»Um die Unabhängigkeit des Volkes zu bewahren, dürfen wir unserer Regierung nicht erlauben, uns mit ewigen Schulden zu belasten.«
Thomas Jefferson
Die Geschichte der größten Finanzkrise seit der Depression der 1930er-Jahre ist noch nicht zu Ende. Ihre Wurzeln und ihre Entfaltung scheinen – glaubt man der Presse – aber bereits Teil der Allgemeinbildung zu sein. Ursachen, Wirkungen, Folgewirkungen und Verantwortungen sind in der veröffentlichten Meinung weitestgehend zementiert. Der ein oder andere identifizierte »Schuldige« wehrt sich noch zaghaft oder hat sich resigniert darauf zurückgezogen, öffentlich »Demut« zu üben. Die Gerechtigkeit hat gesiegt, die Schuldigen wurden bestraft.
Oder so ähnlich.
Bei aller Erleichterung über die Klarheit und Eindeutigkeit der Erklärungsmuster, die uns viele Medien als pfeilschnelle Geschichtsschreiber unserer Tage liefern, bleibt das ungute Gefühl zurück, dass es doch nicht ganz so einfach ist, wie manche Talkshow uns da glauben machen möchte.
Rekapitulieren wir. Die etablierten Weisheiten und Gewissheiten bezüglich der Finanzkrise lassen sich ungefähr wie folgt zusammenfassen:
Gierige Investmentbanker haben, unterstützt von gewissenlosen Ratingagenturen, neuartige und komplexe Finanzinstrumente erfunden, mit denen sie arglose Investoren, vor allem Landesbanken, aber auch Staatsfonds, Versicherungs- und Pensionsfonds und Witwen und Waisen in betrügerischer Manier hinters Licht geführt haben, um sich zu bereichern.
Als das Kartenhaus zusammenbrach, mussten die Regierungen (man beachte: Regierungen, nicht der Steuerzahler!) große Banken, deren Zusammenbruch man sich volkswirtschaftlich nicht leisten konnte, retten. Dabei wurden nebenbei die kleinen Sparer, der Mittelstand und die ganze übrige Welt (kleiner machen wir es nicht) durch die Heroen aus den Finanzministerien vor dem sicheren Untergang bewahrt.
Leider gab es dabei einzelne Länder, deren Finanzminister nicht ganz so durchtrainierte Ellenbogen und Unterarme hatten wie die anderer Länder. Die hatten es zum Beispiel gewagt, in ihren Ländern ein vom Ideal der schwäbischen Hausfrau abweichendes »Geschäftsmodell« zu dulden: einen Bankensektor zum Beispiel, der für das kleine Eiland viel zu groß war. Diesen verbrecherischen, Geld waschenden und Steuerhinterziehung fördernden Wirtschaftszweig hatten sie auch noch mit steuerlichen Anreizen (vulgo: Subventionen) gefördert, um hinterher festzustellen, dass die Rettung der zusammenbrechenden Banken ihre Kräfte überstieg.
Weil aber die Weltmeister im Armdrücken und die nicht so durchtrainierten Finanzminister durch ein Band unverbrüchlicher Währungssolidität, pardon, Währungssolidarität miteinander verbunden waren, war es ein logischer Schritt, nach den Banken die Staaten zu retten, sofern wir sie als systemisch definierten. Ein Land als systemisch zu definieren ist übrigens nicht schwer. Im Normalfall genügt dafür ein Anruf in Frankfurt unter 069 1344-0. (Ja, das ist die Nummer der EZB, Sie brauchen das jetzt nicht auszuprobieren und bitte versuchen Sie auch nicht, Ihren Häuslekredit dort als systemisches Risiko anzumelden. Die Schlange ist schon lange genug.)
Im Zuge dieser Rettungsaktion haben wir dann enorme Missstände aufgedeckt. Dazu gehören zum Beispiel der moralisch verwerfliche Steuerwettbewerb zwischen Staaten, ganz zu schweigen von einem Geschäftsmodell, das jedem ehrbaren Etatisten die berechtigte Zornesröte ins – von den Sorgen um die Welt – zerfurchte Gesicht treibt.
Dieses konnte nur dank der gefährlichen und selbstlosen Arbeit unserer geheimsten Schlapphüte aufgedeckt werden. Wie sonst sollte man den BND-Bericht zu Zypern verstehen, nachdem man dort offenbar keine Massenvernichtungswaffen auffinden konnte? Nein, ich korrigiere, es muss dort Massenvernichtungswaffen geben, und zwar sogenannte »Weapons of Financial Mass Destruction«.
Ist es das? Glauben wir diese süffige Geschichte von Schuld und Sühne wirklich?
Auf den folgenden Seiten möchte ich dem freiheitsliebenden Leser eine alternative Interpretation der Realität zukommen lassen. Keine, die frei ist von Verantwortung, aber leider auch keine, in der die Welt so einfach in Schwarz und Weiß eingeteilt ist, wie oben etwas zugespitzt zusammengefasst wurde. Aber eine, wo Schwarz und Weiß ganz überraschend die Rollen tauschen.
Gehen wir zurück ins Jahr 1998.
Die goldenen Clinton-Jahre. Der Präsident leitet seine Rede an den Kongress mit den Worten ein: »The state of the union is strong.« Die Welt befasste sich nicht mit Kriegen im Irak, in Syrien und in Afghanistan, auch nicht mit einer epochalen Wirtschaftskrise. Das hatte sie nicht nötig, denn solche profanen Defizite waren gar nicht auf dem Radarschirm.
Sie gönnte sich den Luxus, ihre ganze Aufmerksamkeit dem befleckten Kleid einer Praktikantin zuzuwenden, welches nach Monaten der emotionalsten Debatte um das präsidentielle Liebesleben aus einem Tresor im Bauche der Hauptstadt aufgetaucht war. Glücklich die Nation, die sich leisten kann, Kleidungsstücke in Tresoren zu verwahren.
Die Wirtschaft wuchs, das Haushaltsdefizit der USA war auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Es war Zeit für ein positives Signal, das den arbeitenden Menschen in den USA zeigen würde, dass sie am Boom teilhaben sollten und werden. Auch sie sollten ihren gerechten Anteil am Ergebnis des Strebens nach Glück haben. Wie könnte dies besser erreicht werden, als durch das Versprechen, das jeder Amerikaner in Zukunft in seinen eigenen vier Wänden wohnen sollte? Jedem ein Haus. Das ist natürlich nur möglich, wenn auch jeder einen Immobilienkredit bekommt. Und wie man aus dem Bankgeschäft zuverlässig weiß, lässt sich so etwas nicht dekretieren. Oder doch?
Bereits 1995 hatte die Clinton-Administration den »Community Reinvestment Act« neu fassen lassen. Er zwang Banken, einen festgelegten Teil ihrer Kredite an die Bezieher kleiner Einkommen zu vergeben. Missachtung der Vorgaben führte zu Strafzahlungen. Dieser Akt lupenreiner Marktwirtschaft begann Ende der Neunzigerjahre zu greifen und koinzidierte um die Jahrtausendwende mit einer Phase ansteigender Immobilienpreise als Folge des langjährigen Wirtschaftsbooms in den USA.
In der Folge vergaben die Hypothekenbanken einen steigenden Anteil ihrer Kredite an Kreditnehmer, die sie nach banküblicher Bonitätsprüfung nicht mit einem solchen bedacht hätten. Das Risiko erschien aber durch die steigenden Preise der Immobilien und damit der Besicherung immer stärker vernachlässigbar.
So ein wachsender Markt, der schreit nach zusätzlichen Kapazitäten. Nun ist es aber leider nicht so, dass die Banken unbegrenzt Kredite vergeben können. Die Menge der Kredite wird limitiert von zwei Faktoren: Vom Eigenkapital der Banken, das als Risikopuffer in Zeiten vieler Pleiten und damit Kreditausfälle dient, und vom Risikogehalt der einzelnen Kredite, die eine Bank vergibt.
Letzteres gilt aber nur in einer Welt, in der die Banken der Regulierung von »Basel II« (dazu später) folgen, was für die US-Hypothekenbanken niemals der Fall war. Das verdankten sie der in ihrer unendlichen Weisheit den Boom voraussehenden US-Bankenaufsicht. Man hatte sich zwar in die Gestaltung von Basel II kräftig eingemischt und so das Konzept verwässert und verschlimmbösert, dann aber die kostspielige Umsetzung von Basel II den Europäern überlassen.
Es würden sich noch Mittel und Wege finden, diese Musterschüler an den Kosten der Risiken der eigenen Banken zu beteiligen.
Wenn also das Eigenkapital die Menge der Kredite limitiert, die eine Bank vergeben kann, die Nachfrage aber steigt und man eigentlich der Auffassung ist, dass es eine tolle Sache wäre, wenn jeder Amerikaner ein eigenes Haus hat – und man dies nicht von solchen lächerlichen Bedenken wie Kreditwürdigkeit abhängig machen sollte –, dann muss ein Konzept her, das eine drastische Steigerung der Kreditvergabekapazität bei gleichbleibendem Eigenkapital der Banken möglich macht.
Man hätte natürlich auch die Gewinne aus dem Geschäft in das Eigenkapital durch Thesaurierung reinvestieren können. Aber offenbar fanden die Aktionäre dieser Banken, dass eine Ausschüttung an sie angemessener sei, damit sie das Geld selbst in die optimale Investitionsverwendung lenken können, und das waren offensichtlich keine neuen Aktien der Hypothekenbanken. Das hätte stutzig machen sollen.
Zum Glück gab es aber ein hervorragend ausgebildetes Ivy-League-Produkt von »whizz kids« in den Investmentbanken dieses glücklichen Landes. Sie erfanden eine neue Form der Verbriefung, die sogenannten »collateralized debt obligations«, kurz CDOs. Eine Verbriefung ist nichts anderes als der Verkauf von Forderungen aus Krediten im Bündel. Alles, was man dazu tun muss, ist, einen Käufer für diese Forderungen zu finden und ihm glaubhaft darzulegen, dass die Schuldner dieser Forderungen ihn auch bezahlen werden.
Für diesen Zweck gibt es das Rating. Wer aber jetzt glaubt, dass ich mich an dieser Stelle zu undifferenziertem »Bashing« der Ratingagenturen hinreißen lasse, muss leider enttäuscht werden. Und dies, obwohl er mehr Wettbewerb in diesem Sektor aus Gründen der Ordnungspolitik und der Kontrolle des systemischen Risikos für zwingend notwendig hält. Aber dazu kommen wir später.
Die Verbriefung bedeutet, dass die Bank, die die Kredite vergeben hat, das in ihnen enthaltene Kreditrisiko nicht mehr trägt. Das tut jetzt ein Investor, der dafür als Kompensation die Zinsen und die Rückzahlung durch die Kreditnehmer erhält. Die Bank ist nur noch eine Durchleitungsstelle für das Geld.
