mädchen mit zwei Elternteilen zu sein.

Aber nun wusste sie, dass ein gewisser Schatten auf solchen Bildern lag.

Die Person auf dem Foto war keine Frau.

Das war eine Erkenntnis, die sie, das musste sie sich eingestehen, zutiefst frustrierte, denn Sophia Winslow schien in jeder Hinsicht nur eine einfache – wenn auch bildhübsche – Frau zu sein. Mit dem Wissen, über das sie nun leider Gottes verfügte, glaubte Sadie ein Glimmen in diesen fesselnden Augen zu erkennen, die so verschmitzt von dem Papier zu ihr heraufblickten, und obwohl die Bildqualität nicht besonders gut war, verströmten sie doch den Beigeschmack von etwas Sonderbarem, etwas Jenseitigem, das auf ihren Betrachter zugleich entwaffnend und schreckenerregend wirkte.

Für die meisten Menschen bedeutete ein Blick auf das Gesicht von Sophia Winslow, sich erschüttert und angezogen zu fühlen, ohne so recht zu wissen, warum. Aber Sadie kannte das Geheimnis hinter dieser aufregenden Gegensätzlichkeit. Das hübsche Gesicht mit den winzigen Grübchen auf den Wangen und der makellosen Haut vereinnahmte den Betrachter, schaffte es aber nicht, die unaussprechliche Finsternis zu verbergen, die darunter lauerte.

Woher war ihre Mutter gekommen? War sie jemals eine normale Frau gewesen oder war sie schon in dieser Gestalt, die ganz und gar aus einem teuflischen Holz geschnitzt war, auf diese Welt gekommen? Sadie fing an, sich durch die Akte zu blättern, und hoffte, darin ein paar Antworten zu finden. Besonders weit kam sie nicht, denn eine unerwartete Müdigkeit übermannte sie und würde sie schon bald in den Schlaf versinken lassen, doch sie fand genug, das viel mehr Fragen als Antworten aufwarf.

Sie ertrug den Blick nicht mehr, mit dem das Foto sie bedachte, und so riss sie ihre Augen davon los und richtete sie nach links zu der gedruckten Überschrift. MEDIZINISCHER BERICHT – OBSTETRIK. Darunter waren solche Angaben wie der Name der Patientin, das Datum der Aufnahme und das Datum der Entlassung dokumentiert.

Sophia Winslow. Aufnahme: 11. Oktober 1994, 17:50 Uhr. 1 × Lebendgeburt. Entlassung: 14. Oktober 1994, 16:08 Uhr.

Ihr Atem wurde immer schneller, als sie sich die Angaben immer und immer wieder durchlas. Zwischendrin wanderte ihr Blick zurück zu dem Foto, als wollte sie das lächelnde Motiv inständig um eine Erklärung bitten. Sie war nur drei Tage lang im Krankenhaus. Mir wurde immer gesagt, sie sei bei der Geburt gestorben, doch hier ist der Beweis, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Halloran hat mir die Wahrheit gesagt … Sie ist mit mir davongelaufen und im Sanatorium verschwunden … Auch wenn das Gespräch mit Halloran ihr schon den wahren Sachverhalt dargelegt hatte, so versetzten ihr die Aufzeichnungen in der Akte doch einen Stich. Sie wollte es nicht glauben und hätte sich viel lieber wieder in die erfundene Geschichte geflüchtet, an die sie sich seit ihrer Kindheit geklammert hatte. Sie las die Akte auf Armeslänge, grübelte zum x-ten Mal über die ersten paar Zeilen nach und murmelte die Worte Silbe für Silbe vor sich hin, als würde sie versuchen, irgendeine tote Sprache zu übersetzen.

Sadie war am 12. Oktober 1994 geboren worden, einen Tag nach der Aufnahme, die in dieser Krankenakte verzeichnet war. Sie versuchte die hingekritzelten Bemerkungen auf der Seite zu entziffern, doch das Kauderwelsch schien nicht mehr als ein paar Notizen über einen Routineeingriff zu beinhalten. Die nächste Seite – eine Anamnese, die glücklicherweise mit der Maschine geschrieben worden war – brachte etwas mehr Licht ins Dunkel.

11. Oktober 1994, 16:46 Uhr: Patientin kommt in die Aufnahme, berichtet von Wehen in einem Abstand von weniger als fünf Minuten. Kindsvater hat sie mit dem Auto hergebracht. Überweisung an die Wochenstation.

