»Der sicherste Weg, das kapitalistische System zu zerstören, ist es, seine Währung zu ruinieren.«
Wladimir Iljitsch Uljanov, genannt Lenin
Die kurzatmige und weitgehend prinzipienfreie Handhabung der Eurokrise durch die politischen Entscheidungsträger des Euroraums ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine böse Tat die nächste gebiert. Man kann die Geschichte dieser Krise von ihren Anfängen über die verborgene Entfaltung von Problemen bis zur explosionsartigen Entladung in einer Reihe von Staatsschuldenkrisen und »Rettungsaktionen« in einer durchgängigen Ursache-Wirkungs-Kette beschreiben. Dabei hat jede Abweichung von marktwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Prinzipien die nächste, stärkere Zuspitzung des Problems direkt verursacht.
Betrachtet man die Geschichte des Geldes im Nachkriegseuropa, kann man zwei unterschiedliche Traditionen identifizieren, die ich zunächst völlig wertfrei nebeneinanderstellen möchte. Beide Traditionen haben ihre Berechtigung und Verwurzelung in den jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Traditionen und Erfahrungen der Länder, in denen sie zur Anwendung gekommen sind.
Modell A kann man prototypisch in Italien vorfinden. Es zeichnet sich dadurch aus, dass eine lockere Geldpolitik über die mit ihr verbundene Inflation all die Friktionen ausgleicht, die von den politischen und ökonomischen Akteuren sonst nicht reibungsfrei bewältigt werden können, zum Beispiel in der Tarifpolitik. Wenn Gewerkschaften 10 Prozent Lohnsteigerung brauchen, um ihre Existenz zu rechtfertigen, und das Land sonst in einer Streikwelle untergeht, so ist das auch eine solche Friktion. Eine andere liegt in der Korruption. Eine Dritte in der Tatsache, dass Sonder- und Partikularinteressen an der Staatskasse hängen, wie junge Hunde an der Zitze ihrer Mutter. Aber damit sind die Südländer doch nicht alleine, oder?
Die Unfähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht, diese Interessen einer direkten Balance zuzuführen (oder die Korruption angemessen zu bekämpfen, weil man selbst bis zur Halskrause in ihr drinsteckt), sucht sich dann ein Ventil, das den Ausgleich mit der Realität auf andere Weise wiederherstellt, und das ist nun mal die Geldentwertung. Es ist beachtlich, dass ein Land wie Italien über viele Jahrzehnte in der Lage war, aus dieser Gemengelage, die man in Nordeuropa, insbesondere in Deutschland für doch hoch problematisch hält, ein erstaunliches Wirtschaftswachstum und eine innovative Industrie hervorzubringen. Trotz Inflation hat sich über den von der Kaufkraftparität angetriebenen Wechselkurs die Wettbewerbsfähigkeit immer wieder eingestellt.
Das zeigt uns, dass es mehr als ein Modell gibt, eine Volkswirtschaft zu entwickeln. Dass es mit dem gleich im nächsten Absatz beschriebenen Modell B nach meiner Überzeugung noch besser geht, ändert nichts daran, dass man darüber nachdenken kann, unter den sozioökonomischen Bedingungen, die man eben anderswo vorfindet, genau dieses Modell A zu wählen.
Modell B dürfen wir mit Fug und Recht als das »deutsche Modell« bezeichnen. Es wäre aber genau so angemessen, es als niederländisches Modell oder norwegisches oder österreichisches Modell zu bezeichnen. Den Deutschen ist es aber aufgrund historischer Erfahrung besonders lieb und teuer. Im wahrsten Sinne des Wortes: Es nährt sich aus dem Trauma zweier Hyperinflationen, die im 20. Jahrhundert zweimal zu einer Komplettenteignung der Sparer in Deutschland geführt haben. Einmal 1923, als in einer Spätfolge des 1. Weltkriegs und der Verträge von Versailles die monetäre Ordnung der jungen Weimarer Republik vollkommen zerrüttet wurde. Da es mangels Verfügbarkeit des Edelmetalls in der Reichsbank nicht möglich war, zu einem Goldstandard wie vor 1914 zurückzukehren, führte Deutschland damals die »Rentenmark« ein, deren Deckung im Grund und Boden des Landes bestand, um die Inflation zu beenden. Eine ziemlich clevere Innovation.
Ein zweites Mal passierte dies 1948, wieder als Folge eines Krieges, der die finanziellen Ressourcen des Landes völlig ausgezehrt hatte. In Verbund mit der galoppierenden Geldentwertung erlebten die Deutschen Lebensmittelmarken und einen furchtbaren Hungerwinter. So etwas prägt.
Es wird allenthalben behauptet, dass die deutsche Wiedervereinigung 1990 und die damit bei den europäischen Nachbarn verbundene Angst vor einem zu starken und mächtigen Land in ihrer Mitte zu der Forderung geführt habe, gewissermaßen als Gegenleistung für die Zustimmung zur Vereinigung, die D-Mark abzuschaffen und sie in einer europäischen Währung aufgehen zu lassen.
Das außenpolitische Konzept der Regierung Kohl war zudem immer davon geprägt, ein vereintes Deutschland als Teil eines vereinten Europas in Harmonie mit seinen Nachbarn anzustreben, was die Aufgeschlossenheit gegenüber einem so symbolischen Projekt wie dem Euro sicher förderte. Das war auch gut so.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass diese Sicht der Einbindung und Integration für Deutschland und seine Nachbarn mit Sicherheit die größten Wohlstandseffekte hatte, und bei aller denkbaren Kritik am Status quo der Währungspolitik sollte man nicht vergessen, welche enorme Dividende in Form von Frieden und Handel die europäische Einigung allen Beteiligten gebracht hat. Das gilt es zu verteidigen.
Wenn man es erfolgreich verteidigen will, dann ist es aber besser, man tut das ohne die ökonomischen Scheuklappen einer denkfeindlichen Political Correctness. Deshalb werde ich es in diesem Kapitel nicht bei Kritik belassen, sondern konkrete Vorschläge machen, welche Optionen sich im Rahmen des oben beschriebenen Spannungsfeldes unterschiedlicher, historisch bedingter, Stabilitätskulturen anbieten. Das Ergebnis könnte durchaus überraschen.
Es gab aus Sicht der Länder, die einer laxeren Stabilitätskultur folgten, noch einen sehr wesentlichen weiteren Grund, die Währungsunion anzustreben. Dieser liegt in dem Wechselkursmechanismus und den aus ihm resultierenden Terms of Trade begründet. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein auf Dauer angelegter Unterschied der Stabilitätskultur auch zu einem unterschiedlichen langfristigen Niveau der Inflationsrate führt. Die höhere Inflationsrate eines Landes führt dann über den Wechselkursmechanismus zu einem Abwertungstrend, der dem Prinzip der Kaufkraftparität folgt. Auf diese Weise folgt der Außenwert einer Währung ihrem Innenwert. Dieser Mechanismus ist per se noch kein Problem.
Nun ist es aber so, dass die Währungsmärkte eine Währung mit einer höheren Inflationsrate auch in ihrem Außenwert als mit höheren Risiken behaftet ansehen. Das ist empirisch beobachtbar und auch ökonomisch zwingend, da höhere Geldentwertung auch immer eine höhere Volatilität der Inflation selbst und daraus resultierend auch der nominalen Zinsen mit sich bringt.
Diese Faktoren führen auch zu einem erhöhten Risiko im Außenwert dieser Währung, die dann von den Märkten mit einem entsprechenden Risikoabschlag versehen wird. Die Währung ist daher meistens einige Prozent niedriger bewertet im Vergleich mit Hartwährungen, als dies bei einer strengen absoluten Kaufkraftparität der Fall wäre. Das verbilligt die Exporte (was vielleicht zum italienischen Wirtschaftswachstum beigetragen hat) und verteuert die Importe. Die Kaufkraft der eigenen Währung im Ausland ist aber geringer. Man spricht in diesem Zusammenhang von »schlechteren Terms of Trade«.
Diese schlechteren Terms of Trade sind gewissermaßen der Preis für das Versagen einer strukturellen Stabilitätspolitik, bei der alle Akteure einer Volkswirtschaft im Rahmen der wirtschaftlichen Realitäten agieren.
Daher war die Kaufkraft der D-Mark in Italien immer höher als in Deutschland, was es für Millionen von Urlaubern attraktiv gemacht hat, dort die Sommerferien zu verbringen. Es gehörte damals zum mehr oder minder offen ausgesprochenen Stolz der Nordeuropäer, dass ihr Geld »mehr wert« sei als das der Südländer. Dieser Effekt hat auch einen gewissen Wohlstandstransfer von Süd nach Nord bewirkt. Ihn in einer gemeinsamen Währung abzuschaffen war daher ein logisches Interesse der »Weichwährungskandidaten«.
