P ROLOG
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MPÖRT E UCH!
»Wenn Freiheit überhaupt eine Bedeutung hat, dann die, den Leuten sagen zu dürfen, was sie nicht hören wollen.«
George Orwell
Die Dinge sind in Umwälzung. Die Geschwindigkeit der Veränderung korrespondiert mit der zunehmenden Geschwindigkeit, mit der Krisen aufeinanderfolgen. Und deren innere Verknüpfungen und Wirkungszusammenhänge erscheinen immer mehr Bürgern immer weniger durchschaubar. Die Krise wird daher als Dauerzustand, als Kontinuum wahrgenommen, welches als dumpfe Bedrohung in die Köpfe der Menschen eingedrungen ist.
Diese Bedrohung erzeugt Angst.
Angst ist der beste Nährboden, nicht für ökonomischen Fortschritt und kreative Zerstörung durch den freiheitsliebenden und innovativen Unternehmer, sondern für politische Kräfte, die sie ausnutzen und den Menschen einen neuen Deal vorschlagen: Tausche Freiheit gegen Sicherheit. Dieser Deal ist trügerisch. Bereits Thomas Jefferson wusste ihn korrekt einzuschätzen, indem er klug feststellte: »Wer glaubt, Freiheit gegen Sicherheit eintauschen zu können, wird feststellen, dass er am Ende beides verliert.«
Tausche Freiheit gegen Sicherheit
Heute kommen die Feinde unserer Freiheit im Gewand der »pragmatischen Krisenmanager« daher. Sie sind schlau genug, den Deal Freiheit gegen Sicherheit nicht offen auszusprechen. Stattdessen schaffen sie in Situationen der krisenhaften Zuspitzung Fakten durch Regelbrüche, die zwar für jedermann offensichtlich mit dem Prinzip der Freiheit im Konflikt stehen, die aber als »alternativlos« verkauft werden: »Ja, wir wollen das ja auch nicht, aber wir müssen jetzt mal in den sauren Apfel beißen und morgen wird alles wieder gut.«
Diese Damen und Herren sind die Zielscheiben für die vergifteten Pfeile einer Polemik, die keine »Gefangenen« macht. Behaltet euren sauren Apfel und beißt selber rein.
Friedrich von Hayek, einer der großen Verteidiger der Freiheit, hatte erkannt, dass eine Einschränkung der Freiheit die nächste nach sich zieht. Der freiheitsliebende Bürger sucht Wege, die Einschränkung zu umgehen. Der Feind der Freiheit in Gestalt interventionistischer und staatsgläubiger Politik zieht nach und sucht die Umgehung durch neue Einschränkungen der Freiheit wirtschaftlichen Handelns zu verhindern.
Ein Rüstungswettlauf. Über viele Jahre hielt sich dieser Wettlauf in einer Art Gleichgewicht, aber als Anfang der 1980er-Jahre endlich die Proponenten der Freiheit in der Wirtschaftspolitik ein Übergewicht erlangten, war das Ergebnis eine nie gesehene Steigerung des Wohlstands.
Der trügerische Sieg des Neoliberalismus
Allerdings war dieser Sieg liberaler Wirtschaftspolitik trügerisch. Er konnte nicht von Dauer sein, weil er sich auf ein »enrichissez vous«, ein »Bereichert euch!« reduzierte, welches fundamentale Prinzipien der Ordnungspolitik missachtete. Freiheit wurde getrennt von Verantwortung, und das mit fatalen Folgen.
Das Wachstum der Wirtschaft und des Welthandels führte – wie bisher stets in der Vergangenheit zu beobachten – zu einem überproportionalen Wachstum des Finanzsektors. Die »Besten« und Bestausgebildeten strömten in diesen Sektor, um vom Boom überproportional zu profitieren. Man hatte sie alles gelehrt, was das moderne effiziente Bildungssystem hergibt. Die Elite der Wirtschaft sonnte sich im schnellen Reichtum mithilfe von Finanzprodukten, deren Komplexität und Vernetzungseffekte sie nicht annähernd verstand.
Das resultierende Risiko für das Gesamtsystem wurde gedanklich abgewälzt auf die »unsichtbare Hand« des Marktes. Verantwortung für das Ganze? Das war etwas für Schwächlinge und Warmduscher. Für Regeln oder gar eine ethische Verantwortung galt das Gleiche. Moral verkam zum Schimpfwort. Und vom Verlust der Moral zur Überschreitung rechtlicher Normen ist es nur ein winziger Schritt, wie uns der LIBOR-Skandal schmerzhaft vor Augen geführt hat.
25 Jahre lang glaubte man, mit Ethikkursen im MBA diesen Auswüchsen vorbeugen und Selbstoptimierung unter der Nebenbedingung von Ethik und Gemeinwohl erreichen zu können. Diese Kurse bringen einem allenfalls bei, wie man die obligatorischen Web-basierten Multiple-Choice-Tests zu »Gender Policy«, »Anti-Harassment Program« und »Equal Opportunities Principles« schnellstmöglich unfallfrei abarbeitet, wie weit man gehen kann und ab wo man sich nicht mehr erwischen lassen darf.