11. Oktober 1994, 17:50 Uhr: Patientin in die Wochenstation aufgenommen. Wehen werden überwacht, kommen regelmäßig. Patientin trotz Wehenschmerzen in guter Stimmung. Dr. Marlowe wurde verständigt.

Es folgten weitere Einträge dieser Art bis ganz nach unten auf der Seite und umrissen in groben Zügen, so schien es, einen gewöhnlichen Krankenhausaufenthalt und eine ganz normale und gesunde Geburt. Wiederholt vermerkten die Krankenschwestern und Ärzte, dass die Patientin »in bester Stimmung« und »voller Vorfreude« war. Eine Krankenschwester berichtete kurz vor der Geburt: »Wehen folgen nun unmittelbar aufeinander; Patientin klagt kaum über Beschwerden.«

Allem Anschein nach hatte Sophia Winslow eine Entbindung ohne einen einzigen Zwischenfall.

12. Oktober 1994, 01:01 Uhr: Natürliche Entbindung, keine Komplikation en. Mädchen. Gesund.

Dann folgte die Stelle, an der Sadies erste Minute auf der Erde festgehalten wurde. Sie las fieberhaft weiter und suchte nach einem Eintrag, in dem der gesundheitliche Verfall ihrer Mutter beschrieben wurde, fand aber keinen.

12. Oktober 1994, 03:12 Uhr: Vitalparameter gemessen.

12. Oktober 1994, 08:02 Uhr: Vitalparameter gemessen.

12. Oktober 1994, 08:30 Uhr: Patientin in den Ruheraum verlegt. Vater des Kindes und seine Eltern anwesend.

Der Rest des Anamnesebogens bestand aus ähnlich unmaßgeblichen Einträgen und auch der Entlassungsbericht enthielt nichts von Bedeutung. Eine Schwester hatte nur dies in sauberer Schreibschrift auf dem Entlassungsschein vermerkt:

Patientin erholt sich bemerkenswert schnell – sehr robuste Konstitution. Lehnt Schmerzmittel ab. Blutung fast gestoppt. Keine Schwierigkeiten bei der Laktation. Stillt das Kind regelmäßig. Für die Entlassung freigegeben von Dr. Marlowe. Wird vom Kindsvater nach Hause gebracht.

Allem Anschein nach war dies die Dokumentation einer lehrbuchmäßigen Geburt und das Porträt einer glücklichen Frau, ihres Partners und eines gesunden Neugeborenen.

Unter den Notizen waren noch andere, die den Verlauf beschrieben und von Ärzten angefertigt worden waren, die sowohl die Mutter als auch das Kind vor der Entlassung untersuchten. Doch der Schlaf übermannte Sadie, bevor sie sich tiefer in sie einlesen konnte. Sie schaffte nur einen Eintrag und hatte ihre liebe Mühe, die hingeschmierte Handschrift zu entziffern. Doch als es ihr gelang, offenbarte sich ihr etwas wirklich Seltsames.

Es ist uns nicht gelungen, den Puls und die Temperatur der Patientin festzustellen. Der Puls scheint zu schwach zu sein, um ihn nachzuweisen, und das Thermometer funktioniert nicht ordnungsgemäß, warum auch immer, und zeigt jedes Mal einen Wert an, der nur knapp über Zimmertemperatur liegt. Es ist wirklich rätselhaft und ich kann nur annehmen, dass die ganze letzte Charge von Thermometern defekt ist. Doch die Patientin scheint stabil und bei guter Laune zu sein und will möglichst schnell nach Hause. Ich sehe keinen Grund, sie länger hierzubehalten, habe ihr aber geraten, noch eine Nacht zu bleiben, damit wir die Blutung und die Laktation kontrollieren können.

Da ist noch etwas. Obwohl sie bei ihrer Einweisung behauptete, dass dies ihre erste Geburt war, bemerkte ich während der Voruntersuchung gewisse Anzeichen, dass das nicht stimmt – es gibt sogar eindeutige Hinweise im Muttermund, die darauf schließen lassen, dass sie womöglich schon mehrere Kinder zur Welt gebracht hat. Als ich die Patientin im Vertrauen darauf ansprach, lächelte sie nur. Ich kenne die Gründe nicht, warum sie deswegen lügen würde, nehme aber an, dass sie ihre Vergangenheit für sich behalten möchte.