Die grundlegenden Mechanismen der unterschiedlichen Stabilitätskulturen waren den Verhandlungspartnern bei der Gründung des Euro völlig klar. Sie wussten, dass sie sich entscheiden mussten zwischen Modell A und Modell B, weil es unmöglich ist, innerhalb eines Währungsraums zwei unterschiedliche Modelle zu fahren. Denn entweder akkommodiert die Geldpolitik die Unfähigkeit politischer und wirtschaftlicher Akteure, die partikularen Interessen unter Kontrolle zu halten und die Löhne an der Produktivitätssteigerung zu orientieren, oder sie tut es eben nicht. Der Wechselkurs jedenfalls fällt als ausgleichender Mechanismus aus, was ja auch gewollt war.
Was heißt das konkret?
Es bedeutet, dass die Währungsgemeinschaft entweder dazu führen muss, die nordeuropäische Stabilitätskultur in ganz Europa durchzusetzen, oder aber alternativ, dass sich alle an der lockereren südeuropäischen Variante orientieren.
Passiert weder das eine noch das andere, führt der Wegfall der Abwertung für die Südländer zu einer steten Verschlechterung ihrer Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Währungsraums. Die resultierenden Handelsbilanzdefizite untergraben das Wirtschaftswachstum und damit die Steuerkraft der Staaten und führen so zwingend zu steigenden Haushaltsdefiziten. Diese münden dann entweder in der Staatspleite oder in der Rettung durch die Überschüsse ansammelnden Volkswirtschaften des Nordens, also in Transferzahlungen von Nord nach Süd. An dieser Mechanik führt keine noch so gestriegelte politische Sprachregelung vorbei.
Die Eurokrise ist in ihrem Kern eine Entladung aufgestauter Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit und daraus resultierend in der Handelsbilanz. Derzeit ersetzen daher als Kredite getarnte Transferzahlungen die Ventilfunktion der Wechselkurse.
Die europäische Politik ist deshalb nunmehr zu der Überzeugung gekommen, dass man einen neuen Anlauf braucht, die Stabilitätskulturen aneinander anzugleichen. Und weil man sich darüber klar ist, dass die einen die anderen nicht auf Dauer mit ihren Ersparnissen subventionieren wollen, wird der erneute Versuch gestartet, dem Süden die eigene Stabilitätskultur aufzuzwingen, und zwar im Wege eines ungemein schmerzhaften Austeritätsprogramms. Wenn die unter den Folgen dieses Programms leidende Bevölkerung dann dort auf die Straße geht, so sind wir Zeugen des Kampfes um die Frage, welche Stabilitätskultur sich im Euro-Währungsraum auf Dauer durchsetzt.
Einer muss sich anpassen. Wer sich anpasst, darüber gibt es ein Tauziehen seit Beginn der Verhandlungen um die Ausgestaltung der Währungsunion. Und dieses Tauziehen hat nie aufgehört.
Die Kombattanten verfolgten dabei unterschiedliche Strategien, die ebenso in ihren eigenen Mentalitäten verwurzelt waren. Die Deutschen mit ihrem Glauben an geschriebene Regeln und Gesetze versuchten es mit dem Vertragstext. Sie erinnern sich bestimmt an die preußische Dienstvorschrift zur Haltung des Kehrbesens aus Kapitel 2.
Die Deutschen waren der Meinung, dass man das alles nur minutiös genug festlegen müsse, dann wisse auch der letzte Mittelmeer-Anrainer, in welchem Winkel er seinen Besen beim Reinemachen vor der fiskalischen Türe zu halten hat, um ein echter Preuße zu werden. Neuerdings soll es ja sogar Italiener geben, die sich in Frankfurt der Presse schon mal mit einer Pickelhaube gezeigt haben. Heraus kam der Stabilitätspakt, eine Wortschöpfung deutscher Gründlichkeit, die klingt wie Stahlpakt, aber in Wahrheit ebenso wie dieser unter die Kategorie »Schoten aus dem Leben von Hein Blöd« fällt. Über diese naive Vorstellung hat man in Rom, Paris und Athen zu Recht herzlich gelacht – und unterschrieben.
Die Länder des Mittelmeerraums, die schon aufgrund ihrer bis in die Antike zurückreichenden Geschichte mit sehr viel mehr Erfahrung bezüglich der Mindesthaltbarkeit von Verträgen gesegnet sind, wählten eine andere Strategie, nämlich die der Macht des Faktischen, die Klippe der Realität, an der schon so manche Titanic der Juristerei zerschellt ist. Und da kann man, egal ob Deutscher oder Lateineuropäer, wohl kaum widersprechen, wenn ich hier feststelle, dass diese Rechnung besser aufgegangen ist als das am legalistischen deutschen Konzept ausgerichtete Papier des Maastricht-Vertrages.
Und jetzt unternimmt Deutschland in seiner unwillkommenen Rolle als Einpeitscher den zweiten Versuch. Seine nördlichen Nachbarn schauen sich das hinter einem Elchgeweih hervorlugend an und hoffen, dass das gut geht. Und sie sind froh, dass sie klein sind und daher nicht die öffentlichen Prügel auf Basis von Vergleichen mit der jüngeren Vergangenheit beziehen, als man in Berlin schon mal den Zuchtmeister gemimt hat und der Meinung war, am »deutschen Wesen solle die Welt genesen«.
Während ich dies schreibe, kommt die Nachricht von Eurostat (der Statistikbehörde der Europäischen Kommission) herein, dass die Verschuldung im Euroraum 2012 wieder schneller gewachsen ist als geplant und dass Griechenland mit einem Defizit von 10 Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP) seine Zielmarke von 6,6 Prozent erneut deutlich gerissen hat. Das ist keine Überraschung, denn für ein Entkommen aus dem schwarzen Loch, das kreiert wird durch die Kombination von Schuldenfalle und fixem Wechselkurs, gibt es keinen mathematischen Lösungsraum. Machen Sie also bitte nicht den griechischen Finanzminister dafür verantwortlich, sondern schauen sie lieber nach Berlin oder Brüssel.
Abstrahiert man von all den makroökonomischen Theorien und Schubstangeneffekten, dann kann man dieses ganze Bemühen auf eine sehr einfache Aussage reduzieren. Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch eines gigantischen Social-Engineering-Projektes.
Wir versuchen, historisch gewachsene Einstellungen und Attitüden ganzer Völker zu verändern, und die Deutschen bilden sich auch noch ein, sie täten das aus einer Position der Stärke. Die Erfahrung zeigt, dass man das mit Reden und noch so viel Propaganda nicht schaffen kann, sondern dass sich diese Charaktereigenschaften der Völker eben aus den eigenen geschichtlichen Erfahrungen speisen, meistens solche mit traumatischem Charakter, wie Hyperinflation, Hunger, Massenarbeitslosigkeit oder Krieg. So wie die Sehnsucht der Chinesen nach Stabilität und Sicherheit aus den zahlreichen Traumata seit den Opiumkriegen resultiert, so ist die politische und ökonomische Geschichte Europas die Mutter dieser abweichenden Kulturen.
Um das zu ändern, bräuchte es wahrscheinlich ein neues Trauma. Für die Mehrheit der Bürger in einigen Ländern ist es das bereits.
Wollen wir das? Dürfen wir das? Und ist die Austeritätspolitik das einzige Mittel zur Erreichung eines solchen Ziels oder gibt es noch andere Optionen?
Der letzte große Versuch des Social Engineering war der Kommunismus in der Sowjetunion und den besetzten Ländern Osteuropas. Man wollte einen neuen Menschen formen. Man wollte seine Mentalität ändern. Das ist einigermaßen gründlich misslungen.
Ich bin kein Freund des Social Engineering, denn es ist ein zutiefst freiheitsfeindliches Konzept, das seine intellektuellen Wurzeln nicht im Rationalen, sondern im Ideologischen findet. Die Kernfrage ist deshalb: Können wir die Stabilitätskultur verbessern, indem wir den Menschen nicht weniger, sondern mehr Freiheit geben? Indem wir nicht ihre Wirtschaft durch eine Austeritätspolitik zerstören, die so, wie sie konstruiert ist, erfahrungsgemäß nur in einem System flexibler Wechselkurse überhaupt erfolgreich sein kann?
Ja, das ist möglich. Aber es wird nicht gehen, indem alle auf Kommando am Mittelmeerstrand Stechschritt üben und Sauerkrautpartys feiern. Es geht nur, wenn wir die unterschiedlichen historischen Erfahrungen endlich als gleichberechtigt akzeptieren und die entscheidende Frage stellen: Wie entfesseln wir die Kraft der Freiheit?
Aber der Reihe nach. Sehen wir uns zunächst an, wie sich die Dinge seit Einführung des Euro Schritt für Schritt entwickelt haben.
Eigentlich waren es zwei Sündenfälle. Aber sie gingen dank der beteiligten Akteure so eng Hand in Hand, dass man eigentlich von einem Vorgang sprechen kann. Gemeint sind die Verletzung des Maastricht-Vertrages durch Deutschland und der fast gleichzeitige Beitritt Griechenlands zum Euro-Währungsraum.
