37

T agelang hatte Henny alles um sich herum vergessen. Es gab nur Felix, seine Nähe, seine Umarmungen, sein Lächeln, das glücklich und doch zugleich ernst war, ganz anders, als er früher gelächelt hatte. Alle hatten ihn herzlich, einige sogar überschwänglich begrüßt. Tante Lisa hatte natürlich weinen müssen, und Onkel Paul, der in letzter Zeit so tiefsinnig und deprimiert herumlief, hatte Felix in die Arme genommen.

»Willkommen daheim, Felix«, hatte er gesagt und dabei tatsächlich Tränen in den Augen gehabt.

Sie hatten den roten Salon ganz für sich allein. Ein zweites Lager für Felix war aufgestellt worden, während Henny offiziell auf dem Sofa schlief. Was sie natürlich nicht tat, denn sie lagen fast immer gemeinsam auf dem schmalen Feldbett und hielten sich aneinander fest. Auch im Schlaf umklammerten sie sich, und dennoch erwachte Henny manchmal in der Nacht, weil sie geträumt hatte, er sei im Lazarett gestorben. Dann schmiegte sie sich noch enger an ihn und spürte, wie unsagbar glücklich sie doch war, wie privilegiert vor vielen anderen Frauen und Bräuten, die immer noch auf die Rückkehr des Geliebten warteten und nicht wussten, ob es nicht vergeblich war. Immer noch trafen Todesnachrichten in Augsburg ein, die meisten wurden von Heimkehrern überbracht, die die traurige Pflicht übernommen hatten, den Tod eines Kameraden den Angehörigen mitzuteilen.

Sie redeten viel miteinander, aber meistens führte Henny das Wort. Sie schilderte ihm, wie sie im Luftschutzkeller gesessen hatten, als die Tuchvilla von einer Bombe getroffen wurde, was geschah, als Onkel Sebastian plötzlich im Park der Tuchvilla auftauchte, dass Ernst von Klippstein freiwillig aus dem Leben schied, und tausend andere Dinge, die er nicht miterlebt hatte. Er hörte ihr zu und warf nur selten kurze Fragen ein. Wenn sie ihm aber sagte, wie sehr sie um ihn gebangt hatte, wie sie sich nach ihm gesehnt hatte, presste er sie an sich und küsste sie.

»Und du? Hast du keine Sehnsucht nach mir gehabt?«, wollte sie wissen.

»Wie kannst du so etwas fragen!«

Erst Tage später fiel ihr auf, wie wenig er sprach. Manchmal erzählte er, wie es im Lazarett gewesen war, dass er eine Weile geglaubt hatte, er würde es nicht mehr schaffen, dass er wunderbare, tüchtige Ärzte gehabt hatte, dass er schließlich in britische Kriegsgefangenschaft kam, aber wegen seines schwachen Gesundheitszustandes bald entlassen wurde.

»Die Alten und die Kranken kommen zuerst heim«, sagte er. »Weil Kriegsinvaliden keinen Schaden anrichten können.«

Er hatte immer einen trockenen Humor gehabt – jetzt war er manchmal zynisch. Auch das kannte sie nicht an ihm. Manchmal überkam sie das Gefühl, ihn neu kennenlernen zu müssen, weil der Krieg etwas in ihm verändert hatte. Er hatte ihn schweigsam gemacht, verschlossen, manchmal erschien er ihr abwesend, seine Gedanken waren anderswo. Wenn sie miteinander am großen Mittagstisch im Speisezimmer saßen, spürte sie, dass er sich unter den vielen Verwandten fremd fühlte. Er antwortete höflich auf die Fragen, aber er fasste sich kurz, lachte niemals, hörte aber interessiert zu, was gesprochen wurde. Wenn sie heimlich unter dem Tisch seine Hand fasste, sah er sie an und lächelte.

»Warum erzählst du nichts?«, fragte sie, wenn sie miteinander allein waren.