Das Letztgenannte war wenig überraschend, wenn man sich die nebulöse Vergangenheit von »Sophia Winslow« anschaute. Die hübsche Hexe hatte sich schon als »Evelyn Renfield«, »Candice Kellermeyer« und andere ausgegeben und war dann mit ihren Neugeborenen verschwunden und nie wiedergefunden worden. Aber jetzt wusste Sadie, wohin diese Kinder gebracht worden waren, warum man sie hatte verschwinden lassen und was aus ihnen geworden war …

Der Schlaf suchte sie schließlich heim und sie döste bis zum Tagesanbruch. Ihre Träume waren diffus und impressionistisch und zeigten Szenen voll schwarzem Nebel und einer schleichenden Angst vor etwas, das sich bald manifestieren sollte. Die Sonne vertrieb den Nebel, sowohl den echten als auch den in ihren Träumen, doch diese Angst blieb auch noch, als sie aufstand und sich für ihren geplanten Streifzug fertig machte.

»Nimm es einfach!« Sadie drückte ihm das Geld in die Hand, als sie in dem Drive-in warteten.

»Okay, okay!« Er steckte seine Brieftasche ein und reichte ihre zerknüllten Scheine der Frau hinter dem Ausgabefenster. Nachdem sie in einer langen Reihe von Autos am örtlichen Donutladen gewartet hatten, bestand sie darauf, für ihr Frühstück zu bezahlen. Das war, so behauptete sie, das Mindeste, was sie für all seine Hilfe tun konnte, und sie drückte ihm ihr Bargeld in die Hand, bis jeder ritterliche Impuls in ihm zerschmettert war.

Mit großen Kaffeebechern in den Becherhaltern und mehr Donuts, als sie würden essen können, fuhren sie von dem vollgestopften Parkplatz des Ladens bedächtig zu der Abfahrt, die sie nach Tiffin führen würde. August, der seine unansehnliche Krawatte gegen ein praktischeres Outfit getauscht hatte – Jeans, Stiefel und eine dunkelblaue Leinenjacke –, hatte eines seiner historischen Hörbücher für die Fahrt eingelegt, doch er hörte nur mit halbem Ohr hin. Seine Gedanken lösten sich von dem Albigenserkreuzzug und wandten sich stattdessen dem abgeschiedenen Herrenhaus zu, das sie heute aufsuchen wollten. Er nahm sich einen Donut, nippte geistesabwesend an seinem Kaffee und konzentrierte sich mit geschürzten Lippen auf die Straße, die vor ihnen lag.

Sadie dagegen stopfte sich voll. Sie hatte am Vortag so gut wie gar nichts gegessen und die mangelnde Kalorienzufuhr machte ihr nun zu schaffen. Einem Boston Cream folgten zwei Spritzkuchen mit Schokoglasur, ein Apfelkrapfen und die Hälfte von Augusts Kirschplunder. Als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, war ihr Magen so mit Teigwaren und Kaffee gefüllt, dass sie schon spürte, wie es ihr die Kehle hochgekrochen kam. Sie schob ihren Sitz ein Stück nach hinten, nahm sich das Tagebuch ihres Vaters vor und versuchte, den Rest davon zu lesen, bevor sie ankamen. Sie hoffte, darin ein paar Einblicke in das Haus zu finden, das sie zwischen den Hügeln und Kiefern vermutete.

Der folgende Ausschnitt, der hinter den Überresten von mehreren herausgerissenen Seiten stand, war augenscheinlich ein paar Wochen nach dem letzten verfasst worden:

Heute zu Mittag gegessen und einen Ausflug in den Botanischen Garten unternommen. Sophia gefielen die Wildblumen und wir saßen eine Weile am Fuß der Brücke und sahen dem Bach darunter zu.

Doch während des Mittagessens ist etwas Sonderbares geschehen. Wir gingen für einen Snack hinüber ins Corner Grille, das sich ganz in der Nähe der Gärten befindet, und nachdem wir uns einen Platz gesucht hatten, machte ich mich auf den Weg zu den Toiletten. Zur selben Zeit bezahlte ein älterer Mann – ich denke, er muss wenigstens 70 Jahre alt gewesen sein – seine Rechnung. Und als er von seinem Tisch aufstand, bemerkte er mich und Sophia, die nur ein paar Tische weiter saß. Mich beachtete er nur einen Moment lang – doch Sophia starrte er an. Und dann geschah etwas mit ihm, das ich äußerst seltsam fand. Sein Gesicht wurde puterrot und er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Ich kam auf meinem Weg zu den Toiletten an ihm vorbei und der Ausdruck auf seinem Gesicht machte mir Sorgen. Ich fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Er packte meinen Arm – der arme Kerl zitterte – und murmelte, während er immer noch Sophia anstarrte: »Es … Es ist … Nora …«