Die Genialität dieses Konzepts wird deutlich, wenn man sich ansieht, wie stark die Banken mithilfe dieser Erfindung ihr tatsächliches Hypothekenkreditgeschäft ausweiten konnten, nämlich von rund 300 Milliarden US-Dollar auf rund 3000 Milliarden US-Dollar. In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende lief dies auch ganz gut. Es gab noch genug kreditwürdige Bauherren und Immobilienkäufer, sodass die damals verbrieften Kredite im Schnitt von eher guter Qualität waren.
Leider gingen den Banken irgendwann die guten Neukunden aus. Das machte aber nichts. Denn in der Zwischenzeit war etwas geschaffen worden, was besser war als kreditwürdige Neukunden. Es handelte sich dabei um nichts weniger als den Beweis, dass es gar keine kreditunwürdigen Hypothekenkunden gab und auch nie mehr geben würde, jedenfalls nur ganz wenige, wenn überhaupt.
Zehn Jahre des Booms im Immobilienmarkt hatten eine Statistik erzeugt, die zeigte, dass in diesen Jahren immer nur ein ganz kleiner Teil der Hypothekenkreditkunden zahlungsunfähig geworden war. Alles, was jetzt noch gebraucht wurde, war die intellektuelle Leistung, daraus zu schlussfolgern, dass eine solche lange Historie beweist, dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Voilà! Damit können wir jetzt alle unsere Kreditrisikomodelle so einstellen, dass das Wachstum weitergehen kann.
Alle sind glücklich.
Die Bank kann ihr Geschäft weiter wachsen lassen.
Die Kunden bekommen ihr Häuschen.
Die Ratingagenturen dürfen fleißig mithilfe der neuen Daten gute Ratings vergeben.
Die Investmentbanken platzieren die Verbriefungen.
Die Investoren glauben, ein Schnäppchen zu machen.
Und die Politik erreicht ihr Ziel: flächendeckendes Immobilieneigentum für den kleinen Mann.
Da befanden wir uns gewissermaßen im Garten der Lüste.
Erstaunlich ist eigentlich nur, dass die Politik, die das Ganze losgetreten hat, es geschafft hat, ungestraft mit dem Finger auf alle anderen Beteiligten zu zeigen, als die Party im Katzenjammer einer explodierenden Spekulationsblase endete. Dabei vereinte sie Kläger, Richter und Henker der Delinquenten in einer Institution.
Nun ist es natürlich richtig, dass diese gewaltige Blase mit ihrer enormen Fehlallokation finanzieller Ressourcen nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht jeder der Beteiligten (zum Teil sehenden Auges für das Risiko, aber mit dem Ziel der profitablen Selbstoptimierung) die Entscheidungen getroffen hätte, die diese sogenannte Kreditpipeline am Leben erhielten.
Was für eine Anreizstruktur hatte jeder Einzelne der Akteure?
Was tun Sie als kleiner Arbeitnehmer, wenn eine Bank Ihnen einen Kredit, den Sie nie zu bekommen gehofft haben, geradezu aufdrängt, damit Sie sich ein Haus kaufen können, das schöner und größer ist als Ihre Mietimmobilie und dazu noch pro Monat weniger Zinsen kostet, als Sie bisher an Miete gezahlt haben? Genau, Sie kaufen ein Haus auf Kredit.
Das kann man Ihnen auch nicht übel nehmen, weil Ihnen der winzige Haken nicht aufgefallen ist, der im Kleingedruckten des Kreditvertrages stand. Die Zinsen, die Sie zahlen, werden alle drei Monate an die kurzfristigen Kapitalmarktzinsen angepasst, also an eines der vielen -BORs, zum Beispiel LIBOR, EURIBOR, oder an den Dreimonatssatz der Zentralbank. Da die Zinsen zeitweise nur 1 Prozent betrugen, konnte man einen Kredit von 1 Million US-Dollar mit einer jährlichen Belastung von nur 10 000 US-Dollar bedienen, das sind rund 830 US-Dollar im Monat.
Tilgung war keine erforderlich, denn unser fleißiger Häuslebauer würde das Haus irgendwann – mit Gewinn! – verkaufen und so nicht nur den Kredit zurückzahlen, sondern auch noch sein Vermögen mehren, sofern er diesen künftigen Vermögenszuwachs nicht schon zuvor in Konsum umgesetzt hatte.
Die Flexibilität der Zinsen von Hypothekenkrediten gehört zu den Missverständnissen des Verbraucherschutzes in den USA. Irgendwann meinte ein Richter, dass es unfair sei, unwissende Konsumenten Kreditverträge unterzeichnen zu lassen, welche die Höhe der Zinsen auf zwei oder gar zehn Jahre festschreiben, weil sie dann ja nicht von fallenden Zinsen profitieren könnten. So eine Klausel sei wohl sittenwidrig, weil der unwissende kleine Konsument ja gar nicht wisse, was er da unterschreibe, wenn er sich auf zehn Jahre festlegt.
Dass eine solche Klausel den Konsumenten umgekehrt auch vor steigenden Zinsen schützt, kam diesen Koryphäen solch moralinschwangeren und präskriptiven Verbraucher-»Schutzes« nicht in den Sinn. Und so kam es, wie es kommen musste, wenn gut meinende staatliche Institutionen die Vertragsfreiheit des Individuums beschneiden.
2005 begann sich der kurzfristige Zins in den USA erst langsam und dann immer schneller nach oben zu bewegen. Und wenn er von zum Beispiel 1 Prozent auf 3 Prozent steigt, dann verdreifacht sich natürlich auch die jährliche und monatliche Belastung. Also muss der stattlich residierende Kreditnehmer jetzt 30 000 US-Dollar pro Jahr aufbringen.
Wenn er die nicht hat, dann gibt es in den USA einen simplen Ausweg. Er schickt der Bank die Schlüssel für das Haus, und das war es. Mit seinem übrigen Privatvermögen haftet er in aller Regel nicht. Allerdings muss er das Haus dafür auch hergeben. Das ist dann für viele Kreditnehmer nicht witzig. In der Folge verklagten zahllose Betroffene die Banken nach der Devise: »Ihr habt uns Kredite aufgeschwatzt, von denen euch klar war, dass wir sie nicht bedienen können, und jetzt wollt ihr dafür auch noch Zins und Tilgung. So geht’s nicht.«
Wenn es in der Vergangenheit ein Geschäft gab, das unter der Rubrik »langweilig« im Lexikon zu finden war, dann wahrscheinlich das Geschäft mit hypothekenbesicherten Immobilienkrediten. Der Erwerber einer Immobilie bringt 30 bis 50 Prozent des Kaufpreises als Eigenkapital auf, den Rest leiht er sich und zahlt dann über 10 bis 25 Jahre mit monatlichem Zins und Tilgung den Kredit ab. Wenn er sein Einkommen verliert, wird die Immobilie veräußert und der nicht beliehene Teil bildet in aller Regel einen Risikopuffer, der so groß ist, dass er nur in den allerseltensten Fällen oder bei Panikverkauf tatsächlich verbraucht wird.
So bleibt das Hypothekengeschäft auch dann für die Bank so gut wie verlustfrei, wenn einzelne Kreditnehmer zahlungsunfähig werden. Alles, was die Bank tun muss, ist, sich beim Verleihen ihres Geldes auf solche Kreditnehmer zu beschränken, deren dauerhaft erzielbares Einkommen ausreicht, um Zins und Tilgung aufzubringen, und den Kreditbetrag auf 60 bis 70 Prozent des geschätzten Wertes der Immobilie zu begrenzen. Nicht mal die Schätzung muss sie dabei selbst machen, dafür gibt es vereidigte Sachverständige.
Eigentlich narrensicher, sollte man meinen.
Eben nicht. Wie wir oben gesehen haben, war ja die Nachfrage groß und die verzerrte Statistik eines zehnjährigen Booms führte dazu, dass die Werte der Immobilien immer weiter stiegen.
Was also sprach dagegen, nicht den aktuellen Wert, sondern den zukünftigen Wert einer Immobilie zu beleihen?
Und wenn man schon dabei war, Wachstumsmärkte im Immobilienkreditmarkt zu erschließen, bot es sich doch an, solchen Hauseigentümern, deren Immobilie seit dem Kauf vor ein oder zwei Jahren im Wert gestiegen war, eine Aufstockung des Hypothekenkredits anzubieten. Verwendung dafür bot die verführerische Fülle des mit Importen aus Europa und China explodierenden Konsumangebots. Sie reichte von billig bis edel und teuer. Ein neues Auto für die standesgemäße Garage? Urlaub? Eine neue Garderobe? Alles finanzierbar mit der Wertsteigerung der eigenen Immobilie.
Wenn da nur nicht die leidige Tatsache wäre, dass eine Bank mit begrenztem Eigenkapital eben nicht unbegrenzt Kredit ausreichen kann. Hier kam nun die Verbriefung zum Zuge. Eine kleine Hypothekenbank mit einem Eigenkapital von 1 Milliarde US-Dollar zum Beispiel kann kaum wesentlich mehr als 10 Milliarden US-Dollar an Kredit ausreichen, dann ist ihr Eigenkapital »gebunden«. Verkauft sie aber die Forderungen an Investoren, wird das Eigenkapital zur Risikoabsicherung dieser Kredite wieder freigesetzt und kann für neue Kredite verwendet, gewissermaßen »recycelt« werden. Und das geht beliebig oft.
Ein Perpetuum mobile der Finanzwirtschaft, sozusagen.
Die Bank stützt ihr Geschäftsmodell dann allerdings nicht mehr auf die Kreditmarge, also auf das Prinzip, dass sie sich das Geld zum Beispiel zu 2 Prozent leiht und dann zu 2,5 Prozent verleiht und von der Differenz ihre Kosten und ihren Gewinn finanziert. Vielmehr lebt sie davon, dass sie ein Gebührenmodell einführt, bei dem sie durch jeden neuen Immobilienkredit wie eine Art Makler eine Gebühr verdient und außerdem hofft, beim Verkauf der Forderung einen Teil des Barwertes der Zinsmarge vereinnahmen zu können.
Die Profitabilität der Bank wird in dieser neuen Welt dadurch maximiert, dass sie ein möglichst großes Kreditvolumen vergibt und dieses dann so schnell wie möglich an Investoren weiterreicht. Der schöne Anglizismus vom »originate and sell« wurde als das »strategische Endspiel der Kreditwirtschaft« gepriesen. Einen nicht geringen Anteil an der flächendeckenden Durchsetzung dieses Modells hatte übrigens die Beratungsindustrie, die den Vorständen der Banken klarmachte, dass sie im Wettbewerb untergehen würden, wenn sie diese neue Welt nicht verstünden und sich an ihr ausrichteten.
