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K itty war unzufrieden. Sie hatte auf diesen netten Colonel eingeredet wie auf einen müden Gaul und war fest davon überzeugt gewesen, dass ihre Argumente ihn beeindruckt hätten. Zumal sie fließend Englisch sprach. Er hatte immer wieder freundlich genickt, ein paarmal kurze Zwischenfragen gestellt und sich eifrig Notizen gemacht. Tatsächlich war sie zu großer Form aufgelaufen und hatte Marek zuliebe enorm viel Phantasie entwickelt.

»Wissen Sie – Ernst von Klippstein war Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen. Ein Mann, der für Kaiser und Vaterland gekämpft hat. Ein Offizier wie Sie, lieber Colonel. Und dann hat diese schwere Verwundung, an der er beinahe gestorben wäre, sein Leben auf solch tragische Weise verändert. Das hat ihn verbittert und empfänglich für die Lügen der Nazis gemacht. Gewiss – er hat zu Anfang an Adolf Hitler geglaubt, aber nach und nach … schließlich war Ernst von Klippstein ein intelligenter Mensch … nach und nach hat er begriffen, dass er einem Irrsinnigen, einem Verbrecher aufgesessen ist. Der Größenwahn dieses Kriegs. Die schrecklichen Morde in den Lagern. Er hatte in seiner Position ja Kenntnisse, die unsereinem verschlossen waren. Ja, und da hat er keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich selbst das Leben zu nehmen …«

Sie hatte sich derart in diese Version der Dinge hineingesteigert, dass sie beinahe selbst daran glaubte. Warum sollte es nicht so gewesen sein? Irgendeinen Grund musste der arme Klippi ja gehabt haben, sich umzubringen.

»Sie müssen zugeben, dass man Ernst von Klippstein nicht als einen Funktionär der NSDAP sehen kann«, fuhr sie fort. »Er hat sich von den Nazis abgewendet und sich sogar aus Verzweiflung über seinen Irrtum selbst den Tod gegeben …«

Marek hatte neben ihr gesessen, aber da sein Englisch schwach war, hatte er kaum etwas verstanden. Er schaute immer nur gespannt zwischen ihr und dem Colonel hin und her und krallte dabei die Finger ineinander. Schließlich bedankte sich der Colonel ganz herzlich bei ihr, erkundigte sich nach der Ausstellung, deren Eröffnung er auf jeden Fall mit dem gesamten Offiziersstab besuchen wolle, und erwähnte, dass auch er Maler sei, aber aufgrund seiner dienstlichen Verpflichtungen nur einige Zeichnungen entstanden wären. Und natürlich erklärte sie, dass sie diese Bilder unbedingt sehen wolle, worauf er meinte, dass in den kommenden Monaten vielleicht Zeit zu einer Begegnung zwischen deutschen und amerikanischen Künstlern sein würde.

»Wunderbar. Mein lieber Freund Marek Brodskij ist übrigens ebenfalls ein begabter Künstler …«

Davon hatte der Colonel bereits gehört, er lächelte Marek flüchtig zu und wandte sich dann wieder an Kitty. »Dann freue ich mich, Sie in Kürze in der Villa Schmidtkunz wiederzusehen, liebe Mrs. Scherer.«

»Und nicht wahr? Sie werden die arme Frau von Klippstein doch freilassen? Sie hat nichts Böses getan, das kann ich beschwören!«

»Wir haben unsere Vorschriften, Mrs. Scherer.«

Damit waren sie entlassen, und Kitty blieb die unangenehme Aufgabe, Marek das unbefriedigende Ergebnis dieser Mission auf dem Heimweg zu erklären.

»Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte er schließlich resigniert. »Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.«

»Ich bin sicher, er überlegt es sich«, meinte sie zuversichtlich. »Und wenn nicht, werde ich ihn bei der Eröffnung meiner Ausstellung noch einmal bearbeiten.«

Die Ausstellung war eine großartige Aufgabe, die sie mit Feuereifer vorantrieb, sie hatte jedoch feststellen müssen, dass sich die Angelegenheit komplizierter gestaltete, als sie geglaubt hatte. Tagelang hatte sie gebangt, ob Leo und Walter tatsächlich zum Eröffnungstag dienstfrei bekämen und auftreten könnten. Das hatte nun zu ihrer großen Freude und Erleichterung geklappt. Doch inzwischen taten sich andere Probleme auf. Die Villa der Familie Schmidtkunz war glücklicherweise unbeschädigt geblieben, aber sie hatten die Tochter mit Ehemann und zwei Kindern aufgenommen, die in der schrecklichen Bombennacht im Februar alles verloren hatten. Diese Tochter war leider eine völlige Banausin und an den schönen Künsten wenig interessiert, sie jammerte beständig, weil das große Wohnzimmer und die Eingangshalle der Villa für die Ausstellung freigeräumt werden sollten und sie mit ihrer Familie für einige Wochen auf drei kleine Zimmer reduziert wurde. Drei ganze Zimmer für vier Personen – du liebe Güte. In der Tuchvilla wohnte man momentan wesentlich beengter. Das Genörgel der Tochter hatte Frau Schmidtkunz beinahe dazu gebracht, die ganze Sache abzublasen, und Kitty hatte mit Engelszungen auf sie einreden müssen, um ihre Ausstellung zu retten. Dann hatte es lange Diskussionen gegeben, weil die grässlichen Ölschinken im Wohnzimmer abgehängt werden mussten, um Luise Hofgartners Bilder zu positionieren, auch stöhnte Frau Schmidtkunz bei jedem Nagel, den Kitty in ihre Tapeten schlug, und erklärte immer wieder, dass sie niemals ihre Einwilligung gegeben hätte, wenn sie geahnt hätte, wie sehr man ihr Haus verschandeln würde.

»Ich gestatte es nur, weil dieser bezaubernde junge Lieutenant kommt, der so hervorragend Geige spielt. Ihm zuliebe lasse ich das alles über mich ergehen!«

Ach, es war schwierig. Und dabei freuten sich die Augsburger so sehr darüber, dass es wieder kulturelle Veranstaltungen gab! Die privat organisierten Lesungen und Hauskonzerte in der Stadt waren überfüllt, man war geradezu gierig nach Musik, Literatur und Kunst, weil sie den Menschen vermittelten, dass das Schöne, das Wunderbare, das, was uns emporträgt und beglückt, noch am Leben war. Kultur war einer der wenigen Hoffnungsträger in dieser dunklen Zeit.

Kitty ging täglich in die Villa Schmidtkunz, um letzte Handgriffe zu erledigen und die Hausherrin bei Laune zu halten. Man hatte einen Klavierstimmer aufgetrieben, der das verstaubte Piano durchstimmte, auch konnte sie die frohe Kunde mitbringen, dass von Seiten der Amerikaner einige Flaschen Sekt und mehrere Dosen mit Corned Beef, Hühnchen, Ananas und anderen leckeren Dingen gespendet würden, die man zur Eröffnung anbieten konnte.

Worauf die unmögliche Tochter von Verschwendung und unfassbarem Luxus redete und hinzufügte, die Bilder der Luise Hofgartner seien entartete Kunst, die im Haus ihrer Mutter nichts zu suchen habe. Nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft und um der guten Sache keinen Schaden zuzufügen, hatte Kitty darauf verzichtet, dieser unmöglichen Person an die Gurgel zu fahren.

Der 10. September war vorbeigegangen, ohne dass Marie in der Tuchvilla erschienen war. Kitty wurde nun mit jedem Tag ungeduldiger; wenn sie zur Villa Schmidtkunz ging, machte sie stets einen Umweg über den Bahnhof in der Hoffnung, Marie auf dem Bahnsteig zu entdecken. Was ein unglaublicher Zufall gewesen wäre, aber doch immerhin möglich. Leider war die Hoffnung bisher vergeblich gewesen.