Man hätte die Betroffenen wahrscheinlich besser in der Phase jugendlicher Prägung am Sonntag in die Kirche geschickt. Das ist zwar kein Garant für ein funktionierendes Gewissen, stärkt aber immerhin den moralischen Kompass im Sinne eines inneren Instinkts, wenn man befürchten muss, dass einem eine höhere Macht über die Schultern schaut.
Stattdessen hat man unter dem Mäntelchen »ethischer Pluralität«, die nichts anderes meinte als weltanschauliche Leere und Beliebigkeit, zugelassen, dass sich die Verantwortung in Lippenbekenntnissen erschöpft, in oberflächlicher »Compliance« und dem neuesten Produkt der Spin-Doktoren, der »Corporate Social Responsibility«, kurz CSR. Aber wo kein Rückgrat vorhanden ist, da wird auch keines durch die Hochglanzpräsentationen von Imageberatern eingezogen.
So wurden wir Zeugen eines epochalen Elitenversagens.
Aber warum versagen Eliten?
Eliten bestehen aus Individuen, die sich unter den Rahmenbedingungen, die sie vorfinden, selbst optimieren. Die Elite, die uneigennützig und rein am Gemeinwohl orientiert altruistische Entscheidungen trifft, ist rar. Und die sich in den letzten zwei Generationen rapide wandelnden oder erodierenden Wertegerüste der Gesellschaft sind nicht gerade geeignet, solche Eliten hervorzubringen.
Die Trennung von Eigentum, Kontrolle und Verantwortung
Fragen wir also nach den Rahmenbedingungen, die dieses Versagen ermöglicht, ja sogar mit positiven Anreizen versehen haben. Wir finden diese in der gesetzlich verordneten Governance der Unternehmen, insbesondere der Aktiengesellschaften, wo in unfassbarer Konsequenz eine Trennung von Eigentum und unternehmerischer Verantwortung stattgefunden hat.
Die Politik hat es seit Jahrzehnten versäumt, sicherzustellen, dass angestellte Manager den Eigentümern gegenüber, also den Aktionären, auch wirklich verantwortlich sind. Da nützt alles Gerede von Shareholder Value nichts, wenn der Aktionär keine Möglichkeit hat, Versagen und Selbstbereicherung des Managements mit Sanktionen zu belegen, zumal er oft genug erleben muss, wie beides gleichzeitig passiert.
Warum ist dieser Punkt so wichtig? Weil er an den Grundfesten des Verständnisses von Eigentumsrechten rüttelt. Die Rechte am Eigentum sind der Motor einer Marktwirtschaft. Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes stellt lapidar fest: »Eigentum verpflichtet.« Was aber, wenn die Eigentümer gar nicht mehr die Verfügungsgewalt über das haben, was ihnen gehört? Da steht schließlich nicht: »Management verpflichtet.«
Die Trennung der Verfügung über das Eigentum von seinen eigentlich Berechtigten, der Verlust der Kontrolle über seine Früchte, zieht daher eine Trennung von Eigentum und Verantwortung geradezu zwingend nach sich.
Ohne Eigentum gibt es keine wirtschaftliche Freiheit. Ohne wirtschaftliche Freiheit stirbt auch die politische Freiheit. Lenin hatte das erkannt und deshalb das Eigentum erst diskriminiert (»Eigentum ist Diebstahl«) und später abgeschafft, um die Freiheit mit ihm abzuschaffen.
Deshalb mündet die Abschaffung klarer Eigentumsrechte in der Verantwortungslosigkeit.
Heute wird gerne der Shareholder-Value-Gedanke zum Sündenbock für die Krise gemacht. In Wahrheit haben wir nicht zu viel, sondern zu wenig davon, weil wir den Shareholdern die Kontrolle über ihr rechtmäßiges Eigentum entzogen haben, um sie einer Funktionärskaste, die oft genug primär ihre eigenen Interessen verfolgt, zu übertragen.
Es ist genau diese Mechanik, die einer vom Markt nicht mehr gezügelten neuen Form der Gier überhaupt erst Raum gegeben und so die Krise vorbereitet hat. In dieser Welt muss man ein Unternehmen nicht zum Erfolg führen, um sich zu bereichern.
Das ist fatal.
Welche Zusammenhänge dann fast ebenso zwingend zur Finanzkrise und ihr nachfolgend zu einer epochalen Wirtschafts- und Staatsfinanzkrise geführt haben, dazu später mehr.
Aber es lohnt sich, bereits an dieser Stelle die Folgen zu betrachten, die sich aus dem Versagen unserer Finanzelite ergeben haben. Es gab eine komplexes Zusammenspiel aus Politikversagen, Fehlanreizen in der Finanzwirtschaft durch falsche Regulierung und monopolistische Strukturen sowie gravierende Interessenkonflikte bei den Ratingagenturen. Letztere spielen als zentrale Informationsversorger der Finanzindustrie eine sehr wichtige Rolle.