Ich war mir nicht sicher, was er damit sagen wollte, und blickte zurück zu Sophia, die zufrieden an ihrem Eistee nippte. Ich fragte ihn noch einmal, ob alles in Ordnung sei. Als er meine Stimme hörte, blinzelte er ein paarmal und schien seine Fassung wiederzuerlangen. »Diese Frau dort drüben …«, sagte er. »Wie ist ihr Name?« Ich wusste nicht so recht, warum er fragte oder wie viel ich ihm erzählen sollte, doch schließlich verriet ich ihm, dass sie Sophia hieß. Das beruhigte ihn sichtlich. Er tätschelte meinen Arm, lächelte verlegen und schüttelte den Kopf. Und dann erklärte er mir, warum er sich so sonderbar aufgeführt hatte.

»Diese Frau«, sagte er, »ist das genaue Ebenbild von einer Frau, die ich früher einmal kannte – und liebte. Ihr Name war Nora. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Seit vielen, vielen Jahren. Sie ist verschwunden, wissen Sie? Aber …« Er deutete schwach auf Sophia. »Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt habe. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Er hielt kurz inne und beäugte Sophia, als würde er sie in sich aufsaugen wollen, und ging dann zur Kasse.

Der alte Mann, der Sophia mit seiner lange verlorenen Liebe verwechselt hatte, tat mir leid. Ich machte mich frisch und kehrte an unseren Tisch zurück, wo wir ein leckeres Mittagessen zu uns nahmen. Es kam mir nicht in den Sinn, meine Begegnung mit dem alten Kerl zu erwähnen, doch im Nachhinein betrachtet hätte ich es tun sollen. Ich bin mir sicher, Sophia hätte ihre Freude daran gehabt.

Der nächste Eintrag in der Reihe war nicht vollständig und erschien nach mehreren rausgerissenen Seiten. Der Anfang war entfernt worden, doch so viel war geblieben:

… will ihren Vater kennenlernen. Sie lehnt es jedoch ab – und an einer Hochzeit hat sie kein Interesse. Ich dränge sie immer wieder, darüber nachzudenken. Ich sagte ihr, ich könnte Geld für einen Ring und eine Wohnung zurücklegen. Wir könnten zusammen in der Stadt leben, doch davon will sie nichts wissen.

Sie will in diesem alten Haus bleiben, auch wenn man so ehrlich sein muss zu sagen, dass es nicht gut genug in Schuss ist, um darin zu leben. Auf keinen Fall ist es geeignet, um darin ein Kind unterzubringen. Ich habe darauf bestanden, dass wir uns eine Geburtshelferin für regelmäßige Kontrolluntersuchungen nehmen. Ich wollte Überstunden machen, um dafür zu bezahlen, doch sie hat daran augenscheinlich kein Interesse. Eigentlich ist sie ziemlich unbekümmert, was die ganze Sache angeht. Gestern Abend habe ich es noch einmal versucht und sie hat mir ohne den Hauch einer Gefühlsregung eine Abfuhr erteilt – keine Spur von Nervosität oder Unbehagen, sondern nur das ruhige Lächeln, das sie immer auf den Lippen trägt.

Ich wollte nicht, dass es passiert. Ich habe ein paar Nächte bei ihr verbracht und ich muss gestehen, dass ich die Kontrolle verloren habe. Ich habe sie gebeten, dass sie mich das Richtige tun lässt – sie zu heiraten. Ich liebe sie und verbringe sowieso jede freie Minute mit ihr. Ich hatte schon länger darüber nachgedacht, ihr einen Antrag zu machen, wollte aber nichts übers Knie brechen. Jetzt ist das ganze Knie kaputt, um es mal so zu sagen. Ich will für sie und das Baby sorgen und meiner Verantwortung nachkommen. Aber sie lacht mir nur ins Gesicht. Noch habe ich nicht aufgegeben und wenn ich mit ihrem Dad reden kann, werde ich versuchen, ihn auf meine Seite zu ziehen. Noch habe ich nur Marcus davon erzählt. Mom und Dad wissen, dass ich mit einem Mädchen vom Land was Ernstes angefangen habe, aber wenn sie hiervon hören, werden sie ausrasten.