An diesem Morgen war Kitty spät dran, sie hatte noch einige von Mareks Zeichnungen eingepackt, um sie in die Villa Schmidtkunz zu tragen, und überlegte, zwei ältere Werke aus eigenen Beständen ebenfalls auszustellen – da läutete das Telefon in Pauls Büro.

Das Telefon? O Gott, das Telefonnetz war ja eigentlich gesperrt, es konnte nur ein Anruf mit Sondergenehmigung sein. Tilly aus der Klinik? War etwas mit Sebastian?

»Paul ist im Büro«, sagte Robert, als sie davonstürzen wollte. »Er hat den Anruf angenommen.«

Sie ging trotzdem auf den Flur hinaus und wartete mit klopfendem Herzen vor Pauls Bürotür. Lisa war in der Klinik, aber die arme Charlotte saß oben im Zimmer, wie schrecklich, wenn dies eine schlimme Nachricht war, würde man es ihr mitteilen müssen. Aus dem roten Salon kam Henny gelaufen, die ebenso aufgeregt wie Kitty war, auch Humbert, der den Frühstückstisch abdeckte, hatte das Telefon gehört und sich eingefunden. Man stand und lauschte.

»Danke«, sagte Paul im Büro.

Dann musste er den Hörer aufgelegt haben, denn es war nichts weiter zu hören. Auf dem Flur warfen sich die Lauscher betroffene Blicke zu. Das klang nicht nach einer guten Nachricht. Jetzt erschien auch Gertrude im Flur, und Tante Elvira kam, auf einen Stock gestützt, herbeigehumpelt.

»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Ist jemand gestorben?«

Niemand antwortete, da öffnete sich die Bürotür, und Paul stand mit düsterer Miene auf der Schwelle.

»Das war ein Anruf von Dr. Kortner«, sagte er. »Sebastian wird morgen aus der Klinik entlassen.«

Erleichterung machte sich breit. Humbert lächelte, Gertrude kehrte zufrieden in ihr Zimmer zurück.

»Und deshalb ruft Dr. Kortner extra an?«, fragte Henny misstrauisch.

Paul räusperte sich und sah verdrossen in die Runde. »Außerdem ist Marie gestern Abend in Augsburg angekommen«, fügte er hinzu.

Er schloss die Tür hinter sich mit einem festen Ruck und eilte die Treppe hinunter in die Halle. Kittys Jubelschrei folgte ihm auf dem Fuß und schien seine Flucht zu beschleunigen.

»Marie! Endlich! Wo ist sie? Paul, so bleib doch stehen! Sag mir, wo Marie ist …«

Henny fasste ihre Mutter, die schon fast an der Treppe war, am Arm. »Bei Tante Tilly, wo denn sonst?«, sagte sie leise. »Lass Onkel Paul jetzt bloß in Ruhe, Mama. Der muss erst mal wieder zu sich kommen.«

»Das wäre allerdings höchste Zeit!«, stellte Kitty empört fest.

Dann ließ sie alles stehen und liegen, warf den Mantel über und eilte hinaus. Natürlich fuhr ihr die Straßenbahn, mit der sie immerhin bis zum Rathausplatz hätte kommen können, vor der Nase weg, aber das war nur halb so schlimm, sie wäre auch bis New York zu Fuß gelaufen, um Marie wiederzusehen. Außer Atem und mit wehenden Mantelschößen kam sie in Tillys Wohnung an, klingelte Sturm und wartete mit wild klopfendem Herzen, dass die Tür geöffnet wurde. Doch nichts rührte sich.

Wo kann sie sein?, überlegte sie. Drüben in der Praxis? Natürlich, von dort hat Jonathan Kortner ja auch angerufen. Wie dumm ich war. Sie eilte die Treppe wieder hinunter und wollte zur Haustür hinaus, da traf sie auf ihre Tochter Henny.