Welche Anreize schafft dieses Modell für die Bank? Zunächst kollidiert die Idee einer Maximierung des Kreditvolumens schon per se mit dem Gedanken, dass jeder Kredit vor der Vergabe einer anspruchsvollen Risikobewertung im Sinne einer Bonitätsbewertung des Kreditnehmers und einer Werteinschätzung der gestellten Sicherheit unterzogen wird. Dieser Teil des Bankgeschäfts wird nebensächlich. Dass das überhaupt möglich war, war übrigens eine direkte Folge des Umstandes, dass man Basel II in den USA, im Gegensatz zu Europa, nicht flächendeckend eingeführt hat.
Basel II hätte die Banken gezwungen, jeden Kredit mithilfe standardisierter interner Ratingverfahren auf Basis statistischer und somit empirisch belast- und testbarer Verfahren zu bewerten. Eine massenweise Vergabe von Krediten ohne eine solche Grundlage hätte über kurz oder lang dazu geführt, dass die Bankenaufsicht das Problem nicht mehr hätte übersehen können, es sei denn, sie hätte es absichtlich ignoriert. So was soll ja auch schon vorgekommen sein.
So gehört es zu den großen Missverständnissen der öffentlichen Diskussion um die Ursachen der Finanzkrise, dass man »Basel II« und seine tatsächlichen oder wahrgenommenen Unzulänglichkeiten dafür mitverantwortlich gemacht hat. Diese Hypothese ist angesichts der Realität in den US-Banken nicht haltbar.
Wir sehen also: In Summe hatten die Banken in dieser Welt, in der sie die erzeugten Kredite schnell an Investoren abstoßen konnten, jeden Anreiz, so viele Immobilienkredite wie möglich zu vergeben und bei der Risikoprüfung fünf gerade sein zu lassen. Wollen wir ihnen verdenken, dass sie das im Sinne der Shareholder-Value-Philosophie getan haben? Zumal ihnen die Ratingagenturen, zu denen wir gleich kommen, und die Investmentbanken mit ihrer Platzierungskraft bei den Investoren ständig erklärten, dass sie auch aus Müll (»Junk« klingt doch so viel besser, heißt aber übersetzt nichts anderes) noch Verbriefungen erstklassiger Qualität herstellen könnten? Und zur Sorge überhaupt kein Anlass bestehe?
Wie eingangs bereits erwähnt, ist es für die Verbriefung von Krediten entscheidend, dass man einen Käufer dafür findet. Typische Käufer von Wertpapieren sind institutionelle Investoren. Das sind Versicherungen, Pensionsfonds, Staatsfonds, Hedgefonds und – eigentlich paradoxerweise – auch andere Banken, aber dazu kommen wir noch. Diese Investoren sind in den meisten Fällen Einrichtungen, deren Investmentverhalten sehr stark an Regeln gebunden ist, um größere Unfälle oder Ausfälle zu verhindern.
Diese Kapitalsammelstellen verwalten in aller Regel das Geld anderer Leute, meistens kleiner Sparer, die ihnen das Geld mit dem Ziel einer sicheren Rente anvertraut haben. Diesen Sparern sind sie bis zu einem gewissen Grad auch rechenschaftspflichtig. Und wenn Sie eines als Manager eines solchen Instituts nicht wollen, dann ist es, den Leuten erklären zu müssen, dass ihr Geld weg ist. Das ist auf keinen Fall vergnügungssteuerpflichtig.
Eine der Sicherheitsbarrieren zur Vermeidung eines solchen Falls ist das Rating. Ein Rating ist nichts anderes als die Bewertung der Kreditwürdigkeit und damit indirekt der Verlustwahrscheinlichkeit eines Kreditprodukts. Das kann eine Staatsanleihe, eine Anleihe von Banken oder anderen Unternehmen oder eben auch eine Verbriefung sein.
Ratings beeinflussen die Entscheidungen der Investoren zum Kauf, Nichtkauf oder Verkauf einer Anleihe oder einer Verbriefung ganz entscheidend. Entweder fließen sie ein in die Risikoanalyse, die der Investor selbst vornimmt, oder, was sehr viel häufiger vorkommt, sie bilden die alleinige Grundlage einer solchen Entscheidung. Bis vor kurzer Zeit war es für viele institutionelle Investoren sogar so, dass sie bestimmte Papiere nicht einmal kaufen oder halten durften, wenn diese nicht ein bestimmtes Mindest-Rating aufwiesen.
Lassen Sie sich nicht erzählen, dass Investoren das Rating nur am Rande beachten oder dass sie das in Zukunft so machen würden, als könnten sie davon wirklich unabhängig werden. Das ist betriebswirtschaftlich schwer vorstellbar. Investoren müssen ihre Portfolien streuen, man spricht von diversifizieren. Das heißt, sie müssen viele verschiedene Papiere kaufen, damit nicht ein einzelner Unfall im Portfolio gleich zu einem Großverlust führt. Diversifikation ist eines der wichtigsten Instrumente zur Risikokontrolle.
Das bedeutet zugleich, dass der Investor über verschiedene Länder, Regionen, Branchen, Industrien und Kreditsegmente Know-how aufbauen müsste, wollte er die Leistung der Ratingagenturen für sich ersetzen. Der Aufwand ist mit derart hohen Fixkosten verbunden, dass kleine und mittlere Investoren sich das gar nicht leisten können, ohne massiv an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Selbst große und sehr große Investoren mit Anlagevolumina von mehreren Hundert Milliarden Euro bewerten in der Regel nur 60 bis 70 Prozent ihres Portfolios selbst.
Außerdem dient ein gutes Rating dem Management eines institutionellen Investors etwas derb ausgedrückt, aber in der Branche durchaus üblich als »CMA«, ausgeschrieben »Cover my Ass«. Niemand wurde je entlassen, weil er in ein von S&P AAA-bewertetes Instrument investiert hat, denn Manager und ihre Kontrolleure (und das gilt nicht nur für Vermögensverwalter, sondern für praktisch alle Branchen) sind nicht weniger markenorientiert als eine 15-Jährige beim Shopping.
Deshalb beziehen sie Wirtschaftsprüfung bei den »Big Four«, Strategieberatung bei den »Mackies« und Ratings bei den »Big Three«, also S&P, Moody’s oder Fitch. Ein Top-Rating gilt – trotz aller Fehlleistungen der Vergangenheit – eben immer noch als erstklassiges CMA, wenn doch mal etwas passiert. Dafür verliert man in der Regel nicht den Job.
Dass dabei die Kreditkarte heiß läuft, stört hier ebenso wenig wie auf der Shoppingmeile, denn in beiden Fällen muss man die Rechnung für die Dienstleistung nicht selbst begleichen. Auf der Einkaufsmeile tut das die »Bank of Dad« und im Wirtschaftsleben der Aktionär.
Welche Rolle spielten die Agenturen nun bei der Verbriefung von Immobilienkrediten in den USA?
Die Bank, welche die Kredite vergeben hat, bündelt sie in einem sogenannten »Special Purpose Vehicle«, also zum Beispiel einer kleinen Limited, und beauftragt dann die Ratingagentur, das resultierende Portfolio zu bewerten. Die Bewertung eines Portfolios ist, wie man sich leicht vorstellen kann, ein wenig komplizierter als die Bewertung eines einzelnen Kredits. Beim einzelnen Kredit kommen meistens Verfahren zum Einsatz, bei denen über Finanzkennzahlen, harte und weiche qualitative Faktoren sowie durch Beleuchtung unterschiedlichster Risiken ein Urteil destilliert wird, welches auf eine Ausfallwahrscheinlichkeit hinausläuft, also auf die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kunde seinen Kredit nicht zurückzahlt.
Wurden im Zuge des Kreditvertrages Sicherheiten gestellt, wird zudem abgeschätzt, was diese Sicherheiten bei ihrem Verkauf im Fall eines Ausfalls erbringen und wie damit der Schaden für den Kreditgeber begrenzt bzw. reduziert werden kann. Diese beiden Faktoren, nämlich die Ausfallwahrscheinlichkeit und der Verlust im Verzugsfall, erlauben die Berechnung des sogenannten »erwarteten Verlustes«.
Haben Sie beispielsweise einen Kredit über 1 Million Euro vergeben und über die Finanz- und andere Kennzahlen eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 2 Prozent geschätzt (also von 100 vergleichbaren Krediten werden pro Jahr 2 in Zahlungsverzug kommen) und verbinden Sie das mit einer Sicherheit durch eine Immobilie, die im Verwertungsfall 500 000 Euro Erlös erbringt, dann können Sie den erwarteten Verlust ganz einfach ausrechnen.
Der Verlust im Verzugsfall wird in diesem vereinfachten Beispiel 50 Prozent betragen. Das ist der Teil des Kredites von 1 Million Euro, der über die Sicherheit von 500 000 Euro hinausgeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall eintritt, beträgt pro Jahr 2 Prozent, sodass der erwartete Verlust das Produkt aus 2 Prozent und 50 Prozent ist, also 1 Prozent. 1 Prozent von 1 Million Euro sind 10 000 Euro. Diese Zahl ist ein zentrales Maß des Kreditrisikos, Ihre erwarteten Kosten müssen im Normalfall durch die im Zins für den Kredit enthaltene sogenannte Risikoprämie abgedeckt werden.
Sie sehen, es handelt sich hier im Grunde um eine statistische Messgröße. Wie jeder, der die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Schule oder an der Universität in dem für die meisten quälenden Kurs »Statistik I – beschreibende Statistik« erlernt hat, zeichnet sich diese Wissenschaft vor allem durch eine ihrer inhärenten Bescheidenheit entspringenden Kernaussage aus, die da lautet: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Für diese Aussage hat die Statistik das Konzept der »Verteilung« erfunden oder entdeckt, je nachdem, welcher philosophischen Richtung bei der Betrachtung der Natur der Mathematik man folgen mag. Der Erwartungswert, in unserem Fall der erwartete Verlust, ist nur der Mittelwert dieser Verteilung. Die Realität, also das, was in Zukunft dann wirklich passiert, weicht regelmäßig davon ab. Wie stark und wie häufig diese Abweichung ist, hängt eben von der Form der Verteilung ab bzw. drückt sich in ihr aus.
Die bekannteste und wegen ihrer Glockenform populärste Verteilung ist die »Standardnormalverteilung«, die den Vorteil hat, dass man sie durch nur zwei Kennzahlen vollständig beschreiben kann. Diese Simplizität enthebt uns komplizierter rechnerischer Notwendigkeiten. Deshalb ist sie im Risk-Management von Banken, Versicherungen und anderen Investoren sehr beliebt.
Neben dem Erwartungswert, dem Mittelwert der Verteilung, ist die Standardabweichung die zweite Messgröße. Die Standardabweichung ist gewissermaßen eine Aussage darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir eine Abweichung von dem erwarten, was wir eigentlich erwarten. Lassen sie mich das an einem Beispiel erläutern.