Deutschland hatte – 2001 zum ersten Mal – die Latte gerissen. Zwar tat es dies nur mit einem Defizit von 3,1 Prozent, also 0,1 Prozent über dem Limit, aber immerhin. Das steigerte man in den Folgejahren auf 3,8 Prozent, 4,2 Prozent und 3,8 Prozent, und erst 2006 wurden die Regeln erstmalig wieder eingehalten. Und wie das so ist, wenn der Musterschüler (den in der Klasse eh keiner so richtig leiden kann, weil er sich immer bei den Lehrern einschleimt) mal versagt, passierte zweierlei. Erstens Schadenfreude und zweitens Freibier, pardon, Freibrief für alle anderen.
Wie liebe ich doch diesen Satz: »Papa, in der Mathearbeit habe ich eine 4 minus, aber – ehrlich – alle anderen sind noch viel schlechter. Unser Mathelehrer ist ja soooo fies!« Der einzige Vorteil an dieser Situation ist, dass das Budget beim Frustkauf auf der Edelmeile dann wenigstens einmal halbwegs eingehalten wird.
Ja, und so war das auch mit Deutschland und seiner Rolle als Klassenbester. Griechenland stand vor der Tür und hatte den Beitritt beantragt. Die Zahlen waren sogar noch nach dem Friseurbesuch weit außerhalb der vertraglich fixierten Grenzen, aber das interessierte niemanden, denn Deutschland hatte sich als Torwächter gerade selbst disqualifiziert. Und wenn doch jemand darauf hinwies, wurde das mit dem geringen Anteil des BSP am europäischen Kuchen abgetan. 2 Prozent: Was bitte soll denn da schon schiefgehen? Das waren noch Zeiten. Heute wird eine Insel mit 0,2 Prozent Anteil an Europas Wirtschaftskraft schon als »systemisch« eingestuft.
In den sechs Jahren nach seinem Beitritt zur Währungsunion hat sich das griechische Defizit dann zwischen 4,5 und 7,5 Prozent des BSP eingependelt. Bei einer Inflationsrate von ca. 2 Prozent führt das quasi automatisch zu einem wachsenden Schuldenberg, der immer schwieriger zu bedienen ist. Der Rest ist Geschichte.
In den folgenden zwei Jahren schraubte sich das Land dann mit weiter wachsenden Schulden und ungebremsten Ausgaben immer tiefer in den Schuldensumpf. Es lohnt sich, an dieser Stelle ein klein wenig Ursachenforschung zu betreiben, warum die Staatsausgaben so hoch und die Steuereinnahmen so schwachbrüstig waren. Und da sehen wir, es gibt dafür historische Gründe. Sie liegen in der Diskrepanz dessen, was man vom Staat erwartet und welche Rolle man ihm zugleich zuzubilligen bereit ist. Was ist damit gemeint?
Die Erwartungen an den Staat und seine Heil bringenden Leistungen sind in Griechenland hoch. Es gibt eine allgemeine Attitüde, dass man gegen den Staat quasi einen Menschenrechtsanspruch auf Schutz vor allem Unbill des Lebens hat. Na ja, mit dieser Einstellung sind die Griechen wohl auch nicht alleine.
Der Staat ist allgegenwärtig, was sich schon darin ausdrückt, dass er über riesige Vermögenswerte in Form von Beteiligungen und vor allem Immobilien verfügt. Zwei Drittel der griechischen Staatsfläche sind im weitesten Sinne Staatseigentum.
Dumm nur, dass in der sich dann entfaltenden Krise all das mangels Käuferinteresse wenig bis gar nichts mehr wert war.
Gleichzeitig gibt es in Griechenland aber einen tiefen antistaatlichen Instinkt, der seine Wurzeln in einer mehrere Jahrhunderte währenden Okkupation durch das osmanische Reich hat. Von diesem Staat durften die christlichen Griechen wenig bis gar nichts erwarten, die Steuern, die er eintrieb, dienten dem Erhalt seiner auf imperiale Eroberung ausgerichteten Infrastruktur. Und so ist es kaum verwunderlich, dass die Vermeidung von Steuern als patriotische Pflicht angesehen wurde. Dieses Training dauerte rund 500 Jahre, und jetzt kommt der deutsche Finanzminister, dem die Unterdrückungsinstrumente mittelalterlicher Machtentfaltung nicht zu Gebote stehen, und glaubt, er könne das ändern. Selten so gelacht.
Als Griechenland im 19. Jahrhundert – vor allem auch dank der Unterstützung der deutschen »Philhellenen« – endlich seine staatliche Unabhängigkeit wieder erlangte, begann deshalb eine lange Kette von fiskalischen Katastrophen und Staatspleiten. Eine kleine Anekdote am Rande ist übrigens, dass es ein Bund griechischer Stadtstaaten war, der im 5. Jahrhundert v. Chr. die erste geschichtlich dokumentierte Staatspleite hinlegte. Man hatte einen Tempel auf Pump finanziert und dann nicht zurückgezahlt. Tradition verpflichtet, würde man in Adelskreisen sagen.
Es ist leider müßig, darüber zu spekulieren, ob man diesen Anti-Steuerinstinkt der Griechen nicht als Stärke nutzen könnte, wenn man im Gegenzug einen schlanken Staat mit Fokus auf seine echten Kernaufgaben etabliert und im Übrigen einen maximalen Anteil des Wirtschaftens den Bürgern überlässt. Das hätte dann wohl ein Wirtschaftswunder zur Folge.
Im Grunde zerreißt es Griechenland durch die gleiche Art von Spannungsfeld, das auch verhindert, dass unterschiedliche Stabilitätskulturen zeitgleich in einem Währungsraum koexistieren können. Hier sind es zwei unterschiedliche Mentalitäten bezüglich der Rolle und Größe des Staates, und zwar im gleichen Land bzw. unter der identischen Steuerhoheit.
2009, 2010 und 2011 fing dann die europäische Politik damit an, Griechenland zu retten. Die Herangehensweise demonstrierte leider, dass man nicht nur seinen Hayek nicht gelesen hatte (an dessen Ideen glaubte die Mehrheit der Teilnehmer in der Finanzministerkonferenz der Eurozone ohnehin nicht), sondern auch die makroökonomischen Lehrbücher zu Hause gelassen hatte. Im Duett mit der Europäischen Zentralbank, die zunächst Anleihen des damals schon überschuldeten Landes zur »Kurspflege« en gros aufgekauft hatte, verschrieben die Freunde des Landes ihrem Sorgenkind eine Kombination aus Übernahme eines Teils der Schulden durch die Euroländer (zur Vermeidung einer explodierenden Zinslast) einerseits und einen rigorosen Sparkurs des Staates andererseits.
Die Tatsache, dass Griechenland für diese Schulden bei seinen europäischen Partnern Zinsen zahlte, veranlasste den deutschen Fiskaldompteur zu der Bemerkung, dass der deutsche Steuerzahler an der Rettung des Landes sogar noch verdiene.
Das kann nur jemand in die Welt setzen, der von Risikokosten überhaupt keine Ahnung hat. (Dieser Spruch wurde ja auch nicht wiederholt, nachdem der Umstand, dass es vor allem verstaatlichte Banken waren, die beim griechischen Schuldenschnitt Milliardenverluste erlitten, den deutschen Steuerzahler auch etliche Milliarden gekostet hat.)
Dieser Optimismus wurde dadurch unterstrichen, dass die Gruppe der Euroländer noch Anfang 2010 eine Garantie gab, dass Griechenland auf jeden Fall bis 2013 gesichert sei und ein Schuldenschnitt unter keinen Umständen infrage komme oder zu befürchten sei. Mit dieser Botschaft wandte sich die Politik seinerzeit an die Banken und bat sie, keine Griechenlandanleihen zu verkaufen, um den »Markt nicht weiter zu destabilisieren«.
Daran sollte man sich erinnern, wenn man drei Jahre später den zypriotischen Banken vorwirft, sie hätten wissen müssen, dass sie an griechischen Anleihen Geld verlieren werden. Freiwillig auch noch, wie wir ja wissen.
Allein von 2009 auf 2010 musste das Land sein Defizit von 15,6 Prozent auf 10,3 Prozent des BSP senken. Dieser negative Nachfrageeffekt von über 5 Prozent des BSP führte zu einer nie da gewesenen Schrumpfung der griechischen Wirtschaft in Friedenszeiten. Bedingt war dies durch eine klassische Nachfrage- und Liquiditätsfalle Keynesianischen Zuschnitts. Ja: die Annahmen seines Modells waren hier ausnahmsweise zutreffend! Das BSP kollabierte regelrecht, die Arbeitslosigkeit eilt seither von Rekord zu Rekord. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei über 60 Prozent. Eine verlorene Generation.
Das Sanierungsmodell wurde gerechtfertigt mit den positiven Erfahrungen von Austeritätsprogrammen des IWF. Zu dumm nur, dass der IWF kein einziges erfolgreiches Sanierungsprogramm für ein Land vorzuweisen hat, bei dem nicht auch der Wechselkurs deutlich nach unten angepasst wurde, um seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Das geht ja bei Griechenland nicht. Es ist sogar angeblich der Sinn der ganzen Rettungsmission, genau das zu vermeiden, weil man das Land ja im Euro halten will, was automatisch einen festen Wechselkurs bedeutet und keinen flexiblen.
