6
Mit raschen Schritten geht Jessica durch den kurzen Flur zur Haustür. Sie knipst die Klappe des Holsters auf und biegt die Waffe etwas zu sich hin, damit der Verschlussmechanismus sich öffnet. In ihren Schläfen pocht es, und der rhythmische, immer schneller werdende Herzschlag gibt ihr das Gefühl, von ihren automatischen Körperfunktionen aufrecht gehalten zu werden. Als sie die Tür erreicht hat, sieht sie drei uniformierte Polizisten, zwei Streifenwagen, den Kleintransporter der Kriminaltechniker sowie den eben eingetroffenen Leichenwagen. Dagegen fährt der Krankenwagen, der sich als überflüssig erwiesen hat, gerade ab. Die roten und blauen Blinklichter der Einsatzfahrzeuge dominieren die Farbwelt der nächtlichen Idylle, sie streichen über die benachbarten Grundstücke und Häuser. Hinter einigen Fenstern brennt Licht, dort ist man offenbar neugierig geworden.
Noch bevor Jessica den Mund aufmacht, merken die Streifenbeamten, dass etwas nicht stimmt.
»Alles in Ordnung?«
»Wo ist er hin?«, fragt Jessica.
»Wer?«
»Der Kriminaltechniker!«
»Ach der«, sagt einer der Polizisten und zeigt mit dem Daumen auf die abschüssige Straße. »Dahin ist er gerade …«
»Gelaufen?«
»Gegangen.«
»Einer von euch kommt mit mir!«, ruft Jessica und geht rückwärts ein paar Schritte die Straße hinunter. Die im Wind schaukelnden Straßenlampen beleuchten den Weg.
»War das …«
»Und du meldest sofort bei der Zentrale, dass der Täter gerade eben zu Fuß vom Tatort geflohen ist. Wir brauchen Verstärkung, und zwar plötzlich!«, befiehlt Jessica nachdrücklich und zieht die Dienstwaffe aus dem Holster. Bei der dramatischen Geste zuckt der bärtige Beamte zusammen, als begreife er erst jetzt, dass sie es ernst meint.
Sie gehen die schneebedeckte Straße hinab; die tiefen Reifenspuren im Schnee erinnern an Straßenbahngleise. Auf dem Bürgersteig ist eine dichte Reihe frischer Fußspuren zu erkennen. Der Mann im Schutzanzug ist tatsächlich gegangen: Beim Laufen wären die Abdrücke nicht so nah beieinander. Sie werden ihn einholen, sofern er nicht damit rechnet, dass sie ihm schon so bald folgen. Dennoch gerät Jessica in den wenigen Sekunden, während sie den Fußabdrücken zur Kreuzung folgen, aus der Fassung. Der Mörder weiß, dass sie ihm nachsetzen. Genau das hat er ja offenbar gewollt: Er hat sich vor Jessica aufgebaut und den Mund aufgemacht, statt in aller Ruhe das Haus zu verlassen. Wenn sie schon bei dieser Begegnung kapiert hätte, dass der Mann kein Kriminaltechniker ist … Jessica bekommt eine Gänsehaut. Sie hat dem Mann, der Maria Koponen getötet hat, in die Augen geblickt. Und jetzt ist er irgendwo hier draußen, frei und triumphierend.
»Weit kann er nicht sein«, sagt der stämmige Streifenbeamte. Jessica hält ihre Pistole mit beiden Händen, als sie sich der Kreuzung nähern. Eine hohe, verschneite Fichtenhecke versperrt die Sicht auf die Querstraße. Jessica verlangsamt ihre Schritte, gibt dann dem Polizisten neben ihr, dessen Bewegungen ein Spiegelbild ihrer eigenen sind, mit den Augen ein Zeichen. Sie späht an der Hecke vorbei, sieht aber nur die leere Straße und die beidseits parkenden Autos.
»Verdammt«, murmelt sie und sucht mit dem Blick nach Fußspuren. Es sind keine zu sehen. Die Straße ist kürzlich vom Schnee geräumt worden, und der Flüchtige hat möglicherweise seinen Weg auf der Fahrbahn fortgesetzt, wo er keine auffälligen Spuren hinterlässt. Jessica hört die Sirenen der näher kommenden Streifenwagen. Aus der Ferne dringt das dumpfe Poltern des Schneepflugs an ihr Ohr.
