13

»Okay, ich glaube, wir sind da«, sagte August und deutete durch die Windschutzscheibe die Straße vor ihnen entlang. Am Horizont tauchte eine Welle aus Hügeln auf, auf denen zahlreiche struppige Kiefern standen. »Jetzt ist die Frage … Wo parken wir?«

Sadie steckte das Tagebuch zurück in ihre Tasche und kurbelte das Fenster herunter, um die kühle Landluft einzuatmen. Wenn das stürmische Wetter der letzten Tage etwas Gutes hatte, dann dass der Wind nun angenehm frisch war. Obwohl sie das viele Lesen ganz benommen gemacht hatte, beäugte sie die grüne Hügellandschaft und zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wir sollten einfach ganz nah heranfahren und dann auf dem Seitenstreifen parken.«

»Ich sag dir, was wir machen«, entgegnete er und stellte sein Hörbuch leiser. »Ich werde den Ort einmal umfahren. Wenn wir keine Straße dorthin finden, schätze ich, werden wir zu Fuß gehen müssen.« Er blickte sie aus dem Augenwinkel an und räusperte sich. »Und, äh … steht irgendwas Interessantes in deinem Buch?«

»Ich würde nicht das Wort ›interessant‹ benutzen«, sagte sie und lächelte ein wenig. »Hauptsächlich bestätigt es das, was Halloran mir schon erzählt hat … Junge trifft Mädchen, Mädchen wird schwanger und benimmt sich plötzlich ganz sonderbar, und Junge fragt sich, was mit ihr los ist.« Sie konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ich weiß, wie die Geschichte weitergeht – das Ende ist eine echte Enttäuschung.«

Er nickte. »Nun, wenn ich mich nicht irre, sind noch ein paar Kapitel übrig, nicht wahr? Wir können das Ende hier und dort noch etwas zurechtbiegen.«

»Wollen wir es hoffen.« Sadie sog die kühle Luft in sich auf und schmiegte sich in den Beifahrersitz, während sich das Relief der Hügel immer deutlicher abzeichnete. Ihr Blick streifte von einem Baum zum nächsten und suchte nach Phantomen, die aus dem dunklen Gehölz heraus nach ihr schielten. Dann sah sie hinauf zu den Baumkronen, und dort oben entdeckte sie etwas. »Sieh nur«, sagte sie und streckte einen Finger durch den Spalt im Fenster. »Da ist Rauch.«

August beugte sich vor und betrachtete die Ferne mit einem Nicken. »Sieht so aus. Der Kamin ist also an, was?« Er zuckte launig mit den Augenbrauen, doch es gelang ihm nicht, die Nervosität zu verbergen, die sich durch seinen schmalen Körper zog und seine Stimme ein wenig beben ließ. »Könnte also doch jemand zu Hause sein.«

Sadie dagegen blickte mit einem gewissen Staunen auf die wilde Ansammlung von Hügeln und Bäumen. In diesem abgelegenen Gebiet hatten sich ihr Vater und ihre Mutter zum ersten Mal getroffen. Und der Gedanke, dass sie nach einem Vierteljahrhundert der völligen Ahnungslosigkeit die Gelegenheit bekam, einen Ort zu erkunden, der so ausschlaggebend für ihre eigene Existenz war, hinterließ bei ihr einen tiefen Eindruck. Ihr Puls wurde schneller, ihre Augen wurden größer und sie fühlte sich, als würde sie den Weg, den ihr Vater vor so vielen Jahren zu dem Haus zurückgelegt hatte, nun selbst beschreiten.

August bog an der nächsten Kreuzung rechts ab und fuhr immer weiter um die Hügel herum, ohne eine Straße zu finden, die in sie hineinführte. Erst nachdem er noch einmal rechts abgebogen und schon etwas ungeduldig geworden war, entdeckte er etwas in der Landschaft, das sein Interesse weckte.

Aber es war keine Straße.

Auf dem Seitenstreifen, nur einen knappen Meter neben einem Entwässerungsgraben, stand ein kleiner Wagen mit Stufenheck. Als er ihn sah, drückte August auf das Gaspedal, bis sie nur noch einen Steinwurf von dem Fahrzeug entfernt waren, und trat auf die Bremse. Er beäugte den Wagen, der leer war, und forderte sie heraus: »Um was wollen wir wetten, dass der Wagen schon eine ganze Weile dort herumsteht?«

»Wie kommst du darauf?«

August fuhr vor das andere Fahrzeug, parkte und stieg aus. Er lief um den Wagen, die Hände in die Hüften gestemmt, und betrachtete ihn eingehend. Dann verkündete er: »Platter Reifen, eine Handvoll Laub und Samenhülsen auf den Scheibenwischern und …« Er kniete sich hin und deutete auf den hinteren Reifen der Beifahrerseite. »Da ist ein Vogelnest in diesem Radkasten. Dieses Auto steht hier bestimmt schon eine Woche oder zwei. Vielleicht sogar länger.«

