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Kriminalhauptmeisterin Jessica Niemi bindet ihre schulterlangen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz und zieht ihre Lederhandschuhe an. Das Auto lässt einen hohen Signalton erklingen, als sie bei laufendem Motor die Beifahrertür öffnet.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagt Jessica zu dem Mann am Lenkrad.
»Ist wohl besser, wenn niemand weiß, wer dich hergebracht hat«, erwidert der Mann gähnend. Eine Weile schauen sie sich an, als ob sie beide auf einen Kuss warten. Doch keiner will die Initiative ergreifen.
»Das Ganze ist total falsch.«
Jessica steigt aus und kneift die Augen zusammen, als der eisige Wind an ihrem Gesicht leckt. Es hat stark geschneit, und die Schneepflüge, die bei der Schule dröhnten, haben es noch nicht bis ans Ufer geschafft. Jessica drückt die Tür zu und sieht vor sich ein großes, modernes Einfamilienhaus, einen schmalen Vorgarten, eine mannshohe Thujahecke und ein schmiedeeisernes Tor. Auf der Straße vor dem Haus stehen zwei Streifenwagen, und das ferne Geräusch einer Sirene lässt darauf schließen, dass weitere hinzukommen.
»Hallo.« Ein Mann in einem dicken blauen Overall kommt hinter dem Polizeifahrzeug hervor. »Koivuaho, Polizeimeister.«
»Jessica Niemi«, antwortet Jessica und zeigt ihre Dienstmarke vor. Die uniformierten Kollegen haben sie allerdings schon erkannt. Alle kennen den Affen, aber der Affe kennt keinen. Beiläufig hat sie auch ein paar Spitznamen aufgeschnappt. Detective Zimtzicke. Lara Croft. PILF .
»Was ist passiert?«, fragt sie.
»Eine verdammte Scheiße …« Koivuaho nimmt die dunkelblaue Mütze ab und reibt sich den kahlen Schädel. Jessica wartet geduldig, bis er sich gefasst hat. Sie wirft einen Blick auf die Haustür und sieht nun, dass sie halb offen steht.
»Der Alarm kam um Viertel nach zehn. Taskinen und ich waren in der Nähe und als erste Streife vor Ort«, sagt Koivuaho und winkt Jessica, ihm durch das Tor in den Vorgarten zu folgen.
»Wie lautete der Auftrag der Zentrale?«, fragt Jessica, während sie die Streifenbeamten, die bei den Autos Wache halten, mit einem knappen Nicken grüßt.
»Es hieß, jemand habe die Absicht, sich umzubringen. In diesem Haus«, sagt Koivuaho, als sie auf der Veranda ankommen. Auf dem Steinfußboden in der Diele hat geschmolzener Schnee eine Pfütze gebildet. Der Wind legt sich kurz, und Koivuaho fährt fort: »Die Tür stand auf, also sind wir reingegangen.«
Hier, auf der hell beleuchteten Veranda, sieht Jessica, wie erschüttert der stämmige Mann ist. Sie krümmt ihre schmerzenden Finger und versucht, sich anhand der wenigen Informationen, die sie kurz zuvor am Telefon bekommen hat, ein Bild von der Situation zu machen.
»Es ist also sonst niemand im Haus?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort kennt. Koivuaho schüttelt mit ernster Miene den Kopf und setzt die Mütze wieder auf.
»Wir haben beide Etagen durchsucht. Ich muss zugeben, dass mein Herz noch nie so gerast ist. Und dazu die verdammte Musik aus den Lautsprechern.«
»Musik?«
»Die passte irgendwie nicht dazu … Zu friedlich.«
»Wo ist die Leiche?«, fragt Jessica, als Koivuaho ihr die Basisausrüstung für die Tatortarbeit reicht: Handschuhe, Atemmaske und Überschuhe. Sie bückt sich und streift die blauen Überzieher über ihre schwarzen Turnschuhe. Das Holster mit der Pistole rutscht ein Stück nach unten.
»Wir haben uns bemüht, nichts zu beschmutzen«, sagt Koivuaho und hustet in die Hand. Jessica schiebt eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und tritt ins Haus. Sie geht an Gästetoilette und Küche vorbei und gelangt in ein geräumiges Wohnzimmer, dessen Wände ganz aus Glas sind und Meerblick bieten. Das Blaulicht, das durch die riesigen Fenster schimmert, lässt die Möbel im Takt des Herzschlags blau pulsieren. Das Zimmer hat zu viel Ähnlichkeit mit einem Aquarium, um gemütlich zu sein, doch als Jessica die am Esstisch sitzende Gestalt erblickt, verliert sie jedes Interesse an den ästhetischen Besonderheiten des Raums.
Sie hält kurz inne und versucht zu begreifen, warum die nahezu aufrecht auf dem Stuhl sitzende Frau so unnatürlich wirkt. Dann tritt sie ein paar Schritte näher und spürt, wie sich ihr Magen verkrampft.
»Hast du schon mal sowas Gruseliges gesehen?«, fragt Koivuaho irgendwo hinter ihr, aber Jessica hört nichts. Das Gesicht der Toten ist zu einer grotesken Grimasse verzerrt. Selbst ihre Augen lachen. Der Gesichtsausdruck steht absolut im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Frau tot ist. Sie trägt ein elegantes schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ihre gefalteten Hände liegen auf dem Tisch. Der Tisch ist leer. Kein Handy, keine Waffe. Nichts.
»Ich hab nach dem Puls gefühlt. Sonst hab ich nichts angefasst«, sagt Koivuaho, und nun dreht Jessica sich um und sieht ihn an. Dann tritt sie vorsichtig neben die Frau und beugt sich vor, um deren unnatürlich grinsendes Gesicht zu mustern.
»Was zum Teufel …«, murmelt sie so leise, dass es nur die Frau hören könnte, wenn sie noch am Leben wäre. Mit einem raschen Blick stellt sie fest, dass die nackten Füße unter dem Stuhl überkreuzt sind und die hochhackigen mattschwarzen Jimmy Choos ordentlich neben dem Stuhl stehen. Sowohl die Finger- als auch die Zehennägel sind schwarz lackiert.
»Koivuaho?«, sagt Jessica, während sie den Blick wieder auf das zwanghaft euphorische Gesicht der Toten richtet.
»Ja?«
»Ihr habt sofort einen Mord gemeldet. Allerdings sieht das hier ja auch nicht nach einem typischen Suizid aus.«
»Zum Teufel«, sagt Koivuaho schwer schluckend und tritt ein paar Schritte näher. Der Schweiß läuft ihm über die Schläfen, rinnt hinter die Ohren und verschwindet zwischen dem kräftigen Nacken und dem Kragen des Overalls. Er scheint den Blick des leblosen Wesens zu meiden und fährt unsicher fort: »Hat man dir nicht gesagt, dass der Anruf bei der Notrufzentrale …«
»Was ist damit?«, fragt Jessica ungeduldig, als er sekundenlang schweigt.
»Die Frau hat nicht selbst angerufen«, sagt Koivuaho und braucht nun einige Sekunden, um seine trockenen Lippen mit der Zunge anzufeuchten. Jessica weiß, was er als Nächstes sagen wird, und doch schaudert sie, als sie den Satz hört.
»Der Anruf kam von einem Mann.«