All das wurde flugs von schnell redenden politischen und medialen Akteuren zum »Marktversagen« reduziert.
Sorry, Herrschaften, aber der Markt kann nur dann versagen, wenn er vorher auch bestimmt hat, wo es langgeht.
Marktversagen war das Stichwort, das die Feinde der Freiheit aus ihren Bunkern lockte, wo sie während des jahrzehntelangen Siegeszugs des Liberalismus überwintert hatten. Und was sie anzubieten haben, klingt so eingängig, so verführerisch einfach, dass der Zeitgeist quasi über Nacht konvertierte und damit jede noch so unqualifizierte Forderung zur Einschränkung wirtschaftlicher Freiheit Gehör findet, wenn sie nur mit den Begriffen »Kontrolle der Auswüchse des Marktes«, »Gerechtigkeitslücke« oder »Primat der Politik« garniert wird.
Dabei hat sich in der deutschen und europäischen Politik zunehmend eine ganz bestimmte Klasse von Akteuren an den Hebeln der Macht etabliert, die entweder schon immer freiheitsfeindliche Instinkte hatten oder deren karrieregetriebener Opportunismus sie die Zeichen der Zeit erkennen und ihr Fähnlein nach dem Wind schwenken ließ.
Ein Mangel an Verständnis der ökonomischen Grundzusammenhänge erweist sich in diesem Zusammenhang übrigens als ausgesprochen hilfreich. Wer will sich schon durch Fakten beschweren, wenn doch die eingeschlagene Richtung ohnehin alternativlos ist.
Beruhigt lehnt sich Otto Normalverbraucher zurück. Es geht ja nicht um seine Freiheit, wie er sie versteht. Es geht ja anscheinend nur um die Freiheit der »Besserverdienenden«, der »Bosse«, der tatsächlichen oder vermeintlichen Steuerhinterzieher, die ihren Teil zum Gemeinwohl nicht beitragen wollen. Es geht ja zum Glück nicht um die Freiheit der Rede, der Demonstration am Tag der Arbeit und der Wahl seines Lieblingsklubs in der Bundesliga.
Wirtschaftliche Freiheit und politische Freiheit
Doch das ist ein Irrtum. Freiheit kann man nicht teilen, und sie stirbt zentimeterweise. Verlieren wir die wirtschaftliche Freiheit, dann folgt unweigerlich auch der Verlust der politischen Freiheit, der individuellen Persönlichkeitsrechte, der Freiheit der Rede und des Gewissens. Erste Anzeichen dafür sind bereits unübersehbar. Mitglieder der politischen Kaste sprechen im kleinen Kreis ganz unverhohlen von »
Elementen des Modells China«, wo Effizienz herrscht statt Demokratie und »Top-Down« entschieden wird. Man spricht von den Notwendigkeiten, »diesen Wettbewerb zu bestehen«, und glaubt anscheinend nicht mehr fest genug daran, dass eine freie Gesellschaft dafür wirklich gerüstet sei.
Was die politischen Akteure interessanterweise dabei mit Teilen der Finanzelite gemeinsam haben, ist ihre Neigung, sehr große Wetten mit dem Geld anderer Leute einzugehen. Während Händler bei den Banken mit dem Geld der Aktionäre und Sparer zocken, um sich selbst zu bereichern, tut die Politik das Gleiche, um harten Entscheidungen aus dem Weg zu gehen oder sie wenigstens in die Zukunft zu verschieben.
So ist mittlerweile festzustellen, dass die finanzielle Solidität des deutschen Haushalts von einer einzigen riesigen Wette abhängt: Gelingt die Eurorettung oder nicht? Dabei liegt mehr als eine Billion Euro auf dem Spieltisch. Was ist, wenn diese Wette nicht aufgehen sollte? Ist unsere Demokratie stabil genug?
Der Geist der »Political Correctness« dräut dabei über allem. Sprechverbote, Sprachverbote, Denkverbote haben sich wie eine Schere in den Kopf der Bürger der westlichen Republiken eingeschlichen. Was alternativlos ist, darf nicht kritisiert werden. Wer es doch tut, findet sich schnell außerhalb der twitternden und chattenden Klasse wieder. Die Griechen hatten dafür einen Begriff: Ostrachismos, Scherbengericht.
Deshalb ist es notwendig und an der Zeit, den Angriff auf die Freiheit beim Namen zu nennen und die Auseinandersetzung dahin zurückzuführen, wo sie hingehört: Wollen wir frei sein und uns aus – wie Kant es formulierte – »selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien«? Oder wollen wir interessengeleiteter Machtpolitik mit ihrer ganz eigenen und eigennützigen Agenda erlauben, diese Freiheit Stück für Stück abzubauen? Diese Entscheidung trifft jeder Einzelne für sich.
Auch Sie!