Ihre Tochter geht auf der lokalen Edeleinkaufsmeile Ihrer Stadt shoppen und sie haben ihr ein Budget von 150 Euro genehmigt (Sie Naivling!). Sie haben ihr dafür eine Kreditkarte überlassen (sind Sie jetzt komplett wahnsinnig?) und aufgrund Ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit erwarten Sie, dass sie ihr Budget um 50 Euro überschreitet. Der Erwartungswert der Kosten dieses Samstagvormittags beträgt damit 200 Euro. Sie haben es aber auch schon mal erlebt, dass sie ihr Budget einhält (zum Beispiel, wenn wegen eines schulischen Ausrutschers gutes Wetter gemacht werden muss), und Sie haben auch schon erlebt, dass das Budget nicht um 50, sondern um 100 Euro überschritten wurde. (Es muss Ihnen doch klar sein, dass 250 Euro für diese einmaligen Gucci-Treter eigentlich das Schnäppchen des Jahrhunderts sind und so eine Gelegenheit nicht wiederkommt, oder?)
Ich sehe, Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Der Mittelwert ist eben nur ein Mittelwert, und das Ergebnis weicht am Ende meistens davon ab.
Diese Abweichung vom Erwarteten nennt man im Kreditrisikomanagement »unerwarteten Verlust«. Das ist eigentlich eine paradoxe Wortwahl, wenn man bedenkt, dass wir die Abweichung vom Erwarteten mit einiger Sicherheit erwarten dürfen. Dieser unerwartete Verlust verursacht ebenfalls Risikokosten. Diese Risikokosten sind unmittelbar verknüpft mit dem Eigenkapital der Bank, weil dieses Eigenkapital dazu dient, unerwartete Verluste abzufedern.
Je riskanter ein Kredit im Sinne des erwarteten Verlustes ist und je mehr sogenannte Risikokumule (Anhäufung gleichartiger Risiken) und Risikokonzentrationen (dazu gleich mehr) in einem Kreditportfolio vorhanden sind, umso größer ist auch der unerwartete Verlust und umso mehr Kapital braucht eine Bank, um sich gegen die erwarteten unerwarteten Ereignisse zu versichern. Dieses Kapital kostet Geld, weil es vom Aktionär zur Verfügung gestellt werden muss, der dafür zu Recht eine Rendite erwartet, die das Risiko auch reflektiert.
Verkauft nun die Bank ein Bündel Kredite an einen Investor, überträgt sie das gesamte Risiko an ihn. Also den erwarteten, wie auch den unerwarteten Verlust und die damit verbundenen Kapitalkosten. Der unerwartete Verlust ist umso größer, je stärker ein Portfolio konzentriert ist. Was bedeutet das? Wenn ihr Portfolio nur aus wenigen Krediten besteht, sagen wir drei, die alle unbesichert sind, und jeder Kredit eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 2 Prozent hat, dann bedeutet bereits der Ausfall eines einzigen Kredites, dass im Gesamtportfolio ihr Verlust 33 Prozent beträgt.
Jetzt nehmen Sie ein Portfolio von 1000 Krediten mit einer Ausfallrate von 2 Prozent. Hier dürfen Ihnen 20 Kredite ausfallen, bis Sie den erwarteten Verlust überschreiten. Es sollte selbsterklärend sein, dass die Verteilung auf mehr Kredite (Diversifikation) die Möglichkeit eines großen Unfalls im Portfolio im Prinzip senkt.
Als die Sowjetunion noch existierte, wurden die ihrem System inhärenten Absurditäten mit einer speziellen Klasse von Witzen kompensiert, den sogenannten Radio-Eriwan-Witzen. Sie folgten immer dem gleichen Sprachduktus. Eine Frage wurde mit »Im Prinzip ja, aber …« beantwortet. Beispiel: Frage: Ist Stalins Todestag in der glorreichen Sowjetunion ein Feiertag? Antwort: Im Prinzip ja, aber unterstehen Sie sich zu feiern!
So ähnlich ist es mit der Diversifikation auch. Frage: Wird durch Diversifikation das Risiko eines unerwarteten Verlustes gesenkt? Antwort: Im Prinzip ja, wenn nicht alle Kredite an denselben Kreditnehmer vergeben wurden.
Es leuchtet ein, dass, wenn dieser ausfällt, alle von ihm aufgenommenen Kredite davon betroffen wären. Wenn es also versteckte oder offene Zusammenhänge zwischen den Krediten eines Portfolios gibt, dann erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass sie gleichzeitig umkippen, und das wiederum erhöht den unerwarteten Verlust und die mit ihm verbundenen Risikokosten. Diesen Effekt der wechselseitigen Abhängigkeit nennt man Korrelation.
Wenn Sie nun ein Bündel von Krediten einem Rating unterziehen, ist es daher nicht nur notwendig, die erwarteten Verlustberechnungen jedes einzelnen Kredites zu kennen, sondern darüber hinaus die Korrelation zwischen den Krediten. Sie müssen also die Faktoren identifizieren, die die Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen oder fast gleichzeitigen Ausfalls von zwei oder mehr Krediten erhöhen.
Um im Beispiel zu bleiben: Wenn Sie zwei Töchter zum Einkaufen auf die Shoppingmeile Ihrer wunderschönen Metropole loslassen, kann ein gemeinsamer Treiber explodierender Budgetüberschreitungen die simple Tatsache eines Schlussverkaufs oder das gegenseitige Aufschaukeln ihrer Sprösslinge im Kaufrausch sein. Besser ist es, wenn Sie das vorher abschätzen können. (Also ein Gucci-Treter für 250 Euro und – Tadaaa! – zwei für 350 Euro. Ihnen muss klar sein, dass es billiger eigentlich nur noch gestohlen geht, bei 100 Euro Grenzkosten für 380 Gramm mit Leder überzogenes Plastik, oder?)
Um das zu verstehen, bedienen sich Banken und Ratingagenturen sogenannter Kreditportfoliomodelle. Ich muss Sie gar nicht mit den komplexen mathematisch-technischen Details solcher Modelle belästigen, denn auch so ist es leicht nachvollziehbar, dass man als Bank, wenn man die wahren Zusammenhänge der Korrelation nicht kennt oder sie einfach nonchalant ignoriert, obwohl sie offenkundig sind, mit seinem nobelpreisverdächtigen Supermodell schiefliegen wird.
Und in der Tat gab es einen Faktor, der auf diese Weise geflissentlich übersehen oder übergangen wurde. Dieser Faktor war der oben bereits in anderem Zusammenhang erwähnte variable Zinssatz auf die Kredite.
Wenn die Zinsen über einen sehr langen Zeitraum fallen und damit einen Immobilienboom befeuern, führt dies über lange Zeit zu sehr geringen Ausfallraten. Selbst wenn ein Kreditnehmer zahlungsunfähig wird, kann er die Immobilie mit Gewinn verkaufen und so der Bank einen Verlust ersparen. Als in den Jahren 2003 und 2004 den Banken die guten Kreditnehmer allmählich ausgingen, weil ihre Wachstumsstrategie nur möglich war, indem man in immer riskantere »Kundensegmente« vordrang, kamen auch immer mehr Immobilienkäufer in die Portfolien, für die schon eine geringe Erhöhung der Zinsen eine Überforderung ihrer Finanzkraft bedeutete.
Steigende kurzfristige Zinsen wurden so zum gemeinsamen Treiber des zeitgleichen plötzlichen Ausfalls vieler Kredite. Dieser Zusammenhang war auch schon vor der Krise bekannt. Er wurde nur ausgeblendet, weil das Szenario eines Zinsanstiegs seit einem Jahrzehnt nicht mehr Realität gewesen war und die nur mit Daten aus Boom-Zeiten unterlegten Modelle diesen Fall einfach nicht mehr vorsahen.
Dass Zinsen aber nicht »ewig« fallen können, wird schon dadurch klar, dass es nur unter Bedingungen von Kapitalflucht (im Zielland des Kapitalstroms) oder Kapitalverkehrskontrollen möglich ist, negative nominale Zinsen zu haben. Es hätte also klar sein müssen, dass sich dieser Trend auch einmal umkehren kann. Das nicht adäquat zu berücksichtigen, war also eine möglicherweise bewusste Entscheidung der Ratingagenturen.
Die Ratingagenturen wurden dafür bezahlt, dass sie ein Rating vergaben, das die Verbriefung und den Verkauf an Investoren förderte und nicht behinderte. Sie hatten ein konkretes Interesse daran, diesen Wachstumsmarkt nicht durch schlechte Ratings zu behindern. Hier wurden die institutionellen ordnungspolitischen Probleme der Ratingindustrie sichtbar, die sich in vier Punkten zusammenfassen lassen:
1. Der Interessenkonflikt des Bezahlmodells
Bezahlt wird die Ratingagentur vom Emittenten der Papiere, also eigentlich vom Kreditnehmer, der Geld von den Investoren möchte und ein Interesse daran hat, dass seine Anleihen und Verbriefungen in einem möglichst vorteilhaften Licht erscheinen. Die daraus resultierenden Anreize für die Ratingagentur lassen sich nicht wegdiskutieren und auch nicht wirklich »managen«. Dieser Interessenkonflikt kann letztlich nur durch die Abschaffung des Emittenten-basierten Bezahlsystems und seinen Ersatz durch ein Investorenbezahlmodell gelöst werden. Das können aber die Agenturen nicht ohne die Hilfe der Politik und der Finanzmarktaufsicht leisten.
2. Der Interessenkonflikt der Beratung
Bis zur Neuregelung bzw. dem Verbot von Beratungsdienstleistungen durch Ratingagenturen beschränkte sich das Geschäftsverhältnis zu den Hypothekenbanken, die Verbriefungen emittierten, nicht auf das Rating selbst, sondern man half dem Kunden auch, die Verbriefung so zu »strukturieren«, dass ein optimales Rating erzielt werden konnte. Das ermöglichte einen für die Bank optimalen Verkaufspreis des Papiers. So hat die Ratingagentur letztlich ihr eigenes Produkt benotet.
Obwohl dies zwischenzeitlich untersagt ist, hat die Praxis an entscheidender Stelle überlebt, und zwar in Form des »indikativen Ratings«. Ein Emittent bittet vor Auftragsvergabe die Agentur, ein »vorläufiges« Rating zu erstellen. Es kann kaum überraschen, dass die Auftragsvergabe dann unter anderem mit dem Ergebnis dieser Übung in einem gewissen Zusammenhang steht. Streng genommen ist ein indikatives Rating nichts anderes als eine abgespeckte Beratungsdienstleistung zum Zweck des Marketings und auch sie sollte zur Reduzierung des Interessenkonfliktes untersagt werden. Alles andere wird die Praxis des »Rating-Pickings« nicht beenden. So schaukeln sich der Interessenkonflikt des Bezahlmodells und der Interessenkonflikt der Verquickung von Beratung und Rating in ihrer Wirkung gegenseitig hoch.