»Was soll ich denn erzählen?«

»Von Russland und wo du überall gekämpft hast …«

»Da ist nicht viel zu erzählen …«

»Wirklich nicht?«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Er drückte vieles mit Blicken und Berührungen aus, was er nicht sagen konnte. »Du willst es nicht wissen, Henny, glaub mir.«

»Ich dachte, es würde dir guttun, es zu erzählen.«

»Nein«, sagte er. »Es ist vorbei. Dicker Strich darunter. Wir fangen neu an, Henny. Wir beide, du und ich.«

Eines Tages wird er schon reden, dachte sie. Ich darf ihn nicht bedrängen, er muss es selbst entscheiden. Wichtig ist, dass er wieder bei mir ist. Und dass er ganz gesund wird.

»So machen wir es«, sagte sie mit Entschiedenheit. »Schluss und Ende mit der Vergangenheit. Was jetzt zählt, ist die Gegenwart. Und unsere gemeinsame Zukunft!«

Nach einigen Wochen schien er sich gefasst zu haben, er bewegte sich frei in der Tuchvilla und machte sich nützlich, soweit es ihm möglich war. Oft saß er bei Onkel Sebastian, der nur langsam wieder auf die Füße kam und noch viel liegen musste. Was sie miteinander redeten, wusste Henny nicht, aber Tante Lisa, die sich oft im gleichen Raum aufhielt, meinte nur, es seien »Kriegsgeschichten«.

»Er schaut noch ziemlich blass aus, dein armer Felix«, fügte sie hinzu. »Ich weiß nicht, ob es ihm guttut, wenn Sebastian ihm so viel über dieses schreckliche Lager erzählt. Aber er fragt ja auch immer danach.«

Man hatte Felix das Geschoss, das in seine Lunge eingedrungen war, herausoperiert, doch die Wunde hatte sich bald nach der Operation entzündet und war immer noch nicht ganz zugeheilt. Er war bei Dr. Kortner, Tante Tillys Ehemann, in Behandlung und erzählte jedes Mal, wenn er zurückkam, dass es aufwärtsginge.

»Wir sollten darüber nachdenken, wie die Fabrik deines Onkels wieder instand gesetzt werden könnte«, sagte er eines Morgens zu Henny.

Gott sei Dank, dachte Henny froh. Jetzt fängt er wirklich an, in die Zukunft zu denken. Er hat es geschafft.

Von nun an redeten sie oft über die Fabrik, überlegten sich Möglichkeiten, wie man die Hallen wieder aufbauen könnte, und Henny erklärte, dass man die Webstühle wieder funktionsfähig machen könne und sich umschauen müsse, ob nicht irgendwo in Augsburg weitere Maschinen aufzutreiben seien. Vielleicht sogar mit Hilfe der Amerikaner, die seien ja bemüht, den friedlichen Aufbau in Deutschland zu fördern. Häufig saßen sie mit Tante Kitty und Onkel Robert zusammen und schmiedeten Zukunftspläne. Dann meinte Onkel Robert oft, dass er ja Kapital in der Schweiz besäße, an das er jedoch momentan nicht herankäme. Er hoffe jedoch, dass sein Geld eines Tages wieder frei sei, dann wolle er es gern in die Fabrik investieren. Onkel Paul beteiligte sich niemals an solchen Gesprächen – er schien mit anderen Dingen beschäftigt und steckte meist mit Hilde Haller zusammen.

»Will er sie tatsächlich heiraten?«, hatte Felix Henny gefragt.

»Angeblich ja …«

»Er muss wissen, was er tut«, hatte er schulterzuckend gemeint.

Es war an einem Sonntag, als sie alle beim Mittagsmahl saßen, das auch an diesem Tag wieder nur aus einem Kartoffeleintopf mit winzigen Speckwürfelchen bestand. Lisa und Charlotte waren ohne Onkel Sebastian zu Tisch gegangen, was ab und zu vorkam, wenn sich Onkel Sebastian nicht kräftig genug fühlte, aus dem Bett aufzustehen.

»Ach Gott«, seufzte Tante Lisa. »Er ist wieder einmal unpässlich, mein armer Sebastian. Der Rücken schmerzt, und Kopfweh hat er auch ganz schlimm. Er ist ja selbst nicht ganz unschuldig an dem, was ihm widerfahren ist, aber trotzdem finde ich …«

Da redete plötzlich Felix. Er sprach laut und sah dabei mit zornigen Augen auf Tante Lisa, der vor Schreck das Wort im Halse stecken blieb.