»Du bist gerannt wie eine Schnellläuferin, Mama!«, sagte Henny. »Hast du nicht gehört, dass wir nach dir gerufen haben?«

Nein, Kitty hatte vor lauter Aufregung nichts davon mitbekommen. Vor dem Haus warteten Felix und Dodo, die ebenfalls begierig waren, Marie wiederzusehen.

»Sie ist nicht in der Wohnung«, meldete Kitty. »Wahrscheinlich ist sie bei Jonathan in der Praxis.«

»Was soll sie denn da?«, zweifelte Dodo. »Mama wird sich in Augsburg umschauen. Am Ende ist sie in die Tuchvilla gelaufen, und wir warten hier vergeblich auf sie. Hat Papa nichts davon gesagt?«

»Gar nichts hat er gesagt, dieser unmögliche Mensch!«, jammerte Kitty. »Was machen wir denn jetzt nur?«

»Warten«, schlug Henny vor. »Irgendwann wird sie schon kommen.«

»Es ist zum Verrücktwerden!«, stöhnte Kitty. »Jetzt ist Marie in Augsburg, und wir finden sie nicht …«

»Da!«, rief Dodo. »Dort hinten winkt jemand!«

Kitty lief vor und winkte heftig mit beiden Armen. Dann hielt sie inne und ließ die Arme enttäuscht sinken.

»Das sind ja Hanna und Auguste«, seufzte sie. »Was wollen die denn hier?«

Die beiden Angestellten näherten sich mit einiger Verlegenheit, Hanna trug einen Korb, in dem Zwiebeln und Kartoffeln lagen, Auguste hatte drei Brote in ihrem Einkaufsnetz.

»Wir sind zum Einkaufen unterwegs«, erklärte Auguste. »Und da haben wir einen kleinen Umweg gemacht, weil wir dachten …«

»Weil wir doch die gnädige Frau so gern begrüßen wollten«, ergänzte Hanna, die vor Aufregung ganz rote Wangen hatte.

»Das ist schön von euch«, meinte Kitty gerührt. »Aber Marie ist leider nicht hier.«

»O wie schade!«, seufzte Hanna enttäuscht. »Aber es stimmt doch, was Humbert gesagt hat, nicht wahr? Die gnädige Frau ist in Augsburg.«

»Davon gehen wir aus«, sagte Henny. »Die Frage ist nur …«

»Da kommt noch jemand!«, meldete Felix und grinste.

»Wer? Marie?«, rief Kitty erregt.

»Nein«, sagte Dodo. »Das ist Onkel Robert mit Oma Gertrude. Und Wilhelm ist auch dabei. Jetzt sind beinahe alle Bewohner der Tuchvilla hier auf der Straße versammelt.«

Die drei hatten die Straßenbahn genommen, aber weil die Bahn so oft anhielt und so viele Leute ein- und ausstiegen, hatte die Fahrt bis zum Rathausplatz ziemlich lange gedauert.

»Wieso steht ihr denn alle auf der Straße?«, wollte Gertrude wissen.

»Wir warten auf Marie«, verkündete Kitty. »Sie muss irgendwo in Augsburg unterwegs sein.«

»Das ist wirklich nicht nett von ihr«, meinte Gertrude. »Erst fährt sie nach Amerika, und jetzt läuft sie in Augsburg herum. Elvira hat gesagt, sie würde sich keinen Zentimeter aus der Tuchvilla herausbewegen, weil sie der Meinung ist, dass Marie früher oder später sowieso dort …«

»Da ist sie!«, schrie Dodo und schob die überraschte Gertrude zur Seite. »Mama! Mama, wir warten alle auf dich …«

Dodo lief ihrer Mutter mit ausgebreiteten Armen entgegen, stieß beinahe mit zwei Frauen zusammen, die einen Leiterwagen hinter sich herzerrten, und Kitty bekam feuchte Augen, als sie sah, wie sich Mutter und Tochter in die Arme fielen. Ach, sie selbst wäre ja eigentlich gern die Erste gewesen, die Marie in Augsburg umarmte. Aber Dodo war Maries Tochter – sie hatte das Vorrecht.