»Warum?«, fragte sie, obwohl sie fürchtete, bereits zu ahnen, wie die Antwort lautete. »Glaubst du, der Fahrer hatte einen Platten und hat den Wagen einfach stehen lassen? Oder …?« Sadie wandte sich den Hügeln zu und blickte auf den Rauchringel, der über die Baumkronen stieg. »… glaubst du, dass …?«

»Ja«, antwortete er und beendete ihren Gedanken. »Wenn ich darauf wetten müsste, würde ich sagen, der Fahrer hatte einen Platten, suchte nach Hilfe und landete bei diesem Haus. Wenn er den aufsteigenden Rauch bemerkt hat, ist es gut möglich, dass er sich dorthin auf den Weg gemacht hat. Andererseits könnte ich auch danebenliegen. Es ist genauso gut möglich, dass der Besitzer kein Geld für einen Abschleppwagen oder noch keine Zeit hatte, seinen Wagen wieder abzuholen.« Er stieß mit seiner Schuhspitze gegen das Nummernschild. »Ein auswärtiges Kennzeichen. Ich schätze, es kostet einen Haufen Geld, diese Karre über eine oder zwei Staatsgrenzen abschleppen zu lassen. Vielleicht ist der Besitzer einfach noch nicht dazu gekommen.«

Sie blickte bedrückt auf den Wagen und drehte sich dann noch einmal zu den dicht bewachsenen Hügeln um. »Glaubst du wirklich, dass es so gewesen ist? Immerhin steht dieser Wagen ausgerechnet hier … «

»Ich will es glauben«, antwortete er und schob seine Hände in seine Taschen. »Wäre schon toll, wenn wir irgendein Haus erforschen könnten, ohne dabei auf eine neue Leiche zu stoßen.«

»Was sollen wir tun? Jemanden wegen des Autos verständigen? Die State Highway Patrol?«

»Noch nicht«, sagte er, ging einen Schritt zurück zu seinem Wagen und öffnete den Kofferraum. »Wir sollten uns bei dem Haus umsehen und sichergehen, dass der Fahrer nicht in Schwierigkeiten geraten ist. Wenn wir doch eine Leiche finden, können wir die Anrufe zusammenlegen, verstehst du? Es ist effizienter, einen Mord und ein verlassenes Fahrzeug gleichzeitig zu melden, schätze ich.« Er hievte einen Rucksack aus dem Kofferraum und stöberte darin, um sicherzugehen, dass er alles Notwendige eingepackt hatte.

»Was hast du diesmal mitgebracht?«

Er zog ein aufgerolltes Seil aus dem Rucksack und schüttelte es. »Zuerst einmal ein Seil.«

»Wir wollen sie … fesseln?«

August zuckte mit den Schultern. »Hast du vielleicht eine bessere Idee? Wenn wir es schaffen, sie zu überwältigen und dingfest zu machen, solange sie noch geschwächt ist, können wir sie in irgendeinem Loch begraben. Das hat doch schon bei deinem Dad und Halloran geklappt, stimmt’s?«

Sadie runzelte die Stirn. »Und hast du auch eine Schaufel mitgebracht?«

Er errötete etwas, als er die Frage nicht beantworten konnte. »Ich habe aber ein paar Snacks dabei, Wasser, ein Erste-Hilfe-Set … Taschenlampen, Kamera … Wenn du mir nicht allzu sehr auf die Nerven gehst, werde ich meine Vorräte sogar mit dir teilen. Diesmal habe ich nur einen Rucksack gepackt. Wir gehen nur in ein Haus und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir uns dort allzu lange aus den Augen verlieren. Wozu also zu viel mit uns herumschleppen? Ich werde auch den Packesel spielen.«

»Wie ritterlich von dir.« Sie schaute auf die Hügel in der Ferne. Der Gedanke an den Fußmarsch genügte, um sie zu ermüden. »Das heißt … wir laufen?«

»Jup«, sagte August und deutete zum Himmel. »Wenn es eine Straße gäbe, hätten wir sie schon längst gesehen. Und selbst wenn da eine ist, wäre sie wegen der vielen Unwetter bestimmt eine Schlammpiste. Ich habe keine Lust, mit meinem Wagen irgendwo stecken zu bleiben. Noch ist das Wetter schön, aber es wurde mehr Regen vorhergesagt, erinnerst du dich? Lass uns einfach aufbrechen.«

Mit verschränkten Armen folgte Sadie ihm, vorbei an dem Entwässerungsgraben, hinaus auf das offene Feld.