»Sebastian Winkler ist der Einzige in diesem Kreis, der sich tapfer und ehrenhaft verhalten hat!«, sagte er in die Runde. »Ich wünschte, ich hätte seinen Mut gehabt, aber ich war zu feige, habe mich zum Soldaten machen lassen und für etwas gekämpft, an das ich nie geglaubt habe. Jeder von uns hat sich auf seine Weise mit den Nationalsozialisten verbündet – nur Sebastian nicht. Und dafür verdient er unseren Respekt!«

Betretenes Schweigen folgte auf diese unerwartet emotionale Ansprache. Man hatte die Löffel sinken lassen und Felix voller Entsetzen angestarrt, Henny spürte, wie einige Blicke mitleidig zu ihr hinüberschwenkten. Sie selbst war noch zu verblüfft, um zu reagieren.

Felix blieb noch einen Moment lang sitzen, schien selbst erstaunt seinen Worten nachzulauschen, dann stand er auf und verließ das Speisezimmer.

»Das ist doch …«, vernahm man Tante Lisa im Flüsterton. »Was ist denn nur in ihn gefahren?«

»Regt euch nicht auf«, sagte Hilde Haller begütigend. »Das ist der Krieg. Er hinterlässt nun einmal seine Spuren in den Gemütern …«

Jetzt kam wieder Leben in Henny. Sie legte den Löffel hin und stand ebenfalls von ihrem Platz auf. »Es ist immer unbequem, die Wahrheit zu hören«, sagte sie. »Aber Felix hat vollkommen recht.«

Damit ging sie hinaus und ließ die fassungslose restliche Familie samt Anhang im Speisezimmer zurück. Im Flur stand Humbert mit starrer Miene – vermutlich hatte er Felix’ Ausbruch ebenfalls gehört. Er schwieg betreten, als Henny an ihm vorbeiging.

Sie fand Felix im roten Salon auf dem Sofa sitzend, den Kopf in die Hände vergraben.

»Es tut mir leid«, stieß er hervor, als sie eintrat.

»Warum?«

Er sah zu ihr auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe kein Recht, mich als Moralprediger aufzuspielen.«

»Du hast das gleiche Recht wie alle, deine Meinung zu sagen«, fand sie.

»Sie werden mich hassen.«

Henny sah die Sache nicht so dramatisch. »Ach was. Sie werden es verkraften. Schließlich sind wir eine Familie.«

Sie setzte sich neben ihn und schlang die Arme um ihn. »Trotzdem wäre es besser, wenn du mich das nächste Mal vorwarnen könntest, falls du wieder mit der Wahrheit um dich schießen willst …«, meinte sie heiter.

»Es wird nicht mehr vorkommen. Versprochen.«

Den Nachmittag verbrachte er zurückgezogen im roten Salon, erst gegen Abend gelang es Henny, ihn zu einem Spaziergang durch den Park zu überreden. Im Flur begegneten sie Tante Lisa, die betreten zur Seite schaute, Oma Gertrude kam aus Tante Elviras Zimmer und nickte ihnen freundlich zu. Immerhin. Dann öffnete sich hinter ihnen eine Tür, und sie vernahmen Charlottes helle Stimme.

»Warten Sie …«

Sie war sechzehn, dünn wie ein Spargel, das blonde Haar wie fast immer zerzaust, das Gesicht wenig anziehend und voller roter Pickel, der Blick abweisend. Seit einiger Zeit benutzte sie eine von Hannos alten Brillen. Sie stellte sich vor Felix hin und holte tief Luft.

»Das war großartig, was Sie da gesagt haben, Herr Burmeister«, platzte sie heraus. »Jawohl: Mein Vater ist ein Held, das weiß ich, auch wenn er es nicht hören mag. Und wenn Mama immer so tut, als wäre er selber daran schuld, dass sie ihn ins Lager gesperrt haben – da kann ich richtig wütend werden!«

Sie ergriff Felix’ Hand und schüttelte sie energisch, dann lief sie zurück in Pauls Eheschlafzimmer, das sie gemeinsam mit ihren Eltern bewohnte.

