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Jessica Niemi zieht neue Überschuhe, einen weißen Overall, Handschuhe und Atemschutz an. Plötzlich fühlt sie sich in dem Haus schutzlos, obwohl es nach dem Zwischenfall gründlichst unter die Lupe genommen wurde. Sie geht erneut ins Wohnzimmer und sieht, dass die Ermittler ihr Suchgebiet um den Tisch herum ausgeweitet haben. Maria Koponen sitzt getreulich auf ihrem Platz am Tischende, auf ihrem Gesicht liegt weiterhin das irre, triumphierende Grinsen. Es sieht aus, als wäre die Hausherrin die Einzige, die die Nachricht über den Mord nicht bekommen hat.
Normalerweise wäre die Leiche in dieser Phase bereits in einen Sack gesteckt und weggebracht worden, aber offenbar hängen zu viele Fragen in der Luft. Fragen, deren Beantwortung der Abtransport des leblosen Frauenkörpers entscheidend erschweren könnte.
»Haben wir irgendeine Ahnung, was hier passiert ist?«, fragt Jessica. Mit einer Handbewegung hat sie den Leiter der Spurensicherung angehalten, den sie mit Sicherheit als Mitglied des Teams identifiziert hat. Nach der Begegnung mit dem verkleideten Mörder ist sie auf der Hut.
Der gutaussehende Mann heißt Harju und sieht Jessica aus seinen braunen Augen beruhigend an.
»Eine ziemlich schwache Ahnung«, seufzt er und nimmt den Atemschutz ab.
»Nichts?«
»Sicher ist nur, dass nicht eingebrochen wurde. Der Täter ist durch die Schiebetür im Wohnzimmer hereingekommen. Und hat sie hinter sich zugeschoben. Sie war nicht verriegelt und ist immer noch offen.«
»Nicht verriegelt«, murmelt Jessica.
»Oder Opfer und Täter kannten sich, und das Opfer hat ihn ins Haus gelassen.«
»Irgendwie schwer zu glauben. Der Täter hatte einen weißen Overall dabei und«, sagt Jessica, geht an Harju vorbei und fährt fort: »und irgendwas, womit er dieses Kunstwerk geschaffen hat.«
»Das Gesicht der Frau ist hart wie Stein.«
»Was?«
»Es ist quasi in diese Position gezwungen. Schwer zu sagen, ob …«
»Hat er ihr was injiziert?«, fragt Jessica. Sie kneift die Augen zusammen und merkt jetzt, dass Maria Koponens Kopf leicht schräg liegt. So muss er die ganze Zeit gelegen haben.
»Vermutlich. Aber das klärt sich erst bei der Obduktion.«
»Sag mir sofort Bescheid, wenn ihr etwas Überraschendes entdeckt.«
»Natürlich.«
»Danke«, sagt Jessica und macht auf dem Absatz kehrt. Die Haustür, durch die Licht und Geräusche in den Flur dringen, steht immer noch offen, und im Haus ist es inzwischen verdammt kalt. Auch die mit knappen Pinselstrichen gemalten weißen Bilder an den weißen Wänden verströmen keine Wärme, sondern betonen eher die frostige Stimmung. Jessica geht erneut am Plattenregal vorbei in den Flur und betritt nun zum ersten Mal die geräumige Küche. Zwischen schwarzen Schränken und Schubladen befindet sich eine lange, aus einem einzigen Marmorblock gehauene Arbeitsfläche. Jessica legt ihren vom Handschuh geschützten Finger auf den kalten Stein. Alles ist blitzsauber. Poggenpohl . Das Puzzle aus Marmor, hochwertigem Holz, Küchenmaschinen, Schrauben und Muttern, das den Kern dieses Hauses bildet, hat doppelt so viel gekostet, wie ein normaler Polizist im Jahr verdient. Das weiß Jessica, weil sie in ihrer Wohnung eine fast identische Küche hat. Sie ist ihr Augapfel und einer von zig Gründen, weshalb sie ihre Kollegen nie zu sich nach Hause einladen könnte. In ihr richtiges Zuhause.