»Und? Ist dir in diesem Tagebuch etwas ins Auge gesprungen? Hat dein Dad viel über das Haus berichtet? Irgendwelche Kleinigkeiten, von denen wir wissen sollten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Viele Seiten fehlen. Es gibt darin gerade genügend Informationen, um zu verstehen, wie sein Verhältnis zu meiner Mutter war. Das Haus erwähnt er kaum, aber er schreibt, dass es schon damals ziemlich verfallen war. Kein Strom, kein fließendes Wasser.«

»Uff. Nicht gerade ein komfortables Leben, wie?«

»Sieht nicht so aus.« Sie kniff die Augen gegen den frischen Wind ein wenig zusammen. »Er erwähnte, noch jemanden in dem Haus gesehen zu haben, einen blinden und tauben Mann, der an den Rollstuhl gefesselt war. Meine Mutter bezeichnete ihn als ihren Vater. Aber ich glaube nicht, dass er wirklich ihr Vater war. Ich schätze eher, dass es sich dabei um Sinistrari handelte.«

August brütete eine Weile über dieser Möglichkeit und sagte dann mit gespielter Begeisterung: »Heißt das etwa, wir bekommen in dieser Kaschemme zwei Schrecken zum Preis von einem?«

Sie fuhr fort: »Mein Vater erwähnte auch, dass in diesen Wäldern bei Nacht gewisse Dinge vor sich gehen. Er hatte meine Mutter abends besucht, nur um das Haus leer vorzufinden. Dann eines Nachts, als er schlief, schlich sie sich davon und er hörte grauenvolle Geräusche aus dem Wald.«

»Eine Art … Ritual oder so etwas? Solche Sachen, wie sie sie in dem Sanatorium in den 20ern veranstaltet haben?«

»Gut möglich.« Sie schluckte. »An dieser Stelle im Tagebuch weiß mein Vater noch nicht, was wirklich vor sich geht. Er glaubt, dass meine Mutter vielleicht einer Sekte angehört, nicht dass sie … Nun, du weißt schon.«

»Sie gehörte nicht nur einer Sekte an, sie war ihre Anführerin und wurde von ihr vergöttert. Ich kann mir vorstellen, dass das alles ein ziemlich heftiger Schock für ihn gewesen ist.«

Ihre Schritte wurden schwerer. Sie machten sich daran, die Hügel zu besteigen, und nach ein paar Schätzungen hatten sie sich für die Route entschieden, die ihnen am kürzesten erschien. Doch ihre Beine hatten mit dem Boden zu kämpfen, der noch nicht wieder so trocken wie vor dem Sturm war und an ihren Sohlen klebte und ihnen fast die Schuhe auszog. Stechmücken tauchten wie Wolken vor ihnen auf und sie mussten die Luft anhalten, um zu verhindern, dass sie die Viecher einatmeten. Sadie erinnerte sich, während sie stöhnend den Hügel erklommen, an ihren Besuch auf Beacon Hill. Hier waren die Anhöhen allerdings wesentlich steiler und führten sie zu einem Ort, der noch versteckter und noch unbekannter war.

Sadies Herz pochte laut, als sie sich vorwärtsmühte, und das lag nicht allein an der Anstrengung. Ihre Wangen röteten sich und ihr Nacken begann zu kribbeln, als sie versuchte, die Rauchwolke aus dem Kamin im Auge zu behalten. Dies ist das Haus, in dem deine Mutter lebte. Gut möglich, dass sie darin auf dich wartet … Nach all diesen Jahren wirst du ihr vielleicht begegnen …

Dieser letzte Gedanke ließ ihr das Blut gefrieren, doch sie konnte nicht umhin, auch eine gewisse Neugier zu verspüren, die diese Möglichkeit mit sich brachte. Auf Beacon Hill und im Rainier Asylum waren sie und August dem Unbekannten entgegengetreten und hatten sich auf einen Kampf mit den Dämonen aus der finsteren Vergangenheit ihrer Mutter eingelassen, doch nun näherten sie sich etwas ganz Besonderem – etwas Unerwartetem. Das Haus, von dem sie wussten, dass es gleich hinter dem Gipfel dieses Hügels lag, barg sehr wahrscheinlich die Quelle, aus der all die Schrecken und schlaflosen Nächte entsprungen waren.

»Bist du okay?«, fragte August, als er bemerkte, dass ihre Atmung immer angestrengter wurde – angestrengter als es ihre Strapazen verlangten.

Sie konnte nicht antworten und schaffte es nur, mit geschürzten Lippen zu nicken, während sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie griff nach einem Kiefernast, um sich daran hinaufzuziehen. Dann joggte sie den Rest des Weges bis zum Gipfel hinauf. Ihre Waden brannten, ihr Atem wurde flach. Sadie Young stand oben auf dem Hügel und starrte mit einem Übelkeit erregenden Gefühl des Triumphes in das von Bäumen nur so wimmelnde Tal.

Dort, nur gerade so durch ein paar Löcher in dem Laub zu erkennen, lag das Haus, in dem ihre Mutter gelebt hatte. Ihr kamen die Tränen, als sie die obere Kante des leicht geneigten Schornsteins entdeckte, auch wenn sie den Grund dafür nicht benennen konnte. Während sie so dastand, nach unten blickte und versuchte wieder zu Atem zu kommen, dachte sie an ihren Vater – und sie glaubte seine Stimme in dem Wind zu hören, der sich durch die Kiefern schlängelte. Ihr fielen die letzten Worte ein, die sie vorhin in seinem Tagebuch gelesen hatte.

Ich schätze, sie wusste, dass ich eine Mordsangst hatte. Ich werde das Gefühl nicht los, aus welchem Grund auch immer, dass es ihr gefiel.