Der nächste Eintrag:

Von einer Heirat will sie nichts hören. Sie hat zugestimmt, zum Arzt zu gehen und sich untersuchen zu lassen, aber nur weil ich darauf bestanden habe. Es ist bizarr. Die meisten Frauen, die ich kenne, waren wegen ihrer ersten Schwangerschaft wenigstens ein bisschen nervös. Nicht sie. Es ist fast so, als hätte sie das alles schon einmal durchgemacht.

Sie benimmt sich seit der Schwangerschaft auch anders. Damit will ich nicht sagen, dass sich ihre Stimmung großartig geändert hat, sondern dass sie sich mir gegenüber anders verhält. Früher war sie immer froh, mich zu sehen, aber nun redet sie kaum noch mit mir. Sie ist nicht gerade abweisend, zeigt aber keinerlei Interesse an mir, fast so, als wäre es ihr völlig gleichgültig, wenn ich sie nie wieder besuchen würde. Ich verstehe diesen Wandel nicht, aber ich will auch nicht wie ein Jammerlappen dastehen, und darum habe ich bisher nichts gesagt. Nach der Arbeit gehe ich immer wieder zu ihr, bringe Lebensmittel und frage sie, ob sie ausgehen möchte. Manchmal nimmt sie meine Einladungen an, manchmal ist sie gar nicht zu Hause, wenn ich komme.

Es ist dämlich, aber ich fühle mich ausgenutzt – als hätte sie dies die ganze Zeit geplant, und nun, seit das Baby unterwegs ist, hat sie keine Verwendung mehr für mich.

Der nächste Eintrag:

Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Ich hoffe, dass mir das Schreiben hilft, meine Gedanken zu sortieren.

Heute Abend musste ich lange arbeiten, fast bis zehn Uhr, und dann bin ich mit einigen Einkäufen zu ihr gefahren. Ich wollte mit ihr reden, vielleicht über unsere Zukunft sprechen, doch als ich das Haus erreichte, kam niemand an die Tür. Ich stand ein paar Minuten lang dort draußen und klopfte immer wieder an, doch niemand öffnete. Ich dachte mir, dass sie vielleicht schon schlafen würde. Sicherlich würde sie zu solch einer späten Stunde keinen Spaziergang mehr machen und sie hatte kein Auto, um in die Stadt zu fahren, und kein Telefon, um sich ein Taxi zu rufen.

Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber ich versuchte, die Tür zu öffnen, und fand sie unverschlossen vor. Sie war tatsächlich nicht zu Hause und ich fragte mich, wohin um alles in der Welt sie nur gegangen sein konnte. Ich machte mir Sorgen, und so entschied ich mich, die Einkäufe hineinzubringen und auf sie zu warten. Da kam mir der Gedanke, dass wenigstens ihr Vater da sein musste und dass ich mich vielleicht mit ihm unterhalten könnte. Trotz all meiner Besuche hatte ich es bisher nicht geschafft, den Mann kennenzulernen.

Ich betrat also das Haus und sah, dass das Feuer im Kamin immer noch brannte. Ich stellte meine Einkäufe ab und machte mich auf den Weg durch das Haus. Dabei benutzte ich eine der alten Öllampen, die Sophia überall stehen ließ, um zur Treppe zu gelangen. Ich ging hinauf, sah mich in den Zimmern um und trat dabei genug auf, um meinen Besuch anzukündigen und Mr. Winslow nicht unnötig zu erschrecken.

Doch alle Zimmer waren leer.

Ich meine es ernst – dort oben war niemand. In einem der Zimmer fand ich einen alten Rollstuhl, der neben einem der Fenster stand, doch dort oben war niemand und alles sah aus, als wäre hier schon lange niemand gewesen. Ich bin die Räume noch einmal durchgegangen und die ganze Suche hat mich ziemlich aufgewühlt.

Und dann bin ich wieder nach unten gegangen, zurück zum Feuer. Sophia saß vor dem Kamin. Frische schwarze Erde klebte an ihren Füßen und sie trug ihr übliches unbeschwertes Lächeln auf den Lippen. Ich entschuldigte mich für mein ungebetenes Eintreten und erwähnte die Lebensmittel, die ich mitgebracht hatte. Ich fragte sie auch – so unaufdringlich ich nur konnte –, wo sie gewesen war. Ich konnte sehen, dass sie draußen herumgelaufen sein musste, wahrscheinlich in den Wäldern, aber ich hatte keinen Schimmer, was jemanden dazu bewegen würde, barfuß durch die Dunkelheit zu spazieren – besonders eine schwangere Frau.