»Was hat sie denn da für einen Mann bei sich?«, wollte Gertrude wissen, die schlechte Augen hatte.

»Einen Mann?«, fragte Auguste und reckte den Hals.

»Das wird doch nicht dieser Friedländer sein«, meinte Robert, und er sah Kitty bedenklich an.

»Aber nein, ihr Blindfische!«, lachte Henny. »Das ist unser Humbert. Er trägt zwei Taschen, der große Kavalier Humbert Sedlmayer!«

»Humbert?«, staunte Hanna. »Der wollte doch zum Schuster, um die Halbschuhe der gnädigen Frau Elisabeth noch einmal besohlen zu lassen …«

»Da hat er wohl einen kleinen Umweg gemacht«, meinte Auguste spitz. »Ach herrje – jetzt steht er ganz verlegen herum, weil die beiden sich in den Armen liegen und Küsse tauschen.«

Als Dodo sich von ihrer Mutter löste, hielt es Kitty nicht mehr aus. Mit flatterndem Mantel lief sie die Straße entlang auf Marie zu und umarmte sie stürmisch.

»Marie, Marie, meine Herzensmarie … So viele Jahre durften wir uns nicht sehen … Ach, du bist genau so hübsch und jung wie immer … Und wie elegant du angezogen bist … Meine Güte, wir haben hier auf dich gewartet … Ja, Jonathan hat angerufen …«

Sie wusste selbst nicht, was sie da alles durcheinanderredete, es sprudelte aus ihr heraus und ließ sich einfach nicht abstellen. Marie hielt sie umschlungen, weinte ein bisschen und lachte dann wieder, sagte nur ab und zu ein Wort und wartete geduldig, bis Kitty wieder zu sich kam.

»Du hast dich kein bisschen verändert, meine allerliebste Freundin und Schwägerin«, meinte sie zärtlich und drückte Kitty noch einmal an sich. »Ach, es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«

Die anderen begrüßten Marie nun ebenfalls, jeder auf seine Weise. Robert und Henny umarmten sie, Felix tat es nach einigem Zögern ebenfalls. Gertrude strich ihr mit mütterlicher Zärtlichkeit über die Wange, Hanna und Gertrude knicksten nach alter Gewohnheit und reichten ihr die Hand, und schließlich stellte Dodo ihr Wilhelm als ihren besten Freund und Kameraden vor. Wilhelm verbeugte sich höflich und murmelte: »Willkommen in Deutschland, gnädige Frau. Ich bin außerordentlich erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen …«

»Ich bin vollkommen überwältigt von diesem wunderbaren Empfangskomitee«, sagte Marie heiter. »Das ist ja eine richtige Versammlung.«

»So ist es«, bemerkte Robert. »Wir sollten vielleicht besser hinauf in die Wohnung gehen.«

Er hatte recht. Überall in der Straße waren Passanten stehen geblieben, um die herzzerreißende Begrüßung zu beobachten. Wenn eine amerikanische Patrouille vorbeikam, hätte sie daran Anstoß nehmen können, denn Versammlungen in der Öffentlichkeit waren verboten.

»Hat jemand einen Schlüssel für Tillys Wohnung?«

»Ja natürlich«, rief Marie. »Ich!«

Bevor sie hinaufgingen, verabschiedete sich Humbert, auch Hanna und Auguste erklärten, nun rasch zurück in die Tuchvilla gehen zu müssen, weil die Köchin die Zwiebeln für das Mittagsmahl benötigte.

»Wir alle warten auf Sie, gnädige Frau«, sagte Humbert zum Abschied. »Es ist, wie Fanny Brunnenmayer immer sagt: Sie sind die Seele der Tuchvilla.«

Marie war sichtlich bewegt von diesen Worten und bedankte sich bei Humbert und den beiden Frauen. »Grüßen Sie bitte Frau Brunnenmayer ganz herzlich von mir!«, gab sie ihnen mit auf den Weg.