Gleichzeitig verschrieb man dem Land unter der Flagge marktwirtschaftlicher Reformen ein Privatisierungsprogramm, dessen Design, Zeitplan und Strategie man sich eigentlich in dieser Form nur einfallen lassen kann, wenn man die Themen Marktwirtschaft und Privatisierung bei der Bevölkerung desavouieren will. In den Fluren der Athener Ministerien und auch in der Presse des Landes sprach man von »ukrainischer Privatisierung«. Der angestrebte Verkauf der Vermögenswerte des Landes mitten in einer epochalen Wirtschafts- und Finanzkrise – und das so schnell wie möglich – konnte nur auf eine Verramschung des staatlichen Vermögens hinauslaufen.
Und so schraubte sich die griechische Wirtschaft ungespitzt in den Boden, während reiche Oligarchen aus dem In- und Ausland versuchten, die Privatisierung als Schnäppchenjagd zu nutzen. Nur notorische Optimisten können glauben, dass es dem Ideal der europäischen Idee in dem Land etwas genutzt habe, dass man solche Maßnahmen rechtfertigte mit ständigen Hinweisen auf die Forderungen der Troika, dieser Dreifaltigkeit aus EU-Finanzministern, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds.
In dieser Situation kam es Mitte 2011 zum »Eureka«-Vorschlag durch ein namhaftes europäisches Beratungsunternehmen. Sein Grundgedanke beruhte auf der mittlerweile allgemein akzeptierten Einsicht, dass die Kombination von Sparen und Privatisierung mitten in der tiefsten Krise keinen Lösungsraum für Griechenland bot. Die Privatisierung war wegen der oben beschriebenen Mechanismen der Verramschung zum Misserfolg verdammt. Das Sparprogramm ließ die griechische Volkswirtschaft schneller schrumpfen und entzog ihr damit die für einen ausgeglichenen Haushalt notwendigen Steuereinnahmen. An eine Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft war auf diese Weise und vor dem Hintergrund des Wechselkursregimes überhaupt nicht zu denken.
Dabei schrumpfte der private Sektor noch schneller als der öffentliche, mit der Folge, dass das eigentlich nicht wünschenswerte Übergewicht des Staates mit einem noch höheren Anteil am BSP noch verstärkt wurde.
Die Diskussion um einen Schuldenschnitt zulasten der Gläubiger war bereits im Gange, aber es war klar, dass ein solcher zu erheblichen Nebenwirkungen für die europäische Konjunktur führen würde. Die Kosten dieses Schrittes waren ja dann auch dramatisch höher, als dies der Öffentlichkeit bewusst ist, wie wir gleich noch sehen werden.
Eureka hatte dagegen zum Ziel, einerseits die Schulden des Landes ohne einen Schuldenschnitt in einem Schritt drastisch zu reduzieren, um ein gesundes Verhältnis von Gesamtverschuldung zu Wirtschaftskraft zu erreichen, und andererseits einen Wachstumsimpuls zu geben, der das Land aus seiner konjunkturellen Abwärtsspirale befreien sollte.
Ausgangspunkt war das Vorhandensein eines sehr großen Bestands an Vermögen im Staatseigentum in Form von Beteiligungen, Infrastruktur und Immobilien. Dabei konnte niemand genau sagen, was eigentlich genau alles zum Vermögen des griechischen Staates gehörte. Ein Hindernis war das Fehlen eines Landkatasters, und dies, obwohl bereits in den Jahren 2000 bis 2003 ein solches Kataster mit umfassender finanzieller Unterstützung der EU zwar konzeptuell entwickelt, dann aber nicht »freigeschaltet« worden war.
Der Grund hierfür war offensichtlich: So ein Kataster schafft Transparenz, und davon wollen vor allem diejenigen nichts wissen, die mit Vorliebe in trüben Gewässern fischen. Denn das Verschieben und Verkaufen von Immobilien unter Wert zugunsten von Freunden, Parteifreunden und Günstlingen würde sehr viel schwieriger werden. Das staatliche Vermögen bildet so einen der großen Nährböden für die Korruption im Land.
Trotzdem konnten grobe Schätzungen des Vermögenswertes durchgeführt werden, die trotz des Unsicherheitsfaktors ausreichten, um das Eureka-Projekt sinnvoll kalkulieren zu können. Die Wertansätze reichten damals von 50 Milliarden bis 300 Milliarden Euro.
Eureka beinhaltete folgendes Vorgehen:
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Einsammeln des gesamten griechischen Staatsvermögens und Bündelung in einer Art Treuhandgesellschaft.
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Verkauf der gesamten Treuhandgesellschaft für einen Preis von 125 Milliarden Euro an die Europäische Union bzw. eine ihrer Institutionen.
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Verwendung der gesamten zufließenden Mittel zur Tilgung der Schulden Griechenlands bei den Euroländern und bei der Europäischen Zentralbank.
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Dies hätte den Stand der Gesamtverschuldung Griechenlands von damals 145 Prozent auf 88 Prozent des BSP gesenkt. (Zum Vergleich: Deutschland hat heute 82 Prozent)
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Das Kreditrisiko der Europäer wäre ersetzt worden durch ein Vermögenswertrisiko, welches trotz der Ungewissheiten über die genaue Zusammensetzung und den Wert des Vermögens kleiner gewesen wäre als das Kreditausfallrisiko.
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In einem zweiten Schritt sollten die EU-Länder einen Betrag von 20 Milliarden Euro aufwenden, um diese Mittel in die Restrukturierung der erworbenen Vermögenswerte zu investieren. Die Idee dahinter war ganz einfach: »Kaufe Wohnung, renoviere Wohnung, verkaufe Wohnung mit Gewinn.« Das funktioniert auch bei Produktiv- und Infrastrukturvermögen.
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Diese 20 Milliarden Euro entsprachen 8 Prozent des griechischen BSP und hätten die Nachfrage entsprechend gestärkt, und zwar ohne eine Erhöhung der Staatsausgaben. Die Mittel wären ausdrücklich nicht durch die griechische Staatskasse geflossen.
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Mit diesem Wachstumsimpuls hätte man die Abwärtsspirale der griechischen Wirtschaft durchbrechen und sie so auf Wachstumskurs setzen können, was wiederum die Steuereinnahmen erhöht und damit die Zins- und Schuldentilgung für die verbleibenden Verbindlichkeiten sichergestellt hätte.
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Parallel zum Investitionsprogramm sollte die Treuhand das gesamte Vermögen über einen Zeitraum von drei bis zehn Jahren privatisieren. Dies sollte ohne Zeitdruck geschehen, dafür unter den Bedingungen einer dann wieder deutlich wachsenden Wirtschaft und damit steigender Nachfrage und steigenden Preisen für die angebotenen Objekte.
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Diese Privatisierung hätte den staatlichen Sektor in Griechenland deutlich geschrumpft und die Produktivität erheblich gesteigert, was dem Land nach dem nachfrageinduzierten Wachstumsimpuls noch einen angebotsinduzierten Impuls gegeben und das Wachstum weiter beschleunigt hätte.
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Ab dem zweiten Jahr des Programms sollte das Land 1 Prozent seines BSP pro Jahr in die Schuldentilgung investieren. Das wäre vor dem Hintergrund der drastisch geschrumpften Schulden durch den Verkauf der Treuhand und das neue Wachstum der Wirtschaft leicht zu erreichen gewesen, ohne dass man die Ökonomie hätte totsparen müssen.
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Im Jahr 2025 sollte das Programm auslaufen, Überschüsse nach Rückzahlung des Kaufpreises und der Zinsen auf den Kaufpreis an Griechenland ausgezahlt werden. Ein eventuelles Defizit hätte Griechenland zu tragen gehabt, sodass die Anreize für das Land gegeben wären, optimale Bedingungen für eine erfolgreiche Privatisierung durch Strukturreformen zu schaffen.
Eine realistische Simulation des Verlaufes von Wirtschaftskraft, Verschuldung und Tilgung unter konservativen Annahmen zeigte, dass das Land bereits im Jahr 2018 nicht nur seine Schuldentragfähigkeit wiederhergestellt, sondern alle Vorgaben des Maastricht-Vertrages erfüllt hätte.
Wie viel Social Engineering war in Eureka enthalten? Mit Sicherheit deutlich weniger als in dem »Rettungs«-Programm, das Griechenland unter Missachtung jeder makroökonomischen Theorie und Erfahrung in das »schwarze Loch« einer kollabierenden Wirtschaft gestoßen hat. Der Teil der sozioökonomischen Kultur, der am meisten Änderung erfahren hätte, wäre die Korruption gewesen, weil sie sich in erster Linie von den staatlichen Immobilien und Beteiligungen ernährt. Die Überführung dieses Vermögens an eine transparente und der Öffentlichkeit voll und umfassend rechenschaftspflichtige Institution hätte einen großen Teil dieses Sumpfes ausgetrocknet, und zwar unter dem Beifall der griechischen Bevölkerung, bei der dieser Vorschlag ausgesprochen populär war.
Wie die Zeitung Kathimerini
damals berichtete, führte allein das Gerücht, das Eureka umgesetzt werden sollte, zu einem Kursfeuerwerk an der Athener Börse.
Woran ist Eureka gescheitert?
