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I’m sorry for your loss . Die Worte hallen so lebendig in Jessicas Kopf wider, dass sie beinahe das Gefühl hat, sie hätte sie ausgesprochen. Sie geht an dem sehnigen Mann mit der olivfarbenen Haut vorbei, der auf die Knie gesunken ist und seinen vor Trauer gebrochenen Blick auf den weißen Stein mit eingraviertem Namen heftet. Der Mann lässt leise schluchzend den Kopf sinken und reibt sich mit dem Daumen die tränenfeuchten Augen. Unter den zum Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren schimmert sein tätowierter Nacken durch. Der lose Ausschnitt enthüllt sonnengebräunte, muskulöse Schultern. Dann kehrt der Blick des Mannes von seinen Knien zum Grab zurück, seine Fingerspitzen berühren die blumengeschmückte Klappe, hinter der die eingeäscherte Tote ruht. Jessica hat den Mann bemerkt, als sie den von Gräbern gesäumten Plattenweg entlangging, doch erst jetzt, aus der Nähe, fällt ihr auf, wie attraktiv er ist.
I’m sorry . Wieder bleiben ihr die Worte in der Kehle stecken, und Jessica geht an dem Mann vorbei, ohne dass er sie bemerkt, geschweige denn den Blick hebt. Sie schaut noch einmal kurz zurück und ist erleichtert, weil sie nicht aus einer spontanen Eingebung heraus ihre Nase in etwas gesteckt hat, das sie nichts angeht. Das wäre peinlich gewesen. Dennoch spürt sie, dass sie etwas vermisst. Die Augen des Mannes. Er hat ein klar geschnittenes, schönes Profil, doch seine Augen hat sie nicht gesehen. Sie müssen braun und melancholisch sein.
Es ist drückend heiß, die Elektrizität der Luft ist auf der Haut wie eine feuchte Berührung zu spüren. Die in der Ferne aufziehenden schwarzen Wolken künden ein Gewitter an. Vor etwa zwanzig Minuten hat Jessica sich auf dem Deck eines Vaporettos an die Reling gelehnt, den Himmel betrachtet, der sich am Horizont dunkel färbte, und gedacht, dass Regen die auf über hundert Inseln errichtete Stadt noch anheimelnder machen würde.
Sie unterbrach ihre Fahrt von Murano ins historische Zentrum von Venedig, als das Vaporetto bei der von einer hohen roten Mauer und Zypressen gesäumten Friedhofsinsel San Michele Halt machte, und stieg kurz entschlossen aus.
Nun schlendert sie gemächlich zwischen den gewaltigen weißen Wänden einher und staunt über den Anblick. Auf San Michele ruhen die Toten in oberirdischen Katakomben, stellenweise sogar in neun Etagen übereinander wie die Bewohner eines Hochhauses. Die Gesamtheit ist jedoch unbeschreiblich schön, fast jedes Türchen ist mit Blumen und dem in den Stein eingelassenen Foto des Toten geschmückt. Viele schauen grimmig drein, vor allem die Schwarzweißfotos wirken streng, aber es gibt auch viele lächelnde Gesichter. Hier und da wurde für das Grab ein albern und gezwungen wirkendes Bild gewählt, was die letzte Ruhestätte irgendwie peinlich, fast traurig erscheinen lässt. Vielleicht haben die Angehörigen zur Erinnerung an ihren Verstorbenen ein Bild ausgesucht, das diesen Menschen so zeigt, wie man ihn in Erinnerung behalten will. Oder vielleicht gab es einfach nicht von jedem genug Fotos.
Nun donnert es zum ersten Mal, und Jessica spürt einen warmen Windhauch im Gesicht. Sie steigt die kurze Treppe zu dem Sandweg hinauf, den eine halbkreisförmige Reihe von Grabgewölben säumt, und betrachtet die in der Mitte aufragenden Bäume, deren Blätter in den gelegentlichen Windstößen tanzen. Sie liebt Zypressen und Pinien und ganz besonders die zwischen ihnen wachsenden Palmen, bei deren Anblick sie an ihren Vater, ihre Mutter und ihren kleinen Bruder denken muss.
Der Kies knirscht unter ihren Schuhen, aber als Jessica stehen bleibt, herrscht völlige Stille. Selbst die Taube, die eben noch im Verborgenen gegurrt hat, ist verstummt.