Es erschien mir schrecklich unglaubwürdig.

Sie antwortete mir, ohne mich auch nur anzusehen. Ihr Blick blieb wie gebannt auf das Feuer gerichtet. »Hast du meinem Vater Hallo gesagt, während ich fort war?«, fragte sie – und in diesem Augenblick hörte ich laut und deutlich das Geräusch des Rollstuhls, der sich im oberen Stockwerk über den Fußboden bewegte. Ich wäre vor Schreck fast umgekippt und gestand ihr, dass ich nach oben gegangen war, um nach ihm zu suchen, ihn aber verpasst haben musste. Sie nickte gedankenverloren und bedankte sich für die Einkäufe. Ich fasste dies als meine Verabschiedung auf und verließ das Haus.

Was hatte sie so spät noch in den Wäldern zu suchen? Ich habe kein Recht, sie zu kontrollieren, aber … sie ist mit meinem Kind schwanger! Ist es wirklich so eine tolle Idee, kurz vor Mitternacht noch in den finsteren Wäldern herumzustreunen – und das ohne Schuhe? Gibt es hier noch andere Häuser? Jemanden, den sie besucht, wenn ich nicht bei ihr bin? Vielleicht bin ich einfach nur paranoid, aber … selbst nach all dieser Zeit weiß ich nur recht wenig über sie. Es ist durchaus möglich, dass es da noch jemand anderen gibt.

Und was ist mit ihrem Vater? Sie hat von ihm gesprochen, wenn auch nur spärlich, doch ich habe nicht die geringste Spur von ihm gesehen. Mehr noch, ich weiß, dass niemand oben war. Hatte er sich vor mir versteckt? Nein, das ist albern. Warum sollte er sich verstecken?

Etwas an dieser ganzen Sache kommt mir seltsam vor und ich werde herausfinden, was es ist. Morgen habe ich frei und werde den Tag nutzen, um ein paar Nachforschungen anzustellen. Ich denke, ich werde auch Marcus um Hilfe bitten.

Der nächste Eintrag:

Ich weiß nicht mehr weiter. Auf der einen Seite ist sie mir sehr wichtig. Sie trägt mein Baby in sich und ich möchte, dass es mit uns beiden klappt.

Doch andererseits …

Nun, die Situation mit Sophia hat sich verändert. Und jedes Mal wenn ich eine Antwort auf eine meiner Fragen finde, stoße ich auf ein neues Rätsel. Wer ist diese Frau eigentlich? Woher kommt sie? Hat sie schon immer mit ihrem Vater in diesem heruntergekommenen Haus gelebt, völlig abgeschnitten vom Rest der Welt? Wie lange ist es her, dass es hier fließendes Wasser oder elektrischen Strom gab? Ich verstehe ja, dass einige Leute lieber ein rustikales Leben führen möchten, aber …

Ich begann den Tag mit einem Fußmarsch in die Hänge. Ich parkte auf der anderen Seite der Hügel, sodass mein Wagen nicht zu sehen war, und machte mich auf den Weg in die Kiefernwälder. Es war düster und ich kam nur schwer voran. Dies war nicht die Art von Gelände, die ich bei Nacht oder barfuß erkunden wollte. Ich hoffte, dass ich vielleicht ein anderes abgelegenes Haus fand oder wenigstens einen Hinweis, wohin es Sophia nachts verschlug, wenn die meisten vernünftigen Menschen schlafend in ihren Betten lagen.

Ich fand etwas, das man als solch einen Hinweis betrachten könnte, doch ich muss gestehen, dass mir nicht gefällt, wohin er führt.

Fast zwei Stunden dauerte es, bis ich jede Ecke und jeden Winkel zwischen den Hügeln erkundet hatte, und ich glaube, ich kann mit Gewissheit sagen, dass sich hier kein anderes Haus neben Winslow Manor befindet. Doch in einem besonders dicht bewachsenen Stück Wald, wo die Bäume ganz knorrig, überwuchert und voller Wespennester waren, stieß ich auf etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte.