Nicht an Griechenland und nicht an der Wahrnehmung des Vorschlages bei der breiten Öffentlichkeit dort. Er ist gescheitert an einer Koalition der Kräfte in Griechenland, denen diese Austrocknung des Verschiebebahnhofes für »herrenloses Staatsvermögen« ein Dorn im korrupten Auge war. Und er ist gescheitert an einer EU- und Ministerialbürokratie bei den europäischen Partnern Griechenlands, die die makroökonomischen Mechanismen entweder nicht verstanden haben oder sich aus populistischen Gründen lieber auf einen Schuldenschnitt zulasten der Banken kaprizierten.
Die Devise des Finanzministers eines großen EU-Landes dazu war ganz klar: »Ich will jetzt die Banken bluten sehen.« Eureka hätte diesen Schuldenschnitt zulasten der Banken überflüssig gemacht und war insofern dort nicht wohlgelitten.
Dazu kam die Attitüde von Ministerialbeamten, die sich nach drei Jahren ihrer Rolle als Retter der Welt einem »Not invented here«-Syndrom hingaben: Wenn etwas nicht aus den Ministerien kam, konnte es nicht gut sein.
Hier einige Zitate zur Auswahl, die das Niveau der Rettungsdiskussion anschaulich illustrieren:
»Ich habe das Eureka-Thema jetzt verstanden und wahrscheinlich wird es funktionieren, aber wir werden es nicht machen (…), weil ich denke, dann müssten die Griechen arbeiten, aber das werden sie nie tun.« (Ein hoher Beamter aus dem Finanzministerium eines EU Landes)
»Das könnte funktionieren, aber wir machen das nicht (…), denn das Schiff läuft schon in eine andere Richtung.« (Ein Mitglied der Europäischen Kommission)
Dieser Satz veranlasste einen griechischen Politiker zu der Frage, ob dieser EU-Kommissar seine Tochter von der Titanic holen würde, wenn er wüsste, dass sie dort ist.
»Das ist politisch nicht durchsetzbar.«
Ja, das stimmte immerhin, auch wenn dieser Satz meistens eigentlich bedeutet: »Ich habe nicht die Cojones in der Hose, mich dafür politisch stark zu machen.«
Stattdessen wurde ein Schuldenschnitt zulasten der Banken und privaten Investoren durchgezogen. Dessen Nebenwirkungen waren offenbar politisch durchsetzbar. Es lohnt sich angesichts der Folgen, die heute kleingeredet werden, auch hier, genauer hinzusehen.
Die undurchschaubare Dynamik der CDS-Märkte, also der Credit Default Swaps, machte den beteiligten Politikern von Anfang an Angst vor den schwer kalkulierbaren Folgen eines Schuldenschnitts, der technisch gleichbedeutend war mit der Pleite Griechenlands. Deshalb entschied man sich dafür, einen »freiwilligen« Schuldenschnitt zu fordern und legte den Banken wie bei einer »hochnotpeinlichen Befragung« (vulgo: Folter) der Heiligen Inquisition des späten Mittelalters die Instrumente vor, die diesem freiwilligen Verzicht Nachdruck verleihen sollten. Don Corleone hätte gesagt: »Ich habe ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte.«
Dabei ging man in zwei Schritten vor: Erst ein kleiner Verzicht durch die Banken von ca. 20 Prozent. Dann ein großer, als das nicht reichte. Dass man nach dem kleinen Schnitt den Banken garantiert hatte, dass es das jetzt war, hatte man beim großen Schnitt wenige Monate später schon wieder erfolgreich verdrängt. Es wurde argumentiert, die Banken hätten die Politik »über den Tisch gezogen«. Was für ein Unsinn.
Nun ja, beim zweiten großen Schnitt war klar, dass die Erfüllung des Begehrens der Politiker eine Reihe von Banken die Existenz kosten würde. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Man verlangte vom Vorstand einer Bank, auf Geld zu verzichten, das ihm nicht gehörte, wissend, dass dies seine Bank in die Pleite treiben würde. Und als der Vorstand sich weigerte, legte man auch noch Daumenschrauben an. Das tat man in dem vollen Wissen, dass der dadurch verschuldete Kollaps einiger Banken ein weiteres Land der Eurozone, nämlich Zypern, in die sichere Staatspleite treiben und zum nächsten »Rettungskandidaten« machen würde.
Wie sahen diese Daumenschrauben aus?
Da kam eine neue Bilanzierungsregel zupass, die man sich bei der europäischen Bankenaufsicht EBA in London ausgedacht hatte. Diese sah vor, dass künftig Staatsanleihen, auch solche von Euroländern, nicht mehr zum Nominalwert in der Bankbilanz verbucht werden dürfen, sondern nur noch zum Marktwert. Der Marktwert für griechische Anleihen war natürlich dank der Aktionen der Politik, insbesondere das Einkassieren jeglicher Zusagen und dem Bruch aller gegebenen Versprechungen (nicht nur durch die griechische Regierung, sondern in gleichem Umfang durch ihre europäischen Partner) deutlich gefallen.
Extrem verstärkt wurde dies natürlich dadurch, dass die Marktteilnehmer die Fehlkonstruktion einer auf Austerität in Verbindung mit einem starren Wechselkurs angelegten »Rettungspaket« erkannten und den Bluff dann auch Bluff nannten.
Man hat den Wertverlust der Papiere und den Kollaps des Vertrauens der Märkte durch die Politik des Wortbruchs und der Verneinung offensichtlicher ökonomischer Realitäten erst herbeigeführt und dann dafür gesorgt, dass die Banken diesen Wertverlust abschreiben mussten.
Damit war die Mehrzahl der griechischen und zypriotischen Banken formal pleite. Anschließend erklärte man ihnen, dass sie zwar nun pleite seien, dafür aber ein staatliches Rettungsprogramm aufgelegt werde, um sie zu »retten«. Wohlgemerkt, danach sind die Banken in Staatsbesitz und die Aktionäre sind praktisch zu 100 Prozent enteignet.
Diese »Rettung« würde aber natürlich nur kommen, wenn vorher »freiwillig« auf die Rückzahlung der griechischen Anleihen verzichtet wird, womit sich der Kreis schließt und die so von der Politik heruntergewirtschafteten Anleihewerte sich im Nachhinein als »gerechtfertigt« erwiesen. So eine Aktion kannte man bis dahin nur aus Nordkorea und anderen stalinistischen Regimen, wenn es dort gegen den »kapitalistischen Klassenfeind« ging. Würde man das im zivilen Rechtsverkehr zwischen Kaufleuten machen, würde man es wahrscheinlich in so manchem Land mit dem Staatsanwalt zu tun bekommen.
Nach vollbrachter Tat stellten oder setzten sich dann die Finanzminister vor die Presse und verkündeten, dass sie es geschafft hätten, die Banken endlich zu einem »fairen Beitrag« zur Griechenlandrettung zu veranlassen. Von fairem Interessenausgleich wurde da gesprochen, verbrämt mit schwülstigem Gerede. Die Wahrheit war profan. Sie war schlicht eine Enteignung von Aktionärsvermögen von Banken, die nicht einmal schlecht gewirtschaftet hatten, mit Ausnahme ihres ungerechtfertigten Vertrauens in die Zusagen der europäischen Finanzminister.
Um das Maß vollzumachen, möchte ich daran erinnern, warum man im Jahr 2009 überhaupt mit der Rettungsaktion in Athen angefangen hat: Man stand vor der Wahl, eine von zwei Säulen des Vertrauens in die europäische Finanzordnung aufgeben zu müssen: Entweder das Bailout-Verbot des Maastricht-Vertrages oder die absolute Werthaltigkeit von Staatsanleihen des Euroraums. In dieser Abwägung entschied man sich dafür, beide Säulen einzureißen, erst das Bailout-Verbot und dann das Vertrauen in die Staatsanleihen. Die europäischen Finanzminister haben damit eine Premiere geliefert: Bei der Wahl zwischen zwei Übeln haben sie beide genommen, jeweils mit der Behauptung, das eine tun zu müssen, damit sie das andere Übel vermeiden könnten.
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
Wie im ersten Kapitel bereits kurz dargelegt, hatte diese kleine Änderung der Bilanzierungsregeln für Banken noch ein paar Nebenwirkungen, nämlich die Abschreibung von Anleihen aus Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Irland und Belgien auf Marktpreisniveau. Angesichts der messbaren Folgen für die Kreditversorgung der Wirtschaft braucht sich niemand über die einbrechende Konjunktur in Europa zu wundern.
Wie bereits erwähnt, war die »freiwillige« Beteiligung am Schuldenschnitt auch das Todesurteil für die Banken des kleinen Zyperns. Nicht zu Unrecht kennen die meisten Europäer dieses schöne Land zwischen den Küsten der Türkei, der Levante und Ägyptens in erster Linie als Urlaubsziel. Viele Russen kennen es allerdings als Insel der Zivilisation, wo man sich und seine Spargroschen vor der Willkür eines nur in Maßen der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Regierungssystems in Sicherheit bringt. So ähnlich wie es viele Deutsche nach Mallorca oder an die Côte d’Azur zieht, nur dass der Deutsche zwar auch mal gerne vor enteignungsähnlicher Besteuerung flüchtet, aber in der Regel nicht vor sonstiger Behördenwillkür auf der Hut zu sein braucht – jedenfalls noch nicht.