Felix war ganz benommen. Erst als er mit Henny die Treppe hinunterging, lächelte er still vor sich hin.

»Sie verehrt ihren Vater sehr, wie?«

»O ja«, gab Henny zur Antwort.

Beim Abendessen erwähnte niemand den Vorfall, man verhielt sich höflich und tat, als wäre nichts gewesen. Nur Hilde Haller erkundigte sich mitfühlend bei Felix, ob es ihm jetzt besser ginge.

Der folgende Morgen brachte neue Aufregung, die alles andere in Vergessenheit geraten ließ. Noch vor dem Frühstück klopfte Hennys Mutter Kitty an die Tür zum roten Salon. Als Henny ihr im Nachthemd verschlafen öffnete, hielt sie ihr einen Brief vor die Nase.

»Das habe ich gerade bekommen. Von Leo. Stell dir vor: Marie hat sich schon eingeschifft. In etwas über einer Woche kann sie hier sein …«

»Was?«

»Lies selbst. Mir verschwimmen die Buchstaben vor den Augen, so aufgeregt bin ich. Robert hat gesagt, ich soll mich beruhigen, das ließe sich alles regeln. Aber ich bin mit meinen Nerven schon jetzt am Ende …«

Henny nahm den Brief und ging damit zurück ins Zimmer, wo Felix gerade von seinem Lager stieg.

»Was ist los?«, brummte er.

»Tante Marie ist unterwegs nach Deutschland.«

»Ach herrje!«

Ihre Mutter war rücksichtsvoll genug, nicht in das Liebesnest der jungen Leute einzubrechen, sie blieb auf dem Flur stehen und verkündete: »Kommt bitte hinüber ins Herrenzimmer, wenn ihr gelesen habt. Wir müssen Kriegsrat halten. Robert hat gesagt, es dürfe auf keinen Fall ein Drama daraus werden …«

»Schon gut …«

Henny durchschaute immer noch nicht ganz, wie ihre Frau Mama es fertigbrachte, sowohl mit Walter als auch mit Leo über das Postsystem der amerikanischen Besatzung zu korrespondieren und dabei auch zu Tante Marie Briefkontakt zu haben. Aber es funktionierte auch jetzt, nachdem Walter Ginsberg schon seit einigen Wochen nicht mehr in Augsburg war. Von der deutschen Post war momentan leider nicht viel zu erwarten.

Der Schrift nach war der Brief in ziemlicher Eile geschrieben worden. Wobei Henny wusste, dass Leos Handschrift noch nie besonders ordentlich gewesen war.

Liebe Tante Kitty,

ich freue mich, dass du Walter und mir die Möglichkeit eröffnen willst, noch einmal miteinander zu musizieren, und selbstverständlich weiß ich auch, dass du damit den Plan einer vorsichtigen Familienversöhnung verfolgst. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Es wird allerdings nicht einfach sein, dieses Treffen zu organisieren. Walter sitzt da am längeren Hebel, da er Lieutenant ist und die besseren Beziehungen hat. Er ist Feuer und Flamme und will sich dafür einsetzen.

Meine Anwesenheit in Augsburg erscheint mir momentan umso dringlicher, da ich gestern eine kurze Nachricht meiner Mutter erhielt. Sie hat bereits die Schiffskarte besorgt, am 3. September will sie sich in New York einschiffen, das bedeutet, sie könnte um den 10. September herum bereits in Augsburg sein. Wie sie sich dieses Wiedersehen vorstellt, weiß ich nicht, aber sie ist fest dazu entschlossen und bat mich, es dir mitzuteilen.

Sei herzlich gegrüßt von deinem momentanen »Lieblingsneffen« (wie du mich in deinem Brief zu nennen beliebtest).

Leo

»Verstehst du das?«, fragte Henny und reichte Felix den Brief.