3. Die Monopolstruktur der Ratingindustrie
Drei Institute – Standard & Poors, Moody’s und Fitch – beherrschen den Markt mit einem Weltmarktanteil von über 95 Prozent. Die beiden größten, S&P und Moody’s, kontrollieren 80 Prozent des Marktes und haben darüber hinaus eine starke Überlappung ihrer Aktionärsstruktur. Weniger als zehn identische Unternehmen verfügen in beiden Agenturen über die effektive Hauptversammlungsmehrheit. Man kann sich schwer vorstellen, wie diese Konstellation einen funktionierenden Preis- und Qualitätswettbewerb befeuern soll, zumal alle drei großen Agenturen Aktiengesellschaften und somit dem Shareholder-Value, also der Gewinnmaximierung, verpflichtet sind.
Vor dem Hintergrund, dass die meisten Emittenten wenigstens zwei Ratings benötigen, läuft diese Struktur auf eine monopolistische Situation hinaus. Das Ergebnis sind hohe Preise mit Gewinnmargen von 40 bis 60 Prozent auf den Umsatz. Wenige andere Dienstleister haben eine solche Preismacht und nutzen sie auch aus. Auch auf der Qualitätsseite hält sich der Wettbewerb in Grenzen. Im Prinzip folgen alle drei einer Ratingphilosophie, die man wohl am besten als »qualitativ analytisch, expertenbasiert« beschreiben kann.
Der weitgehende Einheitsbrei dieser Methodik und ihr inhärenter Mangel an Nachrechenbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Konsistenz führt natürlich dazu, dass die Wahl eines für die Risikobewertung falschen oder unzureichenden Ansatzes in einzelnen Segmenten zu erheblichen Problemen führen kann, mit einer gewaltigen Fehlallokation von finanziellen Ressourcen in Investments, die die Investoren sonst so nie getätigt hätten. Das ist genau das, was bei den Verbriefungen passierte.
4. Der Mangel an Produkthaftung
Die Ratingindustrie ist eine Branche mit rund fünf Milliarden US-Dollar Umsatz pro Jahr, wovon zwei bis drei Milliarden US-Dollar als Gewinn übrig bleiben. Sie wird für die Erstellung ihrer Produkte von externen Auftraggebern bezahlt. In ihrem eigenen Selbstverständnis erzeugt sie aber gar kein Produkt. Was Ratingagenturen tun, sind nach ihrer Auffassung rechtlich gesehen Meinungsäußerungen. Qualitativ ungefähr so einzustufen, als wenn Person A das Wetter am Wochenende bescheiden findet (»Es regnet, da wird’s nichts mit Grillen«) oder toll findet (»Es regnet, da wachsen die Rüben auf meinem Feld«). Eine Meinung fällt gemäß der US-Verfassung unter die absolute Freiheit, diese zu äußern. Man kann dafür nicht haftbar gemacht oder zur Verantwortung gezogen werden.
Und jetzt stellen Sie sich vor, welche Anreize das schafft, wenn die Platzierung von buchstäblich Tausenden Milliarden von Euro und Dollar am Kapitalmarkt von Ihrer Meinung abhängt und Sie dafür selbst dann nicht haftbar gemacht werden können, wenn Ihr Werk grob fahrlässig oder vielleicht sogar vorsätzlich falsch erstellt worden ist. In Verbindung mit der Tatsache, dass der Emittent Sie bezahlt und aufgrund der Monopolstruktur nicht an ihnen vorbeikommt, und mit dem Anreiz, Milliarden zu verdienen, kann man sich ausmalen, dass ein komplexes Gemisch von eigenen Interessen die Akteure nicht völlig unbeeinflusst lässt.
So waren es dann schließlich die guten Noten der Agenturen für die verbrieften Kredite, die den Verkauf an Investoren weltweit und eine Ausdehnung dieses Marktes von 300 auf 3000 Milliarden US-Dollar ermöglichten. Dabei fehlte es in den Agenturen keineswegs an warnenden Stimmen, dass die Qualität der immer noch mit »Investment Grade« bewerteten Papiere einer Erosion unterlag. Allein, das Geschäft war zu lukrativ, um solchen Spielverderbern Raum zu geben.
Es wäre aber ganz falsch, jetzt in den Ratingagenturen die Alleinoder gar Hauptverantwortlichen für das Desaster zu sehen oder ihnen die institutionellen Probleme ihrer eigenen Industrie anzukreiden. Es waren politische Entscheidungen, die dafür gesorgt haben, dass diese Strukturen so entstehen konnten, ja entstehen mussten!
Fangen wir mit der Frage an, warum Ratings in den Entscheidungsprozessen von Investoren überhaupt diese überragende Bedeutung erlangt haben. Ganz einfach: Die Gesetze, die von der Politik gemacht und von staatlichen Aufsichtsbehörden durchgesetzt wurden, erzwangen dies.
Ein Versicherungsunternehmen, insbesondere eine Lebensversicherung oder ein Pensionsfonds beispielsweise, unterliegt Regeln, die es ihm untersagen, in Kreditprodukte zu investieren, die kein Rating haben oder die ein Rating haben, das schlechter als BBB ist. Auch wenn es diese Papiere bereits gekauft hat, wird es gezwungen, sie im Falle einer Herabstufung durch die Agentur unter dieses Ratingniveau (oder andere definierte Grenzen) zu verkaufen. So haben in der Vergangenheit Herabstufungen durch Agenturen völlig irrationale, aber vom Gesetz erzwungene Verkaufswellen von Kreditpapieren ausgelöst und damit Abwärtsspiralen an den Märkten in Gang gesetzt oder verstärkt. Dafür die Investoren oder Agenturen verantwortlich zu machen, vertauscht Ursache und Wirkung. Immerhin ist man zurzeit bemüht, diesen Unsinn abzustellen.
Solange alles gut lief, hat den Agenturen ihre Rolle als Quasi-Regulator natürlich gefallen. Wem gefällt es denn nicht, wenn er Macht und Geld per staatliches Dekret bekommt? Und Hand aufs Herz: Wer hätte denn anstelle der Agenturen gesagt: »Liebe Politiker, so geht das nicht, ihr schaufelt uns Geld in den Kohlenkeller ohne Ende und betreibt ein Outsourcing originärer regulatorischer Kompetenzen über die Finanzindustrie an uns, das könnt ihr so nicht machen!« 99 Prozent der Menschen, die ich kenne, wären stattdessen zum Lachen in den Keller gegangen.
Und wie kam es zu der monopolartigen Struktur dieser Industrie? Hier gab es ein interessantes Zusammenwirken von Marktkräften und staatlicher Intervention. Rating als Dienstleistung kann auf die Dauer nur funktionieren, wenn ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit in die ausführende Institution vorhanden ist. Fairerweise muss man sagen, dass es den großen Agenturen bis zur Finanzkrise trotz des einen oder anderen Unfalls gelungen war, diese Glaubwürdigkeit auch zu rechtfertigen.
Diese Glaubwürdigkeit hat aber enorme Skaleneffekte zur Grundlage. Rating ist ein Markenprodukt, es erfordert erhebliche Ressourcen, um über alle relevanten Länder, Regionen, Industrien und Kreditsegmente hinweg Ratings zu erstellen, die auf Basis einer einheitlichen Skala auch wirklich miteinander vergleichbar sind. Für den Investor hat es enorme Bedeutung, dass ein AAA für eine Bank in Nordamerika die gleiche Aussage beinhaltet wie ein AAA für ein Land in Europa oder eine Unternehmensanleihe aus Japan. Oder eben eine Immobilienkreditverbriefung aus Kalifornien.
Diese »Economies of Scale« machen die Ratingindustrie im mikroökonomischen Sinne zu einem »natürlichen Oligopol«. Es ist kein Platz für 50 globale Ratingagenturen. Es ist bestenfalls Platz für 5 bis 8, wenn überhaupt. Es ist natürlich nicht so, dass deshalb kein Wettbewerb stattfindet. Airbus und Boeing sind dafür ein hervorragendes Beispiel. Beide gemeinsam beherrschen den Markt für große Verkehrsflugzeuge zu praktisch 100 Prozent. Dennoch findet zwischen ihnen ein intensiver Wettbewerb statt, der zeitweise sogar ruinöse Züge annimmt, sehr zum Vorteil der Airlines und ihrer Kunden.
Bereits bei dem deutschen Ökonomen Heinrich Freiherr von Stackelberg (1905–1946) kann man nachlesen, dass ein Duopol oder Oligopol zwei Ausprägungen annehmen kann: Eine, in der der Wettbewerb funktioniert, dann ist er sogar intensiver, als im atomistischen Konkurrenzmodell, und eine, in der die geringe Zahl der Anbieter zu Strukturen führen kann, die in Kartelle mit einer monopolistischen Preisbildung münden.
Wenn Sie nun nach dem Unterschied zur Ratingindustrie fragen, gibt es eine einfache Antwort: Boeing und Airbus haben nicht die gleichen Aktionäre, und man braucht keine zwei Flugzeuge, um zu fliegen. S&P und Moody’s haben dagegen die gleichen Aktionäre und man benötigt für viele Anleiheausgaben zwei Ratings, um die Anforderungen von Investoren oder Regulatoren zu erfüllen.
Für die Politik war es zudem bequem, nur eine begrenzte Anzahl von Ratingagenturen als Umsetzer regulatorischer Anforderungen an Banken, Versicherungen und Pensionsfonds zu haben. Das reduzierte die Komplexität der Kommunikation und der Interpretation der vergebenen Ratings sowie ihre Vergleichbarkeit untereinander.
Es ist schwer zu sagen, ob dies die alleinige Motivation für den amerikanischen Gesetzgeber war, eine Lizenzpflicht für Nationally Recognized Statistical Rating Organisations, kurz NRSRO, einzuführen, deren Handhabung durch die US-Börsenaufsicht (SEC) über Jahrzehnte praktisch jeden Neuzugang zum Markt verhinderte. Dass dies auf Lobbyarbeit zurückzuführen sei, ist jedenfalls nicht bewiesen.
Eines muss mit Blick auf die Zukunft aber klar sein: Eine solche Konstruktion ist eine stetige und nicht versiegende Quelle systemischen Risikos. Sie hat jederzeit das Potenzial, gewaltige Risikokumule zu erzeugen und die Weltwirtschaft ins Trudeln zu bringen. Warum? Weil der größte Teil der weltweiten Ersparnisse in Kreditprodukte investiert wird. Es dürften etwa zwei Drittel sein. Entweder in Form von Staatsanleihen oder in Form von Unternehmensanleihen, und selbst dort, wo Kredite überwiegend von Banken an die Realwirtschaft vergeben werden, haben sich die Kreditinstitute dieses Geld vorher in der Regel am Kapitalmarkt von den Sparern geliehen.