Da enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Denn Zypern hat leider nur genau drei Wirtschaftszweige, von denen seine – übrigens hervorragend ausgebildete – Bevölkerung lebt: Das sind Landwirtschaft, Tourismus und Finanzdienstleistungen.
Seit dem griechischen Schuldenschnitt waren die zypriotischen Banken Zombies, lebende Tote, die zwar noch herumliefen, aber die eigentlich nach allen Regeln der Bilanzierung nur noch durch die Mund-zu-Mund-Beatmung seitens der zypriotischen Nationalbank, der lokalen Filiale der EZB, am Leben erhalten wurden. Für diese Institute war der freiwillige Schuldenschnitt buchstäblich freiwilliger Selbstmord.
Jeder, der das wissen wollte, wusste es auch.
Nun hätte man die zypriotischen Banken natürlich, ebenso wie die griechischen, zeitnah nach dem Schuldenschnitt mit neuem Eigenkapital versorgen können. Aber erstens wäre dann der unmittelbare Zusammenhang dieser Notwendigkeit mit dem selbst verursachten Problem einer breiteren Öffentlichkeit aufgefallen, und zweitens wäre dann die Aktion »wir machen jetzt das Bankensystem dieses windigen Steuerschlupfloches öffentlichkeitswirksam platt« nicht so passend mit dem Wahlkampf in Deutschland zusammengefallen.
So kam es, dass die »Rettung« des kleinen Inselstaates erst im Frühjahr 2013 anstand. Die EZB hatte in der Zwischenzeit ca. 10 Milliarden Euro Forderungen an die zypriotischen Banken aufgestaut, die aus dem langsamen, aber stetigen Abzug von Einlagen als Ersatzfinanzierung notwendig geworden waren. Genau betrachtet war natürlich auch das schon eine verbotene Finanzierung durch die Notenbank, da diesen Krediten keine werthaltigen Sicherheiten gegenüberstanden.
Nach drei Jahren Rettungspolitik bemühte man sich nicht mal mehr um den Anschein, als hielte man sich noch an die eigenen Regeln.
Das ist aber nicht das Bemerkenswerteste an der zypriotischen Episode.
Im März 2013 kamen die Finanzminister der Euroländer zusammen, um das Rettungspaket zu schnüren, und heraus kam die Zerstörung des wohl wichtigsten Sektors der Wirtschaft dieses Landes. Bereits im Vorfeld wurde eine Diskussion um die Frage losgetreten, ob es Aufgabe des europäischen Steuerzahlers sei, die Inhaber angeblicher russischer Schwarzgeldkonten vor Verlusten zu bewahren. Ein angeblich vorhandenes Dossier des deutschen Geheimdienstes BND wurde zitiert, dass der Bankensektor Zyperns eine Steueroase und Schwarzgeldwaschmaschine sei. Fehlte eigentlich nur noch ein blutrünstiger Diktator, dann hätte man wahrscheinlich auf der Suche nach Beweisen für diese kriminellen Machenschaften da einmarschieren können. Ach so, das machen wir heutzutage nicht mehr! Puh, Glück gehabt.
Man fragt sich, was der BND auf Zypern zu suchen hatte, falls er überhaupt dort war. Hat man dort geheime Papiere entwendet oder Steuer-CDs gekauft, von denen die Medien nichts mitbekommen haben? Oder hat einfach ein fleißiger Analyst in Pullach die internationale Presse ausgewertet und dort niedergeschriebene Verdächtigungen als Fakten abgeschrieben? Oder hat man sich in die Computer oder das Telefonnetz der Banken dort gehackt? Kann man sich schwer vorstellen, dass die deutschen Schlapphüte das bei einem EU-Partnerland und Verbündeten tun würden, die sind ja schließlich nicht bei der NSA.
Kurz und knapp: Beweise für diese Behauptungen blieb man der Öffentlichkeit schuldig. Dass viel Geld russischer Anleger dorthin fließt, kann ja auch nicht überraschen und ist auch nicht kritikwürdig. Warum nicht? Weil es nicht Aufgabe der EU ist, den russischen Behörden (denen das alles interessanterweise völlig gleichgültig war) vorzuschreiben, wo und wie sie ihre Bürger zur Steuerehrlichkeit anhalten. Zumal überhaupt nicht klar war, ob und wie viel von dem dort angelegten Geld unversteuert oder gar unehrlich erworben war.
Russische Bürger haben, bedingt durch den leider immer noch großen Mangel an Rechtssicherheit in ihrem Land, ein durchaus nachvollziehbares Bedürfnis, einen substanziellen Teil ihres Vermögens vor willkürlichem Zugriff in Sicherheit zu bringen. Es ist auch logisch, dass sie das gerne in einem Land tun, das von der Geschichte und Kultur her mit ihrem eigenen verbunden ist. In Zypern ist die orthodoxe Kirche und die daraus abgeleitete Kultur ein solches Band zu Russland. Griechenland schied ja aus naheliegenden Gründen aus.
Aber das ist egal, denn es ging um etwas anderes: um moralische Empörung.
Aber warum ist diese Empörung im Moment so wichtig?
Weil es in Deutschland, Frankreich und einigen anderen Ländern ein Wettrennen der Politik in Sachen Empörung über alles gibt, was irgendwie mit Steuerflucht zu tun hat oder haben könnte. Die einen Schicken die Kavallerie nach Zürich, da müssen die anderen nachlegen. Symptomatisch für diese Haltung ist der Umgang mit gestohlenen Daten von Schweizer Banken. Noch vor wenigen Jahren wäre es jedem klar gewesen, dass das eigentlich Hehlerei ist, heute fällt die Güterabwägung der Berufsempörten anders aus. Man sollte dabei nicht vergessen, dass solche Art Wertewandel die Rechtsordnung beschädigen kann. Natürlich hat der Rechtsstaat die Pflicht, Kriminalität zu bekämpfen, wozu auch Steuerhinterziehung gehört. Der Rechtsstaat bedeutet aber »Herrschaft des Rechts«, nicht Herrschaft des Staats und ihm heiligt nicht der Zweck die Mittel. Gerade dadurch unterscheidet er sich vom Unrechtsstaat. Oder wie Benedikt XVI es in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag so schön zitierte: Nimm vom Staat das Recht weg, was bleibt dann übrig als eine große Räuberbande?
Das kann Folgen haben, auch für die Freiheit vor Willkür. Wenn man sich anschaut, was für ein Schauspiel um die Selbstanzeige eines doch recht wohlhabenden Fußballmanagers in der deutschen Politik aufgeführt wird, dankt man dem lieben Gott, dass die Väter unseres Grundgesetzes den kleinen Satz da reingeschrieben haben: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.« Vom »Hosianna« zum »Kreuziget ihn« dauert es halt manchmal nur eine Woche, wenn die Meute Beute wittert.
Also, was kam heraus bei dem Rettungspaket? Ein Kredit für Zypern von zehn Milliarden Euro als Beitrag für die Bankenrettung, wohlgemerkt verzinst und rückzahlbar und so bemessen, dass man glaubte, die Schuldentragfähigkeit nicht überfordert zu haben. Da ist es fast schon tröstlich zu wissen, dass die Herren der Troika bei der Kalkulation der Schuldentragfähigkeit ihrer Schäflein eine Erfolgsbilanz aufzuweisen haben wie der Hunnenkönig Attila als sanftmütiger Säulenheiliger. Mittlerweile gibt der IWF ja sogar unter dem Protestgeheul aus Brüssel zu, dass man bei den wirtschaftlichen Folgen der eigenen Medizin drastisch danebengelegen hat.
Und darüber hinaus gab es einen Zugriff auf die Sparkonten bei den zypriotischen Banken in Form einer einmaligen Abgabe. Vergessen die Schwüre, dass Spareinlagen in der Eurozone sicher sind.
Anschließend gab es zwei kommunikative Trauerspiele: Das eine waren die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen der zypriotischen Regierung und den europäischen »Partnern«, wer von beiden diese glorreiche Idee denn gehabt hätte, und das andere waren Interviews der Finanzminister in Endlosschleife, dass es sich bei diesem Fischzug gar nicht um Verluste auf Spareinlagen handelte, sondern um eine Steuer, und das sei etwas ganz anderes. Erinnern Sie sich daran, wenn das nächste Mal ein Finanzminister sagt, Ihre Spareinlagen seien sicher. Tja, ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert.
Das Parlament in Nikosia hatte immerhin zunächst den Mut des Verzweifelten aufgebracht, diesen Vorschlag einstimmig zurückzuweisen, was eine Mahn- und Drohorgie nach sich zog wie bei einem Gorilla-Silberrücken bei der Revierverteidigung. Die EZB drohte dem Land unter Fristsetzung, es von der Finanzierung abzuschneiden. Wie praktisch, dass diese Finanzierung eigentlich ohnehin nicht legal war, da kann man sie jederzeit einstellen und hat ein Druckmittel.