Er überflog die Zeilen und meinte schulterzuckend: »Ganz einfach. Ab dem 10. September ist mit deiner Tante Marie zu rechnen.«

»Das ist schon klar. Aber was soll das für ein Treffen sein, bei dem Walter und Leo musizieren? Was hat Mama da wieder für Geschichten ausgeheckt?«

»Das wird sie uns sicher gleich erklären.«

Sie zogen sich an, Henny wollte noch rasch ins Badezimmer, aber leider war ihr Oma Gertrude zuvorgekommen, die meist länger dort verweilte, also begnügte man sich mit dem Örtchen unten in der Halle, das ausnahmsweise frei war. Ihre Mutter hatte im Herrenzimmer bereits das Bettzeug beiseitegeräumt, sodass man die Sitzgruppe benutzen konnte.

»Die Enge in diesem Haus ist einfach nur fürchterlich«, stöhnte sie, als Henny und Felix eintraten. »Jedes Zimmer ist belegt, überall steht etwas herum, und trotzdem fehlen die notwendigsten Dinge. Robert hat nur einen einzigen Anzug, und die wenigen Kleider, die ich aus dem Schutt meines Hauses bergen konnte, sind vollkommen ruiniert …«

Onkel Robert legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und meinte, das alles sei schmerzlich, aber momentan stünden andere Probleme an.

»Aber verstehst du denn nicht, Liebling? Genau darum geht es doch. Wenn Marie in die Tuchvilla kommt – wo werden wir sie unterbringen? Alle Zimmer sind belegt. Man könnte höchstens ein Bett für sie im Wintergarten aufstellen, aber wir haben kein Bettgestell und auch keine Matratze mehr. Die einzige Schlafstätte, die noch frei ist, wäre das Bett meiner verstorbenen Mutter, aber dort wird Marie sicher nicht schlafen wollen, zumal Tante Elvira schrecklich laut schnarcht …«

Henny kannte das schon. Wenn ihre Mutter aufgeregt war, konnte sie nicht aufhören zu reden, und fast immer schwatzte sie dann krauses Zeug. Sie wartete den Moment ab, als die Mama kurz Luft holen musste, um rasch einzugreifen.

»Ich denke mal, die Unterbringung ist das geringste Problem bei dieser Sache …«

»Das glaubst auch nur du«, sprudelte ihre Mutter hervor. »Es gibt in der ganzen Stadt kein einziges Hotel, alle Wohnungen sind voller Menschen, viele haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf und sitzen in irgendwelchen Gemeinschaftsquartieren. Und dann die vielen Flüchtlinge …«

»Vor allem müssen wir es Onkel Paul mitteilen«, schnitt ihr Felix freundlich, aber bestimmt das Wort ab. »Er muss es wissen, damit er sich darauf vorbereiten kann.«

Hennys Mutter verstummte für einen Moment. Natürlich, das war der springende Punkt, Onkel Paul musste informiert werden, und vermutlich würde er wenig begeistert reagieren.

»Er wird wütend sein«, meinte sie dann. »Wer weiß, was er sich einfallen lässt. Aber das sage ich euch: Wenn er auf die Idee kommen sollte, Marie vor die Tür zu setzen, dann verlasse ich auf der Stelle ebenfalls die Tuchvilla …«

Onkel Robert warf Henny einen belustigten Blick zu. Es war immer wieder erstaunlich, mit welchem Humor er die Ausbrüche seiner Eheliebsten ertrug.

»Natürlich, Kittyschatz«, sagte er lächelnd zu ihr. »Ich gehe mit dir. Wir schlafen dann alle drei im Park unter einer Tanne …«

»Ach Robert«, seufzte sie und lehnte sich an ihn. »Ich habe Marie so lange nicht mehr gesehen, und nun kommt sie endlich zurück, und da soll sie nicht einmal …«

»Alles wird gut …«, sagte er und streichelte ihren Rücken.

»Können wir jetzt endlich vernünftig reden?«, fragte Henny ärgerlich. »Dann schlage ich vor, dass ich Onkel Paul die Nachricht überbringe. Er sollte es auf jeden Fall als Erster erfahren. Wie ich ihn kenne, wird er zunächst nicht viel dazu sagen. Aber vielleicht könntest du, Onkel Robert, in einigen Tagen einmal die Lage sondieren. So ein Gespräch unter Männern, verstehst du?«

Onkel Robert erklärte sich bereit, seinen Beitrag zu leisten. »Ich versuche es. Für den Erfolg kann ich allerdings nicht garantieren.«

»Der gute Wille zählt«, bemerkte Henny und zwinkerte ihm zu.