Diese enormen Summen gehen alle durch das Nadelöhr von drei Agenturen, na ja, eigentlich nur anderthalb, wenn man bedenkt, dass die beiden größten 80 Prozent des Weltmarktes beherrschen und die gleichen Aktionäre haben.
Wenn an diesem Nadelöhr, wo die Entscheidungsgrundlagen für die Allokation von deutlich mehr als der Hälfte der weltweiten Ersparnisse gelegt werden, etwas schiefläuft, dann muss das zu gewaltigen Fehlallokationen von Ressourcen führen. Das ist in der Hypothekenblase passiert, und es kann jederzeit wieder passieren, weil das ein Konzentrationsrisiko ist, das man in Wahrheit nicht unter Kontrolle bringen kann.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Agenturen dieses System verteidigen. Beruht doch ihr gesamtes Geschäftsmodell darauf, den Emittenten im Tandem mit den Investmentbanken auf diese Weise den Zugang zum Kapitalmarkt zu öffnen und offenzuhalten. Was die Wenigsten wissen: Bis Ende der 1960er-Jahre bezahlten nicht die Emittenten, sondern die Investoren die Ratingagenturen. Wie eine ferne Reminiszenz erinnert noch heute der volle Firmenname von Moody’s an diese um einen großen Interessenkonflikt ärmere Zeit: »Moody’s Investors Services«.
Damals gab es eine großartige technologische Innovation aus dem Hause Xerox: den preiswerten Fotokopierer. Er sorgte dafür, dass einzelne Ratingberichte, von einzelnen Investoren von den Agenturen gegen Entgelt erworben, schnelle und praktisch kostenlose Verbreitung fanden. Die Ratingagenturen standen plötzlich vor dem gleichen Problem, wie die Musikindustrie beim Aufkommen des Internets. Der Anreiz, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, ohne sie adäquat zu bezahlen, der sogenannte »Free Ride«, hebelte das bestehende Geschäftsmodell aus.
Für die Agenturen war es eine existenzielle Notwendigkeit, ein alternatives Geschäftsmodell und damit ein Bezahlsystem zu finden, das den Free Ride wieder austrickste. Ihnen 40 Jahre später zu unterstellen, sie hätten das quasi konspirativ getan, um sich rücksichtslos auf Kosten der von der Allgemeinheit zu tragenden systemischen Risiken zu bereichern, ist an den Haaren herbeigezogener Unsinn.
Die Agenturen standen vor einer unternehmerischen Herausforderung, und sie haben darauf betriebswirtschaftlich vernünftig reagiert. Würde man daraus eine Harvard Business School Case Study machen, wäre sie mit Sicherheit ein Beispiel dafür, wie man eine strategische Herausforderung durch ein innovatives Geschäftsmodell bewältigt. Wirklich dumm für die Musikindustrie, dass hier die Analogie endet, sonst könnte sie künftig die Künstler für das Verlegen ihrer Musik bezahlen lassen.
Dass man damals nicht schlauer sein konnte, ist natürlich keine Entschuldigung dafür, das Problem jetzt, da es allseits bekannt und erkannt ist, zu ignorieren und einfach so weiterzumachen wie bisher. Aber gibt es eine Alternative?
Aus eigener Kraft können die Agenturen kein Investoren-basiertes Bezahlsystem etablieren, ohne dass der beschriebene Free Ride ihren Unternehmenswert zerstört. Das liegt an den Rahmenbedingungen, die den Investoren erlauben, zwar die Früchte dieser Arbeit in Anspruch zu nehmen, aber sich der Pflicht zur Zahlung dadurch zu entziehen, dass sie die Ratinginformation als quasi öffentliches Gut behandeln.
Wer also diesen Interessenkonflikt lösen will, muss auf die Politik schauen. Dort liegen schon seit Ende 2011 Vorschläge vor, insbesondere bei der Europäischen Kommission, die Voraussetzungen für ein Investoren-basiertes Bezahlsystem wie auch für einen intensiven Wettbewerb im Ratingmarkt zu schaffen. Dies wäre möglich durch die Schaffung eines zentralen »Marktplatzes für Ratings« bei Neuemissionen und Kontrahierungszwang für die Investoren auf den Primärmärkten. Dafür sind nur vergleichsweise zurückhaltende regulatorische Änderungen des Anleihemarktes erforderlich.
Es wäre also gar nicht so schwierig und aufwendig, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Investoren-basiertes Bezahlmodell ermöglichen, den Wettbewerb zwischen den Agenturen und die Transparenz der Ratings stärken und so die Anreizstruktur für die Akteure entscheidend verbessern. Das Modell sieht in seinen Grundzügen wie folgt aus:
Man schafft einen zentralen Marktplatz, über den alle Neuemissionen von Kreditpapieren laufen müssen. Den Emittenten wird im Wege der Prospektregelungen auferlegt, dass alle Rating- relevanten Informationen auf dieser Plattform zu veröffentlichen sind, sodass sowohl Ratingagenturen als auch Investoren, die ein eigenes Rating durchführen möchten, gleichberechtigten Zugriff auf die Daten haben. Das gilt auch für Analystenpräsentationen und Q&A-Sessions.
Die Agenturen veröffentlichen dann ihre Ratings und Ratingberichte auf der Plattform. Bei der Emission des Papiers auf dem Primärmarkt wird dann der Investor durch Kontrahierungszwang gehalten, eines der Ratings auf der Plattform zu erwerben. Der Preis findet sich im Wettbewerb zwischen den Agenturen auf der Plattform.
Der Investor kann vom Zwangserwerb eines Ratings für die von ihm erworbene Tranche einer Neuemission befreit sein, wenn er selbst ein Rating durchführt, das den gleichen regulatorischen Standards entspricht, wie sie auch für die Agenturen gelten. Damit wird für Investoren ein Anreiz geschaffen, sich von den Agenturen unabhängiger zu machen. Dieser Mindeststandard wäre durch die Wertpapieraufsicht (in Europa die ESMA, in den USA die SEC) festzulegen und zu überwachen. Am System teilnehmen darf jede Ratingagentur, die von der zuständigen Aufsicht lizenziert wird. Damit sind Mindestqualitätsstandards gesichert.
Weil nur für Primäremissionen das Rating von der Agentur erworben werden muss, aber auf dem Sekundärmarkt dafür kein Erfordernis besteht (das Rating klebt gewissermaßen wie ein Nummernschild an der Tranche und wandert bei Veräußerung mit), führt ein Arbitragemechanismus dazu, dass der Emissionspreis von Anleihen im Vergleich zum Sekundärmarkt bei vergleichbarer Laufzeit und Risikostruktur um den Preis des Ratings niedriger sein wird. Damit ist sichergestellt, dass die Investoren keine zusätzlichen Lasten tragen müssen, sondern diese im Wege der Arbitrage an die Emittenten zurückgegeben werden.
Im internationalen Wettbewerb der Bezahlsysteme würde sich dieses Verfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit durchsetzen, wenn es in Europa oder den USA eingeführt wird, weil die Emittenten keinen Anreiz mehr hätten, für die Ratings, die auf der Plattform ohnehin durchgeführt und veröffentlicht werden, noch mal im Wege des alten Systems an die Agenturen Geld zu zahlen.
Eigentlich ganz einfach. Man muss nur den Mut haben, sich von der Planwirtschaft des Rotationsverfahrens (oder ähnlicher sowjetinspirierter Ideen wie Auftragsvergabe für das Rating durch eine Behörde, das Los oder sonstigen Humbug made by Gosplan) zu verabschieden.
Bisher hat es die Politik komplett versäumt, solche Überlegungen ernsthaft zu prüfen. Sie greift stattdessen mit Ideen wie »Ratingrotation« und ähnlichen Instrumenten, die den Geist der Planwirtschaft atmen, in die Freiheit der Kapitalmarktteilnehmer ein. Man muss sich eben entscheiden: Will man Freiheit oder glaubt man, dass der Staat alles besser weiß?
Die Rotationsidee beinhaltet ganz einfach die Auflage an Emittenten, in einem bestimmten Turnus (nach zwei oder drei Jahren) oder nach einer bestimmten Anzahl von Emissionen die Ratingagentur zu wechseln. Auf diese Weise soll der Interessenkonflikt zwar nicht gelöst, aber doch entschärft werden. Na ja.
Wenn Sie drei Agenturen haben und zwei brauchen, um eine Emission zu platzieren, wie schnell wollen Sie dieses Rotationsrädchen denn dann drehen? Investoren brauchen für ein vernünftiges Kreditrisiko-Controlling eine konsistente und über die Zeit vergleichbare Ratinghistorie. Wird Fitch garantieren, dass ihre Ratings auf einer festgelegten Skala mit denen von S&P oder Moody’s konsistent und vergleichbar sind? Wohl kaum. Umgekehrt auch nicht.
Außerdem: Wenn der Käufer einer Dienstleistung in so einem engen Anbietermarkt regelmäßig zum Wechsel gezwungen wird, wo bleibt denn da der Wettbewerb? Diese Methode stellt sicher, dass man nur warten muss, bis man an die Reihe kommt, es besteht keinerlei Notwendigkeit, durch Preis oder Leistung oder beides den Auftrag zu gewinnen. Einen Auftrag in einem funktionierenden Wettbewerb zu erstreiten ist zutiefst meritokratisch und gerecht, jede andere Methode ist es nicht, weil sie immer Elemente von Willkür in sich trägt.
Ein geschätzter Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg hat es einmal in einer Vorlesung Anfang der 1980er-Jahre treffend formuliert: »Wenn Ihnen der Markt als Allokationsmechanismus von Gütern und Dienstleistungen nicht passt, dann gibt es dazu Alternativen. Eine davon ist Schlange stehen.« Ganz genau.
Die anderen Allokationsmechanismen, die noch zur Wahl stehen, sind Bürokratie (da wo man immer alles besser weiß, aber erfahrungsgemäß alles schlechter macht), Losentscheid (mittwochs oder samstags mit den Lottozahlen kommt die Ratingfee zur großen Kapitalmarkttombola) und Gewalt.
Nun, Letzteres ist nicht mal in Brüssel in die engere Wahl gekommen. Da haben wir ja noch mal Glück gehabt.
Die Definition von Ratings als Meinung und damit ihre Abschirmung von jeglicher Haftung ist eines der erfolgreichsten juristischen Konzepte, welche die Finanzindustrie je hervorgebracht hat. Wenn man bedenkt, dass alle drei großen Agenturen in den USA ihren Hauptsitz haben, und weiß, welche Kapriolen das mit dem System der Geschworenengerichte verknüpfte Konzept der Produkthaftung dort annehmen kann, könnte es einem fast in den Sinn kommen, Notwehr darin zu erblicken.