»Er kann sich hinter den Autos versteckt haben. Oder darunter«, flüstert der Polizist und nähert sich langsam dem ersten Fahrzeug.
»Das würde er nur tun, wenn er es eilig hätte, sich zu verbergen«, sagt Jessica in fast normaler Lautstärke.
»Hat er denn keine Eile?«
Jessica antwortet nicht. In Gedanken verflucht sie die langen Sekunden, die sie gebraucht hat, um zu begreifen, dass der Mörder sich unbehelligt vom Tatort entfernt hat, obwohl das Haus längst abgeriegelt war.
»Wie heißt du?«, fragt Jessica, während sie vorsichtig von einem Auto zum nächsten gehen.
»Hallvik. Lasse Hallvik. Wachtmeister.«
»Okay, Lasse. Check alle Autos. Aber sei auf der Hut. Verstärkung ist unterwegs«, sagt Jessica und beginnt, die hell beleuchtete Straße entlangzulaufen.
»Willst du ihn etwa allein verfolgen?«
Jessica gibt keine Antwort, sondern holt mit der einen Hand ihr Telefon hervor; in der anderen Hand hält sie immer noch die Pistole. Sie läuft mitten auf der Fahrbahn und weiß, dass Hallvik ihr Rückendeckung gibt. Zumindest solange sie auf diesem Teil der Straße ist.
»Hallo?« Die wachsame Stimme, die sich am Telefon meldet, gehört Jessicas Vorgesetztem, Kriminaloberkommissar Erne Mikson, der erst vor einer halben Stunde zum Ermittlungsleiter in diesem Fall ernannt wurde.
»Ich weiß nicht, ob die Zentrale die Nachricht weitergeleitet hat, aber wir müssen die Zufahrten zur Brücke nach Kulosaari sperren. Sofort«, sagt Jessica und spürt die Aufregung in ihrer Stimme.
»Was läuft dort?«
»Ich verfolge den Mörder zu Fuß.«
»Mit wem?«
»Allein.«
»Jessica!«
»Er ist gerade erst hier langgelaufen. Ich muss sehen … Verdammt, warte mal.« Jessica steckt das Handy in die Jackentasche und packt ihre Glock wieder mit beiden Händen. Einen Moment lang ist sie sicher, dass sie einen Menschen auf der Erde sieht. Doch der weiße Overall flattert leer auf der Straße, wie ein Michelin-Männchen, dem man mit einem Messerstich die Luft abgelassen hat. Das eine Hosenbein weht im Wind, als wolle es die Richtung anzeigen, in die sein Besitzer sich höchstwahrscheinlich entfernt hat. Jessica blickt sich um und sieht den Polizisten, der sich hundert Meter hinter ihr zwischen den Autos bückt. Sie steckt die Fingerspitzen in den Mund und pfeift, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
»Lasse! Pass auf, dass keiner hier drüberfährt!«, ruft sie, ohne zu wissen, ob der Kollege sie im Gegenwind hören kann. Hallvik steht jedoch auf und eilt herbei. Jessica geht weiter und denkt über ihren nächsten Zug nach, als sie hört, dass das Sirenengeheul lauter wird. Ein unbestimmbarer Instinkt lässt sie stehen bleiben und flüstert die unangenehme Wahrheit: Der Mann wird nicht gefasst. Nicht in dieser Nacht. Jessica stößt einen tiefen Seufzer aus. Dann holt sie das Handy wieder aus der Tasche.
»Erne?«
»Verdammt nochmal, Jessica! Ich dachte schon, dass …«
»Ich hab’s vergeigt, Erne.«
Sie hört die Stimme ihres Vorgesetzten, doch ihr Verstand ist bereits auf das kreisende Karussell gesprungen, auf dem während der Fahrt kein neuer Gedanke Platz findet. Der Mann, der das Lächeln auf Maria Koponens lebloses Gesicht gezaubert hat, beobachtet sie womöglich aus der tiefen Dunkelheit heraus. Er ist nirgends zu sehen. Dennoch ist er überall.