Außerdem war mit dem Tag der Verkündung dieses unausgegorenen und noch nicht rechtskräftigen Plans klar, dass jeder, der bei Verstand und in der Lage ist, das Haus zu verlassen, sofort sein Geld von den Banken abheben würde. Um dem vorzubeugen, schnitt man das Land geschlagene zwei Wochen vom internen wie auch vom internationalen Zahlungsverkehr komplett ab. Alle Ersparnisse, Konten und sonstigen Anlagen bei den Banken waren damit in der Geiselhaft der Troika.
Überweisungen zwischen Unternehmen mussten zur Einzelgenehmigung bei der Zentralbank vorgelegt werden und wurden nur freigegeben, wenn ohne die Transaktion das Unternehmen hätte Konkurs anmelden müssen. Sie können sich vorstellen, was für eine Art bürokratischer Gnadenerweis das war und welche Kopfstände die Unternehmen aufführen mussten, um an das Geld zu kommen, das von Rechts wegen ihnen gehörte.
Der deutsche Finanzminister gab in dieser Lage den Satz zum Besten: »Ich lasse mich von Zypern nicht erpressen.« Das spricht für sich selbst. Auf jeden Fall sagt diese Verdrehung der Realität mehr über die politische Kultur und über das Selbstverständnis des Zitierten aus als über Zypern.
Nach wenigen Tagen war der politische Widerstand der kleinen Inselrepublik dann schließlich gebrochen. Man stimmte einem modifizierten Plan zu, der zwar die Spareinlagen unter 100 000 Euro schonte, dafür aber die ausländischen Anleger bei den beiden größten Banken des Landes umso stärker zur Kasse bat.
Triumphierend wurde daraufhin in der Normannenstraße in Berlin verkündet: »Das Geschäftsmodell der zypriotischen Banken ist tot.« Ja, das war auch die Absicht hinter dem ganzen Feuerwerk. Man hat den wichtigsten Wirtschaftszweig dieses Landes zerstört und damit sichergestellt, dass sich dort die griechische Tragödie wiederholt.
Die Projektionen des IWF, nach denen die Wirtschaft im Jahr 2013 um wenige Prozent schrumpft und dann wieder wächst, sind nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Alleine der Kollaps der Banken und die zeitweise Stilllegung des Zahlungsverkehrs haben die Wirtschaft um einen Betrag schrumpfen lassen, der größer ist, als die Projektion der Troika zugeben möchte. Nur zwei Wochen nach dieser Aktion veröffentlichte der Economist
eine realistische Schätzung. Nicht 5 Prozent, sondern 35 Prozent wird das zypriotische BSP in den nächsten 30 Monaten schrumpfen. Mindestens.
Bereiten Sie sich schon mal auf ein paar Krokodilstränen in Brüssel und Berlin vor, wenn auch in diesem schönen Land die Jugendarbeitslosigkeit auf 50 bis 70 Prozent ansteigt.
Herzlichen Glückwunsch zur Schließung eines Finanzplatzes im Rahmen des deutschen Wahlkampfes. Es sind ja nur Arbeitsplätze in Nikosia davon betroffen, die dürfen in Deutschland nicht wählen.
Hätte es eine Alternative gegeben zu der gewählten »Beteiligung« der Sparer und Bankkunden, ohne den europäischen Steuerzahler im Rahmen des Bailout zusätzlich zu belasten? Ja, die gab es. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel gewesen, den Sparern eine rückzahlbare Zwangsanleihe aufzuerlegen. Diese wäre vom Staat garantiert worden, jedoch einerseits nachrangig gegenüber seinen anderen Verbindlichkeiten (damit wären die Forderungen des IWF nach einer Beachtung der gesamten Schuldentragfähigkeit ebenfalls gesichert gewesen) und andererseits besichert durch die – heute noch ungewissen – Einnahmen aus den vor der Küste Zyperns vermuteten Gasfeldern.
Dies hätte den Bankkunden ebenfalls Opfer abverlangt, allerdings mit der realistischen Aussicht auf künftige Rückzahlung. Den Bankenstandort Zypern hätte ein solches Vorgehen möglicherweise gerettet, weil die Sparer die Ernsthaftigkeit des Bemühens um Wertsicherung ihres Vermögens gesehen hätten.
PS: Wenn wir alle Finanzzentren dichtmachen wollten, wo sich schon mal Schwarzgeld getummelt hat oder Geld gewaschen wurde, dann bliebe nicht viel übrig von den Banken in Frankfurt, London, Paris oder New York. Das heißt nicht, dass man nicht gegen Steuerhinterziehung vorgehen sollte. Das ist immer noch eine Straftat. Aber bitte mit den Mitteln des Rechtsstaats und nicht, um populistische Triebe zu befriedigen.
Mit einer durchschnittlichen Verschuldung von fast 90 Prozent des BSP der Euroländer müssen wir mitten in der jugendlichen Pubertät des Euro feststellen, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Maastrichter Stabilitätskriterium einer Maximalverschuldung von 60 Prozent nicht annähernd erreicht worden ist. Auch Deutschland liegt mit über 80 Prozent nur im Mittelfeld und ist in Summe keinesfalls ein Vorbild für die anderen Länder der Währungsunion.
Wenn man die unerwarteten Einnahmen, die dem deutschen Fiskus durch eine Sonderkonjunktur aufgrund der Kapitalflucht nach Deutschland zugeflossen sind, herausrechnet, dürfte von der grandiosen Leistung, in 2013/14 einen annähernd ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, nicht so viel übrig bleiben. Das Land, oder besser gesagt sein Finanzminister, sonnt sich in Windfall-Profiten, deren Kehrseite die Akkumulation enormer Risiken zulasten des deutschen Staatshaushaltes ist.
Kaum ein anderes Land hat ein derart gefährliches systemisches Risikoportfolio aufgebaut wie Deutschland. Es besteht aus einer einzigen großen Wette, nämlich der auf das Gelingen der Eurorettung. Die Wette, die der Staat abgeschlossen hat, übertrifft die Risiken der Handelsabteilungen selbst der größten Banken um einige Zehnerpotenzen. Eine Großwette dieses Formats würde man bei einer Bank als unverantwortliches Zocken brandmarken.
Die Kapitalflucht aus den Peripherieländern nach Deutschland treibt die Steuereinnahmen durch zwei Haupteffekte nach oben. Zu einem kleinen Teil durch die Transaktionssteuern, mehrheitlich im Immobilienbereich, vor allem aber durch eine Belebung der Inlandsnachfrage mit entsprechenden Wachstumseffekten für die Gesamtwirtschaft. Diese Nachfrage speist sich aus den direkten Investitionen und aus dem Vermögenseffekt: Die Preissteigerung bei Immobilien und anderen Realwerten erhöht den Vermögensstock und steigert so die Konsumneigung. Dies erklärt, warum die deutsche Volkswirtschaft 2011 und 2012 entgegen dem europäischen Trend weiter gewachsen ist. Gleichzeitig hat der Zufluss des Geldes die Zinsen für deutsche Staatsanleihen auf den niedrigsten Stand aller Zeiten gedrückt und so dem Finanzminister viele Milliarden Euro an Zinsaufwendungen erspart.
Leider hat die Kapitalflucht in einer Währungsunion auch eine dunkle Seite und die heißt Target-Salden. Und das geht im Prinzip so: Der Kunde einer Bank, zum Beispiel in Athen, räumt sein Konto leer und hebt von seiner Bank den Betrag von 500 000 Euro ab. Die Bank, die sich ohnehin schon in einer Stresssituation befindet, weil ganz viele Kunden dies tun, hat das Geld nicht, also leiht sie es sich von der griechischen Zentralbank. Die griechische Zentralbank wiederum leiht es sich beim Eurosystem.
Bitte empören Sie sich jetzt nicht über die Kapitalflucht unseres griechischen Familienvaters. Unterstellen wir mal, dass es sich bei dem Geld um seine Lebensersparnisse handelt und er nicht riskieren will, das Geld zu verlieren, zumal er sich auf die Rentenzahlungen angesichts leerer Staatskassen auch nicht verlassen kann. Es ist in dieser Lage nicht nur logisch, dass er sein Vermögen sichert, alles andere wäre geradezu unverantwortlich.
Unser vorsichtiger Familienvater bringt also das Geld nach Deutschland und kauft dort damit eine Immobilie. Er bezahlt die 500 000 Euro an den Verkäufer, der das Geld zu seiner Bank in Deutschland trägt, die es dann wiederum aus Mangel an Anlagealternativen auf einem Konto bei der Bundesbank anlegt. Damit haben die 500 000 Euro ihren Weg ins Eurosystem zurückgefunden. Aber am anderen Ende.
Die Bundesbank leiht dem Eurosystem dieses Geld über den sogenannten Target-2-Mechanismus. Wirtschaftlich schuldet jetzt die griechische Zentralbank der Bundesbank die 500 000 Euro. Weil das aber ganz viele Leute so machen, hatte die Bundesbank zur Jahreswende 2012/2013 einen Forderungsbestand von über 700 Milliarden Euro an ihre Partner im Eurosystem aufgebaut. Diesem Geld standen natürlich Forderungen der Banken an die Bundesbank gegenüber.