Ob Sie sich mit einem Kaffee bei McDonalds das Gemächt verbrühen, Ihre Katze in die Mikrowelle stecken oder Brems- und Gaspedal Ihres Audi miteinander verwechseln, Sie können davon ausgehen, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass Ihnen eine tränengetränkte Laienjury zu ihrem »Recht« verhilft und die Schuldigen nicht nur zur Kompensation Ihres Schadens verdonnert, sondern ihnen eine Strafe (die verdientermaßen Ihnen als Geschädigtem zufließt) aufbrummt, die sie so schnell nicht vergessen werden. Falls die Verurteilten das ökonomisch überleben. Erst in jüngster Zeit kommen Bemühungen in Gange, die schlimmsten Auswüchse dieses an juristische Piraterie grenzenden Systems zu beschneiden.
Wenn Sie also ein Produkt herstellen, das in Summe für Investitionsentscheidungen nicht im Milliarden- oder Multimilliarden-Bereich, sondern im Billionenbereich benutzt wird, können Sie vor diesem Hintergrund schon auf den Gedanken kommen, dass die Akzeptanz von Haftung suizidale Charaktereigenschaften voraussetzen würde. Und deshalb wird jeder Zentimeter Boden mit der gleichen Kampfeslust verteidigt, wie ein wassergefüllter Granattrichter vor Verdun 1917.
So, jetzt reicht es aber mit dem Verständnis.
Denn andererseits muss uns klar sein, dass es eine enorme gesamtwirtschaftliche Verantwortung beinhaltet, wenn buchstäblich Tausende von Milliarden US-Dollar und Euro die Ratingagenturen als Torwächter passieren, bevor sie investiert werden. Und die Agenturen sind dabei weder Behörden noch karitative altruistische Veranstaltungen. Sie sind Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung. Und wo gut verdient wird, da muss es auch Anreize für verantwortungsvolles Handeln geben, sprich Sanktionen. Und diese sind in ihrem Kern das Gleiche wie Haftung.
Die Kernfrage ist, wie man diese Haftung gestalten kann, ohne die Existenz der Agenturen, auf deren Arbeit das Gesamtsystem der Kapitalmarktakteure angewiesen ist, zu gefährden. Weiterhin muss man bedenken, dass die Haftung angesichts der ohnehin zu geringen Anzahl von Marktteilnehmern so gestaltet sein muss, dass sie im Zweifelsfall wehtut, aber nicht ruinös ist, da sonst hinterher nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Ratingagenturen den Markt beherrschen.
Da wünscht man schon mal viel Spaß bei der Umsetzung des Rotationsprinzips.
Es muss also eine Haftungsbegrenzung geben, die je nach Schadensursache gestaffelt ist. Für Schäden aufgrund grober Fahrlässigkeit sollte dies ein festzulegendes Mehrfaches der für das Rating vereinnahmten Gebühren sein. Für vorsätzliches Fehlverhalten (was eigentlich nicht vorkommen sollte, aber angeblich vorgekommen ist) sollte ein Prozentsatz des Eigenkapitals oder des Jahresgewinns der Agentur als Kompensation festgelegt werden, damit es ein wenig mehr wehtut.
Es ist klar, dass dies im Vergleich zu einer reinen, am Verursacherprinzip orientierten Lösung als unbefriedigend und unzureichend erscheinen muss. Zu bedenken ist jedoch, dass es ohne die Ratingindustrie in den letzten 40 Jahren nicht möglich gewesen wäre, die Ersparnisse direkt und kostengünstig der Industrie und Wirtschaft für Investitionen zur Verfügung zu stellen, ohne den Umweg über das Bankensystem zu nehmen.
Dieser Vorgang hat durch günstigere Refinanzierung von Banken und Unternehmen enormen volkswirtschaftlichen Wert geschaffen. So gesehen hat diese Branche über Jahrzehnte einen positiven externen Effekt für die Volkswirtschaften zur Verfügung gestellt. Das sollte man im Auge behalten, bevor man das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Überdehnt man die Haftung im Sinne eines reinen Verursacherprinzips, dann werden die Risikokosten dieser Tätigkeit eventuell zu hoch sein, um ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Das wäre gesamtwirtschaftlich im höchsten Maße schädlich, zumal die Banken schon jetzt nicht mehr in der Lage sind, den Kreditbedarf der bisher nicht über den Kapitalmarkt laufenden Segmente zu befriedigen. Noch viel weniger könnten sie eine so entstehende Lücke stopfen.
PS: Es ist ein Irrtum der Politik, wenn sie glaubt, dass durch die gesetzliche Definition der Ratings als Dienstleistungen oder Produkte bereits eine Haftung für Schäden, die durch Investoren erlitten werden, erreicht werden könnte. Solange die Emittenten die zahlenden Kunden der Agenturen sind, sind Investoren nur unbeteiligte Dritte mit der rechtlichen Qualität von Zuschauern. Produkthaftung gilt gegenüber den Kunden einer Dienstleistung. Dort entsteht aber gar kein Schaden, wenn ein Wertpapier zu gut bewertet und das Kreditrisiko unterschätzt wird.
Deshalb ist die Frage eines zielführenden Haftungsregimes untrennbar mit der Frage des Bezahlsystems verbunden. Nur wenn die Investoren bereit sind, für das Rating zu bezahlen, können sie rechtlich auch Ansprüche geltend machen, die über eine deliktische Haftung, deren Hürden sehr hoch sind, hinausgehen. Delikt heißt immerhin, dass die Agentur bzw. ihre Mitarbeiter gegen das Strafrecht verstoßen haben müssen. Dafür gelten noch höhere Beweishürden, als dies im Zivilrecht der Fall ist.
Es lohnt an dieser Stelle ein kleiner Exkurs zur Strafexpedition des US-Justizministeriums gegen Standard & Poors. Dort hat man nämlich geglaubt, beweisen zu können, dass die Agentur ihre Ratings zu Verbriefungen in betrügerischer Absicht zu gut hat ausfallen lassen, um an der weiter wachsenden Pipeline dieses Geschäfts zu verdienen. In der Tat hat man da ein paar interne E-Mails von Mitarbeitern der Agentur ausgegraben, die nicht witzig sind. Ich muss mich korrigieren, eigentlich sind sie schon witzig, sie wären es wenigstens, wenn die Sache nicht so ernst wäre.
Die beiden schönsten Zitate aus diesen firmeninternen Mails von Mitarbeitern der Ratingagentur, die ich dazu in der Presse finden konnte, waren:
»Die Ratingagenturen machen damit weiter, ein noch größeres Monster zu schaffen. Lasst uns hoffen, dass wir alle reich und in Rente sind, wenn dieses Kartenhaus zusammenbricht.«
»Wir raten jeden Deal. Der könnte von Rindviechern strukturiert worden sein, wir raten ihn.«
Nicht schmeichelhaft, in der Tat.
Von solchen E-Mails hat man freilich auch schon bei anderen Agenturen und Institutionen gehört – es scheint bei einer großen Organisation nicht möglich zu sein, Derartiges zu verhindern –, und daher stellen sich schelmisch veranlagte Menschen die Frage, warum ausgerechnet S&P gerade jetzt vor die Flinte der amerikanischen Bundesbehörden gekommen ist. Dazu kursieren zwei Theorien: Die eine besagt ganz einfach, dass die Beweislage in diesem Fall in Summe einfach besser gewesen sei für eine Anklage, und die andere besagt, dass S&P mit der Herabstufung der USA von AAA auf AA+ gegen die Haus-, Hack- oder sonst eine Ordnung aus dem Hühnerstall verstoßen hat.
Ich möchte es dem Urteil des Lesers überlassen, ob eine davon oder eine Mischung aus beiden oder etwas ganz anderes zutrifft.
Vielleicht ist es auch einfach nur eine Frage der Reihenfolge.
Nun, die Staatsanwälte möchten S&P zu einer Strafe von 5 Milliarden US-Dollar verdonnern. Man kann sich leicht ausrechnen, was passieren würde, würden sie damit Erfolg haben. Es gäbe wahrscheinlich zivile Folgeklagen, die S&P existenziell bedrohen würden. Kein Wunder also, dass die Aktie von McGraw Hill, der Muttergesellschaft von S&P, in der Woche der Veröffentlichung durch das DoJ um über 20 Prozent einbrach. Das ist wohl die Größenordnung der Wahrscheinlichkeit, die die Marktteilnehmer an den möglicherweise für S&P ruinösen Erfolg dieser Aktion kleben.
Es ist schon klar, dass man einem Staatsanwalt, der auf der Jagd nach einem Skalp ist, nicht mit wettbewerbspolitischen Bedenken kommen darf. Versuchen wir es trotzdem. Es ist offensichtlich, dass ein möglicher Erfolg dieser Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem »Anderson-Moment« in der Ratingindustrie führen würde, nämlich zum Ausscheiden des größten Anbieters. Dann reduziert sich die Anbieterzahl von 3 auf 2, und das in einem Markt, der sich schon jetzt nicht gerade durch Konkurrenz und funktionierenden Wettbewerb auszeichnet. Kann das angesichts der Bedeutung von Ratings für die Kreditkapitalmärkte sinnvoll sein? Da hat man doch seine begründeten Zweifel.
Dazu kommt, dass die Emittenten vor einem gewaltigen Problem stehen: Allein die Möglichkeit dieses Ereignisses zwingt sie, sich auf den Fall vorzubereiten, dass S&P ihnen für ihr Rating und ihre Emissionen keine Ratingkontinuität mehr garantierten kann. Wie soll das gehen bei einer so geringen Zahl von Agenturen?
Was wäre die Finanzwirtschaft ohne die »Verrichter von Gottes Werk«? (Beschreibung der Tätigkeit der größten und einflussreichsten Investmentbank durch deren CEO.) Sehen Sie, das ist der Unterschied im Selbstbewusstsein zwischen einem Investmentbanker und dem Papst. Der Pontifex Maximus bezeichnet sich am Tag seiner Wahl bescheiden und demütig als »einfacher Arbeiter im Weingarten des Herrn«. Der Investmentbanker verrichtet die Arbeit, die seiner Meinung nach eigentlich Gott tun müsste.
Habe ich nicht mal irgendwo gelesen »Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon«? Jetzt endlich wurden wir über die wahre Tragweite dieses Satzes aus »berufenem« Munde aufgeklärt.
Im Kreditkapitalmarkt sind es die »Bulge Bracket«-Investmentbanken, die Größten der Großen, die mit ihren Fixed-Income-Abteilungen sagen, wo es langgeht. Ihr Verhältnis zu den Ratingagenturen ist, wenn man so will, im positiven wie im negativen Sinne symbiotisch.