Oben in der kleinen Wohnung war bald ein aufgeregtes Durcheinander, und Kitty bedauerte nun sehr, eine so große Familie zu haben, denn sie hatte Marie keinen Augenblick lang für sich allein. Alle zerrten an der armen Marie herum, fragten sie aus, schwatzten unnützes Zeug, wollten allerlei Überflüssiges wissen und erzählten die gleichen Dinge mehrfach, sodass der armen Marie der Kopf schwirren musste. Zum Glück begab sich Gertrude nach einiger Zeit in die Küche, um aus Maries Einkäufen und Tillys Vorräten ein Mittagsmahl zu kochen, und Henny, die Gertrudes Absicht erraten hatte, ging eilig hinter ihr her, um das Schlimmste zu verhüten. Oma Gertrude hatte schon eine ganze Weile nicht mehr in der Küche gestanden, und auch früher war ihr ja weiß Gott nicht jedes Gericht gelungen.

Doch die leer gewordenen Plätze im Wohnzimmer nahmen nun Tilly und Jonathan ein, die um die Mittagszeit nach Hause kamen, und der altkluge Edgar setzte sich neben Marie, um allen zu erzählen, dass er seiner Tante heute Morgen schon das Frühstück zubereitet habe. Im Anschluss wurden die Gespräche wenigstens sinnreicher, denn Dodo erzählte, dass sie gemeinsam mit Wilhelm imstande sei, die beiden Webstühle zu reparieren, die sich im Keller des zerstörten Fabrikgebäudes angefunden hätten.

»Ich habe das Gelände noch nicht gesehen. Ist denn alles dem Erdboden gleich?«, fragte Marie beklommen.

»So ziemlich«, meinte Dodo. »Aber wenn wir in der zerstörten Weberei den Schutt wegräumen und die Steine heraussuchen, die noch brauchbar sind, könnten wir eine provisorische Halle hinstellen.«

Robert erklärte Marie den Konstruktionsplan, den er gemeinsam mit Felix entworfen hatte. Das Dach würde nur an einigen Stellen verglast sein, damit etwas Licht hineinfiel, der Rest der Überdachung musste mit Holzplatten geschlossen werden.

»Einige Fensterscheiben sind heil geblieben, die bauen wir aus und setzen sie ins Dach ein«, erklärte Felix. »Der Fußboden ist noch brauchbar – das ist wichtig, weil wir eine solide, ebene Fläche benötigen, um die Maschinen aufzustellen.«

Das Mittagsmahl musste in zwei Etappen eingenommen werden, weil Tilly nicht genug Suppenteller besaß, aber alle waren der Ansicht, dass es wunderbar schmeckte, und Gertrude sonnte sich im Lob der hungrigen Esser. Henny eröffnete ihnen während des Essens, dass sie inzwischen einige der Ringspinner, die früher den Melzer’schen Tuchwerken gehört hätten, in einer der stillgelegten Textilfabriken entdeckt habe.

»Klippi hat zwar behauptet, sie verkauft zu haben«, meinte Henny. »Aber ich habe nie einen Vertrag zu sehen bekommen. Ich denke, wir beanspruchen die Dinger einfach für uns und holen sie ab.«

»Aber doch nicht, bevor die Halle fertig ist …«, wandte Robert ein.

»So schnell wie möglich«, beharrte Henny. »Sonst holt sie ein anderer, und wir sehen unsere Maschinen nie wieder.«

Pläne wurden geschmiedet, Kitty meinte, man könne die Hilfe der amerikanischen Besatzung in Anspruch nehmen, um die Maschinen zu transportieren, Dodo machte sich Gedanken, woher die Rohbaumwolle kommen sollte, Felix rechnete schon einmal aus, wie viele Stoffballen man in welcher Zeit – unter den günstigsten Umständen – produzieren könnte.