Sie geht zurück ins Wohnzimmer und lässt den Blick langsam von den nach Westen gehenden Fenstern über den Kamin zu dem Bücherregal wandern, das eine gewaltige Menge gebundene Geschichten und Gedanken birgt. Das literarische Angebot des Regals wirkt auf den ersten Blick unerhört einseitig. Auf jedem Buchrücken prangt derselbe Männername. Die Bände unterscheiden sich in Größe und Farbe, aber jeder einzelne ist der Feder desselben Mannes entsprungen. Roger Koponen . Als Jessica näher herantritt, merkt sie, dass es sich nicht um enorme Produktivität handelt, sondern eher um Streuung. Die meisten Bücher sind Übersetzungen. Witch Hunt, Häxjakt, Hexenjagd, Caccia alle streghe . Jessica weiß, dass die Thriller des Mannes weltweit erfolgreich sind. Das hat den Koponens all das ermöglicht, das prächtige Haus am Meer und den modernen Komfort, wie etwa die deutsche Küche, die so viel kostet wie ein Familienauto. Jessica spürt einen Schmerz in der Schläfe, einen Hinweis darauf, dass es nicht ihre Aufgabe ist, über das Fundament des gemeinsamen Lebens der Koponens nachzudenken, sondern darüber, was dieses Leben gerade zerstört hat.
Der Kühlschrank knackt, als der Kompressor sich automatisch einschaltet. Leises Summen füllt die Küche. Jessica nimmt ein in Augenhöhe stehendes englischsprachiges Werk aus dem Regal und betrachtet den Einband. Die Frau, die an einen Pfahl gebunden in den Flammen steht, und der in gotischen Lettern geschriebene Titel Witch Hunt erinnern an das Poster einer Heavy-Metal-Band. Jessica wirft einen Blick auf den Umschlagrücken. Over 2 million copies sold worldwide . Sie erinnert sich an das finnischsprachige Taschenbuch, das auf ihrer Kommode liegt. Ein Freund hat es ihr schon vor Jahren geschenkt, aber sie hat es immer noch nicht gelesen, nicht nur aus Zeitmangel und Trägheit, sondern auch deshalb, weil sie gewisse Vorurteile gegen Fiktion hegt; in ihrem Kopf hat sich der Gedanke eingenistet, dass man beim Lesen immer etwas Neues und Nützliches lernen sollte. Dass Storys, die jemand aus seiner Fantasie geschaffen hat, in dieser hektischen Welt reine Zeitverschwendung sind.
Ihre Fingerspitzen schwitzen in den Gummihandschuhen. Serial killer … going after witches . Jessica begreift noch nicht ganz, warum ihre Gedanken am Klappentext hängengeblieben sind. Nach einer Weile dreht sie das Buch wieder um und starrt auf das Titelbild. Das Buch fällt auf den Boden. Jessica hat es nicht absichtlich fallen gelassen, es rutscht ihr aus den Fingern, als sie beginnt, die anderen Ausgaben durchzusehen. Japanisch, polnisch, in kyrillischer Schrift. Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die Verlage in jedem Land ein anderes Titelbild gewählt. Doch fast jedes zeigt eine leidende Hexe. Eine Ausnahme machen nur die wenigen Übersetzungen, auf deren Titelbild nahezu identische winterliche Meereslandschaften prangen, der weiße, vereiste finnische Meerbusen. Nordic noir . Die meisten zeigen jedoch einen Scheiterhaufen. Flammen. Eine junge Frau im schwarzen Gewand, die sich vor Schmerzen windet. Auf dem Einband der deutschsprachigen Hexenjagd ist das Opfer an Händen und Füßen an eine Art Folterbank gefesselt. Feierlich. Und als Jessica die Frau auf dem Titelbild genauer ansieht, merkt sie, dass das, was sie eben noch als Qual interpretiert hat, ein groteskes Grinsen ist. Das Lächeln der Frau hat etwas Wahnsinniges, es wirkt irgendwie zwanghaft selbstgefällig. Jessica spürt ihren Puls, das Blut rauscht ihr in den Ohren. Als Erne Mikson sich am Telefon meldet, braucht sie einen Moment, um zu begreifen, dass sie in diesen Sekunden instinktiv die Nummer ihres Vorgesetzten gewählt hat.
»Hallo? Jessica? Gibt es schon …«
»Erne, hast du Koponens Bücher gelesen?«, unterbricht sie ihn und hört selbst, wie atemlos ihre Stimme klingt.
»Kann ich nicht behaupten.«
»Verdammter Mist, Erne. Allem Anschein nach hat der Mörder sie gelesen.«