Jessica erinnert sich an die Verbotsschilder am Eingang zum Friedhof. Vietato fotografare, bere e mangiare . Sie blickt sich um, keine Menschenseele ist zu sehen. Den Proviant in ihrer Tasche wird sie erst im Vaporetto auf der Fahrt nach Venedig essen, aber sie möchte eine kleine Erinnerung an diese einzigartige Insel mitnehmen. Sie hebt die Kamera, die ihr um den Hals hängt, und knipst ein paar Fotos von dem schönen Platz und den Grabgewölben, die ihn umgeben. Dann lässt sie die Kamera sinken, geht an dem bogenförmigen Gebäude entlang und späht vorsichtig in ein offenes Gewölbe. Alles ist stilvoll und gepflegt, mit Patina überzogen.
Als Jessica an der Tür steht, fällt ihr Blick auf eine lebensgroße Frauenfigur, unter deren an die Brust gedrückten Händen ein Dornenkranz hervorlugt. Die Figur schaut wehmütig schräg nach unten, als denke sie über die Antwort auf eine schwierige Frage nach, und ihre weißen Augen haben etwas Unwiderstehliches an sich. Jessica spürt den brennenden Wunsch, tiefer in das Gewölbe hineinzugehen, die Wange der Jungfrau Maria zu berühren und den Kontrast zwischen dem warmherzigen Gedanken und der kalten Realität zu spüren. Vorsichtig tritt sie ein und merkt, dass die Luft zwischen den dicken Steinmauern kühler ist als draußen. Sie bindet ihren dünnen Mantel enger und geht näher an die weiße Marmorwand heran, in die mit goldenen Lettern die Namen der Verstorbenen eingelassen sind. Manche Todestage liegen noch nicht lange zurück, einige sind nicht vermerkt. Die Menschen haben sich einen Platz neben ihren Liebsten reserviert. Der Gedanke ist gleichzeitig schön und schaurig.
Jessica streckt die Hand aus und legt ihre Fingerspitzen auf die Fingerknöchel der Statue, vorsichtig, damit ihre lackierten Fingernägel die schneeweiße Haut der heiligen Jungfrau nicht versehentlich zerkratzen. Einen flüchtigen Moment lang spürt sie eine Art Zusammengehörigkeit, als würden sich zwei ganz verschiedene Welten und Epochen miteinander verknüpfen, und einen Trost, den nur geteilte Trauer hervorbringen kann. Jessica legt ihre Finger um die der Statue, die Marmorfinger fühlen sich nicht kalt an, sie sind genau das, wonach sie sich gesehnt hat. Der Rückhalt, den sie geben, ist ehrlich und ungeheuchelt. Der intime Moment mit Maria ist wie eine Droge, er schlägt mit voller Kraft in ihr Bewusstsein ein, wie einer der Blitze des in der Ferne grollenden Gewitters. Niemand kann verstehen, was für ein Gefühl es ist. Niemand kann trösten. Alles ist hier und jetzt.
Jessica seufzt tief auf, lässt Marias Finger zögernd los und streichelt ihr mit dem Handrücken über die glatte Wange. Danke. Und entschuldige, dass ich hier eingedrungen bin.
Im selben Moment ist draußen eine unheilverkündende Stimme zu hören. Jessica geht rasch hinaus, sieht aber niemanden. Von irgendwoher dringt bebendes, wütendes Italienisch an ihre Ohren. Jessica versucht festzustellen, woher es kommt. Es scheint von allen Seiten zu ertönen. Die Friedhofslautsprecher , geht ihr auf. Die hallende Botschaft aus den Lautsprechern wirkt einschüchternd. Sie erinnert Jessica an Filme über den Zweiten Weltkrieg, an im Gleichschritt marschierende Soldaten und zum Nazigruß erhobene Hände. Jessica blickt sich erschrocken um, vielleicht hat sie gegen die Vorschriften verstoßen, indem sie das Grabgewölbe betreten hat. Doch bei genauem Hinhören begreift sie, dass es sich um eine Durchsage vom Tonband handelt: Der Friedhof wird bald geschlossen. Das nächste Vaporetto ist vermutlich das letzte für heute.