»Und was ist mit seiner Tippse?«, fiel Hennys Mutter ein. »Die sollte auch im Bilde sein. Ich denke mal, ich werde …«

»Nein!«, sagte Henny energisch. »Überlass das Onkel Paul, Mama! Er wird es Hilde schon sagen, wenn er es für richtig hält.«

»Rauswerfen soll er sie!«

Henny seufzte. So ging es doch wirklich nicht. »Glaubst du im Ernst, du könntest Onkel Paul dazu zwingen, sich mit Tante Marie zu versöhnen, Mama?«, schimpfte sie. »Mit deinem Theater tust du niemandem einen Gefallen, am allerwenigsten Tante Marie! Alles, was du erreichst, ist, dass Onkel Paul immer verbiesterter wird.«

»Das verstehst du nicht, Henny!«, beharrte ihre Mutter.

Henny ging nicht darauf ein. Mama wich niemals von ihren Ansichten ab, aber als ihre Tochter hatte sie frühzeitig gelernt, trotzdem zu bekommen, was sie wollte.

»Ich bin sicher, dass auch Tante Marie sich die Sache überlegt hat und nicht wie eine wilde Furie hier auftreten will«, fuhr sie fort. »Sie wird ein Gespräch mit Onkel Paul führen wollen. Wie es ausgeht – das müssen die beiden unter sich ausmachen. Aber ich schlage vor, auf alle Fälle Tante Tilly zu informieren.«

»Glaubst du, dass einer von beiden nach diesem Gespräch ärztlichen Beistand nötig haben wird?«, fragte Felix ironisch.

»Ach was!«, lachte Henny. »Aber Tante Marie könnte bei Kortners wohnen, die haben noch Platz in der Wohnung. Das wäre ihr ganz sicher lieber als hier in der Tuchvilla.«

»Hört sich vernünftig an«, meinte Onkel Robert und nickte Henny anerkennend zu. »So sollten wir die Sache angehen. Was meinst du, Kitty?«

Hennys Mutter machte ein unzufriedenes Gesicht, dennoch schien sie vorerst keine Einwände zu haben, denn sie schwieg.

»Sag mal, Mama«, kam Henny auf das nächste Thema. »Was ist das für eine Geschichte mit Walter und Leo? Die sollen Musik machen? Wo denn?«

»Hier in Augsburg natürlich«, erklärte ihre Mutter eifrig. »Ich habe nämlich eine kleine Ausstellung arrangiert. Frau Direktor Wiesler hat mir dabei geholfen, sie lebt ja jetzt ganz zurückgezogen mit ihrem Mann in einer kleinen Wohnung, seitdem sie die Eisenwerke nicht mehr haben. Aber sie ist nach wie vor der Kunst sehr zugetan und hat Frau Schmidtkunz überredet, ihr Haus zur Verfügung zu stellen …«

»Eine Ausstellung?«

»Natürlich. Leider sind viele der Bilder von Maries Mutter in meinem Haus verbrannt; es war keine gute Idee, sie auf dem Dachboden unterzubringen. Aber hier in der Tuchvilla gibt es noch einige ihrer Werke. Paul hat sie oben in die Rumpelkammer gestellt. Und dann wollen auch Marek und einige andere Künstler etwas dazu beitragen …«

»Ich verstehe. Und du willst, dass Walter und Leo zur Eröffnung der Ausstellung musizieren?«

»Genau«, verkündete ihre Mutter mit stolzem Lächeln. »Und natürlich will ich alle Bewohner der Tuchvilla dazu einladen.«

»Auch Onkel Paul?«

Kitty zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

Unglaublich, was ihrer Mutter so alles einfiel. Henny gab diesem Versöhnungsversuch zwar keine Chance, trotzdem war es irgendwie rührend, wie ihre Mutter bemüht war, die Familie wieder zusammenzuführen.

»Und wann soll diese Ausstellung stattfinden?«

»Mitte September …«, meinte ihre Mutter lächelnd und wechselte einen triumphierenden Blick mit Onkel Robert. »Marie wird sie sehen. Ist das nicht wunderbar?«