Inmitten dieses überwucherten Gebiets gab es eine kleine Lichtung, auf der sich offensichtlich erst kürzlich viele Menschen aufgehalten hatten. Der Wuchs war hier dünner und das Gras sichtbar von vielen Füßen niedergetrampelt. Der Geruch von fauligem Fleisch hing in der Luft. Auf den Baumstämmen prangten rostfarbene Abdrücke, die von bluttriefenden Händen zu stammen schienen. Ich fand zwar die Quelle des üblen Gestanks nicht, doch ich stieß auf mehrere kleine Stellen, an denen Fleisch im Gras verstreut worden war. In diesen Wäldern gibt es nur wenig Sonnenlicht. Dafür sind sie zu dicht gewachsen und die schattigen Rinnen zwischen den Bäumen stecken voller Nebel und Dunst. In dieser Ecke roch es wie bei einem Schlachthaus nach einem Regen – der langsame Verfall von Fleisch und der strenge Geruch der Erde und der Kiefernnadeln ergaben eine widerliche Mischung.

Ein Tier war hier verendet, so kam es mir vor – und ich hätte keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wenn ich nicht diese menschlichen Handabdrücke an den Bäumen gefunden hätte. Hatte jemand – bestimmt nicht Sophia! – hier Tiere gejagt und ihnen womöglich das Fell abgezogen? Knochen fand ich keine, aber an einigen Stellen war die Erde ziemlich locker …

Ich mied das Haus. Stattdessen marschierte ich zurück zum Wagen, fuhr nach Hause und nahm eine lange Dusche. Ich habe vor, sie heute Abend zu besuchen. Und dann werde ich mich mit Sophia unterhalten und ihr sagen, was mir auf dem Herzen liegt. Ich sorge mich um sie und das Baby – und um unsere gemeinsame Zukunft. Ich will ihren Vater kennenlernen und ein paar Antworten bekommen. Es gibt so viel, das nicht zusammenpasst, und ich weiß nicht, warum das so ist. Wenn ich jetzt an die Wochen denke, die wir zusammen waren, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter, wo zuvor nur Wärme und Glück gewesen sind.

Marcus macht mit. Er wird versuchen, ein wenig über Sophia und ihren Vater in Erfahrung zu bringen. Es fühlt sich mies an, ihnen hinterherzuschnüffeln, aber welche Wahl habe ich noch? Selbst wenn Sophia die Sache zwischen uns beenden will, steht mir wohl das Recht zu, die Mutter meines Kindes zu kennen. Ich fühle mich schuldig, aber ich will unbedingt mehr über sie wissen …

Der nächste Eintrag folgte ohne Unterbrechung:

Ich habe die Nacht mit ihr verbracht, doch ich hatte nicht erwartet, dass sich die Dinge entwickelten, wie sie es schließlich taten.

Wir saßen gestern Abend vor dem Kaminfeuer und ich erzählte ihr von meinen Gefühlen wegen ihres veränderten Verhaltens, ihrer Geheimnistuerei und unserer gemeinsamen Zukunft. Ich war ehrlich zu ihr, trug meine Sorgen vor und hoffte, dass wir darüber sprechen würden. Wenig überraschend tat sie alles mit einem Achselzucken ab. Sie hat noch immer kein Interesse an einer Heirat und deutete an, das sei einfach nicht »ihre Art«, was immer das bedeuten soll. Vielleicht gehört sie irgendeiner eigentümlichen Religion an, die schräge Ansichten hat, was die Ehe betrifft? Falls ja, ist sie nicht näher darauf eingegangen. Sie ist noch immer damit einverstanden, einen Arzt aufzusuchen, will aber nicht in die Stadt ziehen. Und was ihre Geheimniskrämerei betrifft, nun, sie hat mir nur ihr kleines spitzbübisches Lächeln gezeigt und in ihren Augen funkelte es dunkel, als wollte sie mir sagen: »Du willst gar nicht wissen, was ich im Schilde führe«, und darum habe ich das Thema gewechselt. Ich fragte sie, wie es ihrem Vater gehe und ob ich ihn jemals kennenlernen würde – sarkastisch –, und zu meiner Überraschung deutete sie den Flur hinunter und sagte, dass er genau in diesem Augenblick bei uns sei.

Ich blickte hin und tatsächlich erspähte ich im Mondschein einen Rollstuhl am anderen Ende des Flures. Darin saß ein Mann, und obwohl ich ihn nur undeutlich sah, wusste ich, dass er mich aus der Finsternis heraus ganz genau beäugte. Ich rief nach ihm, sagte Hallo und stand auf, um zu ihm zu gehen, doch er rollte plötzlich davon, hinein in ein anderes Zimmer. Ich nahm an, er wollte mir damit sagen, dass er nicht an einer Plauderei mit mir interessiert war.

