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Roger Koponen hockt am Tisch, die Finger um sein leeres Wasserglas gelegt, und starrt auf die Stirn der Frau, die ihm gegenübersitzt. Kurz zuvor hat der Sozialarbeiter den Raum verlassen und gesagt, er warte nebenan, falls Roger über den Vorfall reden wolle. Kriminalkommissarin Sanna Porkka greift nach der Karaffe und schenkt Roger Wasser nach.
»Ich sollte jetzt wohl nach Helsinki fahren«, murmelt Roger, ohne seinen glasigen Blick von der Decke abzuwenden.
»Verstehe«, sagt Porkka und lehnt sich gemächlich zurück. »Vorher müssten Sie allerdings einen Alkoholtest machen. Vermutlich haben Sie ja beim Abendessen einiges getrunken.«
»Das darf ja wohl nicht wahr sein«, schimpft Koponen ungläubig.
»Eigentlich wäre es uns lieber, wenn Sie über Nacht in Savonlinna bleiben würden, wie ursprünglich geplant.«
»Warum?«
»Was Sie gerade erfahren haben, wäre für jeden ein Schock. Sie haben eine lange Fahrt bei schlechten Straßenverhältnissen vor sich, und in Helsinki gibt es nichts, wobei Sie heute Nacht helfen könnten.«
»Stimmt. Dafür ist es wohl zu spät«, sagt Roger Koponen fast flüsternd und lächelt schwach, aber nur mit dem Mund. Porkka weiß, dass Angehörige sich oft seltsam und inkonsequent verhalten. Aus ihren Reaktionen kann man selten brauchbare Schlüsse ziehen. Der starre, funkelnde Blick, die blasse Haut und die beschleunigte Atmung zeugen jedoch von einem echten Schock.
»Hat man den Mann gefasst?«, fragt Roger Koponen nun etwas resoluter und setzt mit zitternden Händen das Wasserglas an den Mund. Sanna Porkka überfliegt ihre Notizen, um zu überprüfen, wie viel dem Ehemann des Opfers bisher mitgeteilt wurde. Offenbar wurde Roger Koponen nur darüber informiert, dass seine Frau in ihrem Haus im Helsinkier Vorort Kulosaari tot aufgefunden wurde und dass die Polizei von einem Verbrechen ausgeht. Porkka konzentriert sich wieder auf Koponens Frage.
»Wieso glauben Sie, dass es sich um einen Mann handelt?«, fragt sie zurück und bemüht sich, den Eindruck zu vermeiden, sie wolle ihr Gegenüber verhören. In diesem Stadium hat die Polizei keinen Grund zu der Annahme, dass Roger Koponen irgendetwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hat, aber es kann schwierig werden, diese Alternative endgültig auszuschließen, wenn man bei dem Verhör Flüchtigkeitsfehler macht. Eigentlich ist Sanne Porkka nicht an den Ermittlungen beteiligt, sondern hat nur die Aufgabe, den prominenten Autor, der seine Frau verloren hat, eine Weile im Auge zu behalten. Die Versuchung, ihm einige fundamentale Fragen zu stellen, ist jedoch zu groß.
»Ich weiß nicht. Ist das nicht ziemlich wahrscheinlich?«, antwortet Roger Koponen langsam und stellt das Glas auf den Tisch. Sein Blick wird ein wenig klarer, als wäre er stolz auf seine Bemerkung. Porkka presst die Lippen zusammen und nickt. Wenn man an die Statistiken denkt, hat Koponen recht. In Finnland ist der Mörder in neun von zehn Fällen ein Mann. Der Anteil ist noch größer, wenn Täter und Opfer sich nicht gekannt haben.
»Die einzige Bestrebung ist jetzt, den Täter zu fassen. Und die Kollegen in Helsinki glauben, dass Sie ihnen per Computer am besten helfen können. Hier in Savonlinna auf der Polizeistation, wo wir alles für Sie bereitstellen, was Sie wollen. Nicht im Auto, wo Sie infolge von Müdigkeit und Erschütterung Ihre eigene Sicherheit und möglicherweise auch die anderer Verkehrsteilnehmer gefährden«, sagt Porkka, kneift die Lippen zusammen und hofft, dass sie empathisch genug wirkt. Dann gibt sie das Passwort in den Laptop ein.