Ratingagenturen können von den Erträgen, den Boni und dem Einfluss ihrer großen Brüder in den Investmentbanken nur träumen. Die Investmentbanken haben einen weit lukrativeren Teil der Wertschöpfungskette des Fixed-Income-Marktes im Besitz. Sie erbringen im Geschäft mit Anleihen und Verbriefungen zwei absolut unverzichtbare Dienstleistungen. Sie nehmen den Emittenten en bloc ihre Papiere ab und parken sie auf der eigenen Bilanz zwischen, und sie haben das Netzwerk, um diese Papiere dann anschließend auch bei Investoren zu verkaufen. Beides zusammen nennt man Platzierungskraft.
Investmentbanken sind also gewissermaßen die physische Pipeline zwischen den Emittenten, in unserem Fall der Hypothekenbanken, und dem Markt im Sinne der Endinvestoren.
Damit diese Dienstleistung profitabel funktionieren kann, bedarf es gewisser Erfolgsfaktoren, die zum Teil von den Fähigkeiten der Investmentbanken und zum Teil von den Rahmenbedingungen des Marktes abhängen.
Da ist zum einen die Kapazität zur Risikonahme. Die Bank braucht Eigenkapital dafür, und das nicht zu knapp. Es ist natürlich das Ziel, die hereingenommenen Kreditpapiere möglichst schnell bei den Endkunden unterzubringen. Was dabei auf den Büchern liegt, ist abhängig vom Gesamtvolumen, das man platziert, und der Umschlagsgeschwindigkeit, die wiederum teilweise auch von äußeren Faktoren wie dem Risikoappetit des Marktes etc. beeinflusst wird.
Der zweite Erfolgsfaktor ist das Netzwerk der Broker, also ihre Fähigkeit, Investoren anzurufen und ihnen das Papier erfolgreich anzudienen.
Der dritte Faktor ist mit dem zweiten eng verknüpft: Es ist das Niveau der Risikotransparenz, das die platzierten Papiere aus den öffentlich verfügbaren Daten und dem Rating haben. Paradoxerweise ist es dabei nicht optimal, wenn die Transparenz maximiert wird. Denn eine maximale Transparenz im Rahmen standardisierter und für jedermann leicht nachrechenbarer Verfahren würde die Wertschöpfung der Platzierung mindern. Investoren kaufen häufig ein Papier, obwohl sie das Rating nicht nachvollziehen können, wenn es ihnen von einer Investmentbank ihres Vertrauens angeboten wird.
Dieser Umstand macht deutlich, warum die Zusammenarbeit von Investmentbanken und Ratingagenturen bestimmten Regeln folgt und welche das sind. Transparenz, ja bitte, aber nicht zu viel, denn das entwertet einen wichtigen Teil der Wertschöpfungskette, nämlich die Platzierungskraft.
Unschön ist es, wenn die Pipelinefunktion, die die Investmentbank durch das Zwischenparken der Papiere auf ihrem Buch ausführt, außer Kontrolle gerät. In einem Markt, dessen Nachfrage nach diesen Papieren kollabiert, so wie das 2008 passiert ist, erstickt eine solche Bank unter Umständen daran, dass sie »den Hals zu voll hat«. Die Papiere sind auf der Bilanz, finden keinen Käufer, ein kollabierender Markt erzwingt eine Abschreibung auf die Papiere, welche die Solvenz des Instituts in Frage stellt.
Die anderen Marktteilnehmer verlieren das Vertrauen und schneiden das Institut von der Liquiditätsversorgung des Interbankenmarktes ab. Wenn dann gleichzeitig andere Risikoaktiva unter Druck kommen, hat man die Situation, vor der Lehman Brothers 2008 plötzlich stand. Die Bank ging nicht unter, weil sie nicht genug bilanzielles Eigenkapital ausgewiesen hätte, sondern weil der Markt ihr keine Liquidität mehr zur Verfügung stellte und der Staat nicht einsprang.
Ähnlich erging es Northern Rock. Nur dass die Pipeline hier keine Durchleitung war, sondern sich der Bestand aus selbst getätigten Krediten ergab, die dann aufgrund des zusammenbrechenden Appetits des Marktes für die Aufnahme solcher Papiere nicht refinanziert werden konnten. Northern Rock hatte zuletzt 16 Prozent Eigenkapital, aber keine Liquidität. Lehman übrigens auch.
Im Unterschied zu Kreditkunden, Hypothekenbanken und Ratingagenturen sind die Investoren eine höchst heterogene Gruppe, und von einigen Ausnahmen abgesehen ist es daher sinnvoll, nur die Gemeinsamkeiten dieser Marktteilnehmer im Hinblick auf ihren Anteil bei der Entstehung der Blase von Hypothekenkreditverbriefungen darzustellen.
Das wirklich Interessante am Verhalten der Investoren war ihre fehlende Bereitschaft, eine sehr einfache Frage zu stellen: Warum bekomme ich für eine AAA-Verbriefung amerikanischer Hypothekenkredite eine deutlich bessere Verzinsung als für eine AAA-bewertete Staatsanleihe eines OECD Landes? Wenn das Rating ein einheitlicher Maßstab der Risikobewertung war, dann hätte es eine solche Differenz allenfalls kurzzeitig und in Einzelfällen geben dürfen. Sie betraf aber das ganze Segment über Jahre.
Heinz Erhard, der berühmte Komiker der 1950er-Jahre (nicht zu verwechseln mit Ludwig Erhard, dem großen Vertreter der Idee der freien und sozialen Marktwirtschaft der gleichen Epoche) hätte wahrscheinlich gesagt: »Ich stutzte drei Mal.« Haben viele Investoren aber nicht. Nicht mal einmal.
Es konnte eigentlich nur zwei Erklärungen geben: Entweder waren die Ratings systematisch falsch und zu optimistisch oder die Marktteilnehmer lagen dauerhaft falsch und versahen diese Papiere mit einer Risikoprämie, die zu hoch war. Welche dieser beiden Varianten traf zu? Sie erraten es.
Die regulatorischen Rahmenbedingungen zwangen die Investoren dazu, bevorzugt in solche Anleihen zu gehen, die wenigstens »Investment Grade« waren, also BBB oder besser, am besten aber AA und AAA. Diese Nachfrage nach AAA wurde befriedigt, und das zu Renditen, die man sonst nur mit BB und B+, also unter Inkaufnahme substanzieller Risiken erwirtschaften konnte. Um das zu tun, muss wenigstens eine von vier Bedingungen im Kopf der Investoren erfüllt sein:
Variante 1
– Wir vertrauen dem Markt nicht, und dass er effizient sein soll, glauben wir schon gar nicht. Und wir sind so smart, dass wir ihn austricksen können. Das ist so eine Art »Ich-bin-schlauer-als-du-obwohl-es-jeder-nachlesen-kann-dass-ich-keinen-Informationsvorsprung-habe«-Argument. Viel Glück!
Von einem Vertreter dieser Kategorie in Gestalt des Vorstandsvorsitzenden einer sehr großen Bank durfte man sich im Jahre 2002 erklären lassen, warum seine Bank, die zu dem Zeitpunkt plante, einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag in die hier besprochenen Papiere zu investieren, keine Notwendigkeit dafür sah, im Rahmen ihres Basel-II-Programms ein eigenes Analyse-, Bewertungs- und Ratingsystem dafür einzurichten. Zitat: »Darüber wissen wir alles schon ganz genau. Und außerdem haben wir dafür die Ratingagenturen.« Zitatende.
Der Satz kostete die Bank etliche Milliarden Euro. Nun ja, es war eine Bank im Staatseigentum. Da kann man sich natürlich sicher zurücklehnen, denn man hat ja den ultimativen Risikopuffer, nämlich den Steuerzahler, der auch in diesem Fall geduldig einsprang.
Überhaupt war es interessant zu sehen, warum ausgerechnet Banken (vor allem solche mit Staatsbeteiligung) zu den eifrigsten Investoren in diese Papiere gehörten, obwohl doch andere Banken zur gleichen Zeit ebenso eifrig bemüht waren, das Zeug aus ihren Portfolien herauszuschaufeln. Angeblich »suchte« sich jedes Risiko in diesem Markt seine »optimale Allokation«. Ein Auktionator würde wahrscheinlich sagen, »eine Sache ist so viel wert, wie der Dümmste bereit ist, dafür zu bezahlen«. Man nannte das »Kreditersatzgeschäft«.
Das Problem dieser Bank war, dass sie sich mit billiger Liquidität vollgepumpt hatte wie ein Junkie mit billigem Stoff (Sie möchten gar nicht wissen, welche weitsichtige Staatsintervention im Wechselspiel zwischen Brüssel und Berlin das ermöglicht und dafür Anreize geschaffen hat. Wenn Sie es doch wissen möchten, mailen Sie den Verlag an, dann bauen wir das in die 2. Auflage ein) und dieses Geld mangels Kundengeschäft irgendwo parken musste. Dem sprachlich sensiblen Risk-Manager wäre natürlich schon beim Wort »Ersatz-« aufgefallen, dass es selten Worte gibt, die sozusagen positiv mit diesem Beiwort aufgeladen sind. Dumm nur, dass der Chief Risk Officer dieser Bank solche Sensibilität nicht aufbringen wollte, das lag vielleicht an seiner Vorliebe, sein Büro mit der mondänen Welt der Formel 1 zu vertauschen, das Boxenluder.
Variante 2
– Wir vertrauen dem Urteil der Ratingagentur uneingeschränkt, denn dort sitzen als Analysten die intelligentesten Menschen, die es je in eine mittelmäßig bezahlte Position verschlagen hat (jedenfalls im Vergleich zu den Investmentbanken). Hm, ich weiß nicht. Immerhin besser als Variante 1.
Variante 3
– Ich stelle mir die Frage gar nicht, sondern benutze die Ratingagentur einfach als CMA, wenn etwas schiefgeht. Sollen sich doch die anderen über derartige philosophische Fragen Gedanken machen. Ich bin schließlich Fondsmanager und kein Professor. Schon klar, man wird ja auch nicht fürs Denken bezahlt, sondern für die Performance.
Variante 4
– Schlichte Gier, die blenden wir hier mal aus. Oder haben sie schon mal einen Asset Manager gesehen, der sich davon hat leiten lassen?
Hier können wir das Spannungsfeld beobachten, das von der Freiheit erzeugt wird: Freiheit braucht Aufklärung. Aufklärung als Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit (Kant) braucht die Bereitschaft, einfache Fragen nicht mit Floskeln zu beantworten, sondern mit dem Durchdringen der – ökonomischen – Realität. Das ist Freiheit in Verantwortung. Sonst fällt sie einem auf die Füße.
Wie der ehemalige Chief Risk Officer und Vorstand einer anderen Bank, diesmal aus dem privaten Sektor, es so treffend formulierte: »Wir haben uns um die Fichte führen lassen. Aber es gehören ja immer zwei dazu, wenn einer den anderen um die Fichte führt.«
Ja, dem kann man nur wenig hinzufügen.