Marie hatte die meiste Zeit zugehört und geschwiegen, jetzt wechselte sie einen langen Blick mit Kitty, die wusste, was Marie in ihrem Herzen bewegte.

»Das sind alles großartige Pläne, die sich gewiss verwirklichen lassen«, meinte Marie dann. »Und was sagt Paul dazu?«

Zunächst antwortete niemand. Dodo zuckte ärgerlich mit den Schultern, Henny rollte die Augen und betrachtete die Zimmerdecke, Felix knabberte an seinem Bleistift.

»Nicht viel«, meinte schließlich Robert. »Er scheint momentan recht mutlos zu sein.«

»Soso«, sagte Marie nachdenklich. »Ich frage nur, weil … schließlich ist es doch seine Fabrik, nicht wahr?«

»Allerdings …«

Man wechselte das Thema und sprach von der anstehenden Ausstellung, bei der Leo und Walter gemeinsam musizieren würden, Dodo erzählte von ihrem Dienst als Fliegerin, von ihrer Flucht gemeinsam mit Lilly und Wilhelm und wie sie von Hof zu Hof gewandert waren, um sich als Landarbeiter zu verdingen. Marie hörte zu, streichelte ihrer Tochter über das kurz geschnittene Blondhaar, und Kitty sah ihr an, wie groß ihre Sorge um die Tochter gewesen war.

»Leo hat sich nach Kurt erkundigt«, sagte Marie zu Dodo. »Er ist in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Frankreich. Wenn wir Glück haben, könnte er Anfang nächsten Jahres freikommen.«

Von Lisas Söhnen Hanno und Johannes hatte Leo noch nichts erfahren können, aber er hatte seiner Mutter geschrieben, dass er es versuchen würde.

Sie saßen bis zum frühen Abend zusammen, Tilly kochte Ersatzkaffee, und Marie stellte eine Dose mit Honigkeksen auf den Tisch. Sie stammte von Fanny Brunnenmayer, die – wie sich jetzt herausstellte – Humbert damit beauftragt hatte, sie zu Tillys Wohnung zu bringen. Ein kleines Willkommensgeschenk für die heimgekehrte Herrin der Tuchvilla.

»Wie wird es nun weitergehen?«, fragte Robert, als sie voneinander Abschied nahmen.

»Das ist doch ganz klar«, rief Kitty. »Maria, du ziehst wieder in die Tuchvilla ein. Ich habe schon alles organisiert, du kannst im Wintergarten …«

»Nein, Kitty«, sagte Marie mit Entschiedenheit. »Das ist lieb von dir – aber ich möchte die Tuchvilla vorläufig nicht betreten. Ich habe Paul einen Brief geschrieben. Würde ihn jemand von euch mitnehmen und Paul übergeben?«

Henny steckte das Schreiben ein, nickte Marie anerkennend zu und erklärte, die Sache erledigen zu wollen. Dann wünschten alle einander eine gute Nacht, und die Gäste gingen durch die stille, dunkle Stadt zurück zur Tuchvilla.

»Schon wieder ein Stromausfall«, knurrte Dodo. »So kriegen wir die Maschinen aber nicht zum Laufen.«

»Wenn morgen früh bloß nicht wieder das Wasser abgestellt wird«, seufzte Henny. »Heute Morgen hatte ich mich gerade eingeseift …«

»Ach, das sind doch alles Lappalien«, lachte Kitty. »Die Hauptsache ist, dass Marie wieder bei uns ist. Von jetzt an geht es aufwärts!«

Die Tuchvilla lag im Dunklen, nur in einigen Fenstern sah man schwachen Lichtschein, der von einer Petroleumlampe oder einer Kerze stammte. Auch Pauls Arbeitszimmer war beleuchtet; was er dort tat, konnte man nur vermuten.

»Der sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und brütet vor sich hin«, sagte Dodo.