Sophia erklärte mir, dass er nicht nur an den Rollstuhl gefesselt, sondern darüber hinaus auch blind und taub war. Das fand ich besonders eigenartig, da ich mir sicher war, dass er mich angestarrt hatte. Ich ließ den Mann in Ruhe und versuchte stattdessen, meine ernste Unterhaltung mit Sophia fortzusetzen. Ich muss aber gestehen, dass mich in jenem Moment eine fürchterliche Müdigkeit überkam. Ich habe in letzter Zeit sehr viele Überstunden gemacht, um Geld für das Baby zu verdienen, und ich schätze, dass ich einfach fix und fertig war, denn ich döste ein, gleich neben ihr auf dem Fußboden.

Als ich wieder erwachte, vielleicht zehn Minuten später, war sie verschwunden.

Ich stand auf und rief nach ihr, doch sie antwortete nicht. Ich dachte, dass sie sich vielleicht einen Snack zubereitete oder nach ihrem Vater sah, doch eine schnelle Suche im Erdgeschoss ergab, dass ich ganz allein war. Ihr Vater, der dort noch vor ein paar Minuten mit seinem Rollstuhl unterwegs gewesen war, war nirgends zu sehen – und das, so muss ich zugeben, verdutzte mich doch sehr. Hatte sie ihn zurück nach oben getragen? Gab es hier eine Art Rampe in den ersten Stock, von der ich nichts wusste?

Ich ging nach draußen und lief um das Haus. Ich dachte, dass sie vielleicht etwas frische Luft schnappen wollte, doch ich konnte keine Spur von ihr finden, als ich hinaus in diese finsteren Wälder blickte.

Aber ich hörte etwas, das in jenem Moment aus den Tiefen der Hügel drang.

Ich hörte ein Heulen, das anders war als das, was die heimischen Tiere von sich gaben – oder jedes andere Tier, das mir bekannt ist. Es klang, als würde es von etwas Großem, etwas Wütendem stammen. Ich hörte auch einen Singsang, einen leisen, gleichmäßigen Sprechchor wie von vielen Menschen, die gedämpft ein Gebet sprachen oder ein Lied sangen. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, doch das Dröhnen ihrer Stimmen, zusammen mit den wilden tierischen Geräuschen, machte mir eine Heidenangst.

Etwas ging dort in diesen Wäldern vor sich – etwas, das mich wahrscheinlich nichts anging. Ich dachte daran, hinzugehen und zu schauen, ob Sophia vielleicht in Schwierigkeiten steckte, doch gerade als ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, hörten das Heulen und der Singsang schlagartig auf und ich sah, dass jemand aus dem Wald direkt auf das Haus zulief. Es war Sophia.

Ich geriet in Panik und lief zurück ins Haus, weil ich nicht wollte, dass sie sah, wie ich in den Wald hineingaffte, und so igelte ich mich wieder vor dem Kamin ein und gab vor zu schlafen. Sie kam herein, ohne ein Geräusch zu machen, legte sich neben mich hin und tat so, als wäre sie nie von meiner Seite gewichen. Als ich mich ein paar Minuten später wieder rührte, öffnete sie die Augen. Sie waren finsterer als üblich und ich bemerkte, dass sich das Licht des Feuers nicht in ihnen spiegelte. Wieder zeigte sie mir ihr gefühlloses Lächeln. Sie beugte sich zu mir herüber und küsste mich so fest, dass meine Unterlippe zu bluten begann, und ich musste mich fast übergeben.

Dieser Geruch von fauligem Fleisch, den ich in den Hügeln wahrgenommen hatte, klebte wie ein Parfüm an ihr, und als sie ihre Lippen auf meine legte, spürte ich, wie mir der Gestank in den Mund kroch.

Ich habe keinen Schimmer, wohinein sie geraten ist, und ich will darüber keine Mutmaßungen anstellen, aber es ist eindeutig, dass sie in etwas Schräges, in eine Art Sekte verwickelt ist. Ist sie eine Satanistin? Ist es so eine New-Age-Sache? Ich hoffe, Marcus kann mir helfen, dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Das ist doch sein Spezialgebiet.

Ich habe den Rest der Nacht keine Minute mehr geschlafen. Ich tat nur so und hielt meine Augen geschlossen, doch jedes Mal wenn ich einen Blick wagte, sah ich, dass sie hellwach im Schein des Feuers saß und mich anlächelte. Ich schätze, sie wusste, dass ich nicht wirklich schlief – und dass ich eine Mordsangst hatte. Ich werde das Gefühl nicht los, aus welchem Grund auch immer, dass es ihr gefiel.