Was glauben Sie würde passieren, wenn das Eurosystem zerbricht? Dieses verliehene Geld steht dann im Risiko. Nach den Verträgen der Eurozone haften alle Zentralbanken gemeinsam für dieses Risiko. Aber was wären diese Verträge im allgemeinen Chaos eines implodierenden Euro noch wert? Das vermag niemand zu sagen.
Da stehen die Deutschen nämlich plötzlich ganz alleine mit dem Kehrbesen in der Hand da. Na ja, das ist nicht ganz fair, die Niederländer haben auch noch eine Kehrschaufel zu halten, deren Gewicht ihre Leistungsfähigkeit wahrscheinlich um einiges übersteigt. Es handelt sich bei Target-2 eben nicht einfach um eine simple Saldenmechanik ohne wirtschaftliche Bedeutung.
Im Grunde kann man sich das am besten vorstellen, wenn man die Target-Salden als Kredite zwischen Eheleuten betrachtet. Stellen Sie sich vor, Sie leihen Ihrem Ehepartner eine Million Euro. Ihr Ehepartner hat kein eigenes Einkommen, das ausreicht, diesen Kredit zu bedienen, aber das ist egal, denn das Geld bleibt in der Familie. Das ist richtig. Aber wehe, Sie lassen sich scheiden. Dann klamüsern Sie die Verhältnisse mal so auseinander, dass Sie die Million nicht abschreiben müssen. Das kann ausgesprochen stressig werden.
Prof. Hans-Werner Sinn vom Ifo Institut hat die Details dieses Themas in seinem Buch Die Target-Falle
sehr sauber herausgearbeitet. Wer es ganz genau wissen will, schaut am besten dort nach.
Wenn also jemand der Meinung ist, dass es ganz einfach wäre, den Euro abzuschaffen und jeden seiner Wege ziehen zu lassen, dann hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die angestauten Risiken sind so groß, dass ein Versagen bei der Eurorettung Deutschland möglicherweise in den Abgrund des eigenen Staatsbankrotts reißt, mindestens aber wird das schöne AAA-Rating des Landes auf BB oder B+ abstürzen, mit unabsehbaren Folgen für die Finanzierungskosten der schon bestehenden Schulden.
Es lohnt sich daher durchaus, intensiv darüber nachzudenken, wie man den Euro stabilisieren kann, und das geht eigentlich nur, wenn man den dafür erforderlichen Aufwand an Social Engineering so klein hält wie möglich. Das wiederum bedeutet, dass wir keine nordeuropäische oder südeuropäische Stabilitätskultur in Reinform bekommen werden. Es bedeutet, dass wir für viele Jahre gemeinsam die Risiken des beschrittenen Weges tragen müssen, und das bedeutet, dass wir einen Weg der Reform in den südlichen Ländern finden müssen, der es nicht riskiert, dass alles in einer Welle des öffentlichen Protestes untergeht.
Wir brauchen gewissermaßen einen realistischen Masterplan, der uns in die Lage versetzt, die Durchschnittsverschuldung des Euroraums auf das von Maastricht vorgegebene Niveau von 60 Prozent des BSP zurückzuführen. Dieser Plan kann nur ein Schuldentilgungsplan sein, der gemeinsam entworfen, getragen und durchgezogen wird.
Wir haben sogar das Glück, dass es einen solchen Plan schon gibt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage der deutschen Bundesregierung hat ihn entworfen. Ich möchte an dieser Stelle von den Details abstrahieren und werde versuchen, die wichtigsten Elemente zusammenzufassen.
Der Plan ist im Grund genommen sehr einfach. Er schlägt vor, alle Schulden der Euroländer, die über das Maastrichter Niveau von 60 Prozent hinausgehen, in einer gemeinsamen Schuldenagentur zu bündeln und auch gemeinsam für diese Schulden zu haften. Die Länder erarbeiten für ihre Anteile einen individuellen Schuldentilgungsplan, der zum Beispiel mit einer Sondersteuer finanziert wird, und tragen ihren Anteil so selbst ab. Es geht also nicht um Transfers, sondern nur um gemeinsame Haftung. Dies nivelliert die Staatsschulden der beteiligten Länder, und zwar auf einem Niveau, bei dem die Kreditmärkte eine gute Schuldentragfähigkeit unterstellen. Damit wird das Zinsniveau für die verbleibenden Schulden niedrig und gut finanzierbar gehalten und die Gefahr von »spekulativen Angriffen« vermindert.
Ganz einfach eigentlich, möchte man meinen.
Aber nichts da. Das sind Eurobonds im neuen Gewande. Und Eurobonds, das hat uns die Debatte der letzten vier Jahre ja gezeigt, sind Teufelszeug. Und wie man für sie eintreten kann, wenn man marktwirtschaftliche Freiheit vertritt, dass kann jetzt der eine oder andere treue Leser gar nicht nachvollziehen.
Gemach. Ja, das Konzept ist ökonomisch äquivalent mit Eurobonds. Allerdings soll es hier auch nicht unverändert vorgeschlagen werden. Es bildet ein gutes Gerüst, aber man kann es durch leichte Modifikationen so verändern, dass es dem marktwirtschaftlichen Ideal näher kommt.
Die europäischen Länder sitzen auf enormen staatlichen Vermögenswerten. Häfen, Flughäfen, Straßen, Autobahnen, Energieversorgungsnetze, Wasserversorgung, Eisenbahnen, Stadtwerke, Immobilien, Industrie- und Bankbeteiligungen, die Liste ist endlos. Wie in Griechenland haben auch viele andere Länder nur einen rudimentären Überblick darüber, was ihnen eigentlich gehört. Trotzdem gibt es Schätzungen, die jedem Privatisierungs-Aficionado das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Allein für Italien kommen da über 1000 Milliarden Euro zusammen. Es gibt kaum ein Euroland, in welchem es nicht mindestens ein paar hundert Milliarden sind.
Aufsummiert lässt sich damit ein nicht unwesentlicher Teil, vielleicht sogar der gesamte Betrag des Schuldentilgungsfonds, den die fünf Weisen vorgeschlagen haben, besichern. Und eine besicherte Einrichtung, verehrter Leser, ist etwas ganz anderes als die unbesicherte Risikoübernahme durch mehr oder minder nur ein Land im Klub, nämlich Deutschland. Diese Institution wäre dann kein Schuldentilgungsfonds mehr, sondern ein Schuldentilgungs- und Privatisierungsfond der Europäischen Union. Betriebswirtschaftlich betrachtet ist das ein Debt-for-Equity-Swap. Und für die Nordeuropäer könnte es sich als der einzige Weg erweisen, ihre sauer verdienten Ersparnisse zu retten.
Die daraus resultierende radikale Verkleinerung des staatlichen Sektors würde dem Kontinent einen ungeahnten Wachstumsschub geben. Die Lasten der Konsolidierung würden auf diese Weise auch sehr viel fairer verteilt. Im Moment trägt der »kleine Mann« alle Lasten über Kürzungen von Renten, bei den Sozialleistungen, bei Bildungseinrichtungen und im Gesundheitswesen.
Die Privatisierung hingegen verlangt einen Beitrag von denen, die bisher ihre Vorteile aus dem Staatsschatz gezogen haben, oft ohne adäquate Kontrolle, bei niedriger Produktivität und maximaler Ausnutzung einer Rentennische. Das sind oft genug Leute, die Sie nicht in Ihre Küche lassen sollten, denn dort saugen sie sich unverzüglich am Kühlschrank fest und gehen nie mehr weg. Nur dass der Kühlschrank, über den wir hier reden, sehr viel größer ist, selbst wenn Sie so ein Doppeltür-Monster in Ihrer Profiküche Ihr Eigen nennen.
Alleine die Produktivitätssteigerung dieser Anlagen durch professionelles privates Management könnte einige Prozent jährliche Wirtschaftsleistung in der EU hinzufügen.
Schon höre ich wieder das Gemurmel der alten Stamokap-Suppenkasper: »Nein, meine Suppe ess ich nicht, ich esse meine Suppe nicht.« Diese Leute sollten sich fragen, wem das ausufernde Portfolio von Staatsvermögen wirklich nutzt. Die kleinen Leute sind es nicht. Es ist die Vetternwirtschaft, die sich dort verschanzt hat und ihre Pfründe verteidigt. Das schafft sie auch hervorragend, denn wer nicht so viel arbeiten muss, der hat mehr Zeit für politische Lobbyarbeit, zumal die Mittel für solche Propaganda auch noch aus dem Staatsvermögen ganz legal abgezweigt werden können.
Und wer da meint, das geht nicht, das ist politisch nicht durchsetzbar, der muss sich angesichts der unausweichlichen Saldenmechanik des Währungsraums über eines im Klaren sein: Entweder man findet eine alternative Lösung (und das Totsparen der Südländer ist ganz sicher keine solche) oder man findet, dass der Tod der Währungsunion mit allen katastrophalen Konsequenzen auch für Deutschland politisch eher akzeptabel ist als eine Lösung, die Solidarität und Freiheit miteinander verbindet.