»Wie soll ich am Computer nützlich sein?«, fragt Roger Koponen stirnrunzelnd.
»Erne Mikson, der Ermittlungsleiter in Helsinki, möchte über Skype mit Ihnen sprechen«, antwortet Porkka ruhig und verschränkt die Arme auf dem Tisch. Roger Koponen blinzelt ein paarmal, als wäre der Vorschlag völlig absurd. Seine Körpersprache lässt jedoch keine direkte Weigerung erwarten.
»Per Skype?«, murmelt er und scheint intensiv über die Idee nachzudenken.
»Wie gesagt, das einzige Ziel ist es …«
»Gerade eben haben Sie von Bestrebung gesprochen.«
»Bitte?«
»Sie haben vorhin gesagt, die einzige Bestrebung sei es, den Mörder meiner Frau zu fassen. Nicht das Ziel«, erklärt Koponen und kratzt sich an der Augenbraue. Eine kleine Hautschuppe schwebt herunter und landet neben dem Glas auf dem Tisch.
»Richtig. So habe ich mich wohl ausgedrückt«, sagt Porkka und bemüht sich, verständnisvoll zu lächeln. Sie überlegt, ob es besser wäre, den Mann in Ruhe zu lassen. Doch die Zeit drängt. Vor einer halben Stunde hat sie einen Bericht bekommen, wonach der Verdächtige immer noch auf der Flucht ist. Der Minutenzeiger der viereckigen Wanduhr springt auf die Zwölf.
»Entschuldigen Sie mich, ich bin gleich wieder hier«, sagt sie. Mit einigen Sekunden Verzögerung nickt Koponen zustimmend.
Sanna Porkka schließt die Tür hinter sich und bedeutet dem diensthabenden Polizisten, sie im Auge zu behalten. Sie wirft einen Blick auf den jungen Sozialarbeiter, der vor dem geräuschvoll Kaffeebohnen mahlenden Getränkeautomaten steht, und geht in ihr Dienstzimmer.
»Ist Koponen bereit?«, fragt Erne Miksons müde Stimme am Telefon. Im Hintergrund ist Motorengeräusch zu hören.
»Er ist ziemlich neben der Spur.«
»Trotzdem müssen wir mit ihm reden.«
»Natürlich.« Porkka tritt ans Fenster. Die aus der Dunkelheit hereinstarrenden kahlen Birken winken mit ihren mageren Ästen ins Warme.
»Es wäre natürlich besser, von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu reden«, beginnt Erne, und Sanna Porkka hört eine Folie rascheln. Dann verstummt er und konzentriert sich darauf, Kaugummi zu kauen. Schließlich fährt er heiser fort: »Es kommt mir irgendwie respektlos vor, einen frisch Verwitweten per Skype zu befragen, aber wir müssen sofort so viele Informationen bekommen wie nur möglich.«
»Okay«, sagt Porkka und hat das Gefühl, dass sie das Wort gewählt hat wie ein unsicherer Teenager, der die Sprache der Erwachsenen zwar versteht, aber nicht sprechen kann.
»Fünfzehn Minuten. Dann bin ich am Computer. Kümmere dich bis dahin um den Mann.«
»Sorry, noch was …«, wirft Porkka ein, bevor der Kriminaloberkommissar auflegen kann.
»Ja?«
»Roger Koponen … Er brennt darauf, seine Frau zu sehen. Wenigstens ein Foto vom Tatort.«
»Natürlich«, sagt Erne nach kurzem Schweigen. Das Motorengeräusch erstirbt, und Sanna Porkka glaubt zu hören, wie der Mann etwas ausspuckt. Dann wird die Tür des Autos zugeschlagen, ein Feuerzeug knackt, ein tiefer Atemzug verrät, dass der Kommissar seine Lunge mit Rauch füllt. »Klar, dass er das will. Aber glaub mir, es ist besser, damit noch eine Weile zu warten.«