14
Die Lichtkegel der Taschenlampen schweifen durch den Garten, als die Polizisten zum Ufer laufen. Über dem Meer kreisen in einiger Entfernung zwei Hubschrauber, die nach Spuren auf dem Eis suchen.
»Geht hintereinander, und passt auf, wo ihr hintretet!«, ruft Jessica, den Blick starr nach vorn gerichtet. Sie stapfen am linken Rand des Grundstücks entlang, nehmen denselben Weg, auf dem die Spurensicherung und die Streife schon einmal ans Ufer gegangen sind. Die Schuhabdrücke, die bereits für die Ermittlungen fotografiert und kopiert wurden, verlaufen in der Mitte des großen Gartens, wo sich der Pfad befindet.
Jessica stoppt die anderen, indem sie die Faust in die Luft streckt, und verlangsamt ihre Schritte, als sie die zugefrorene Wasserlinie erreichen. Das Ufer ist voll von halb zugeschneiten Abdrücken, die wahrscheinlich vom Täter stammen. Laut Bericht der Spurensicherung führen sie vom Ufer der Koponens zu einer geräumten Toureneislaufbahn in zweihundert Meter Entfernung.
»Irgendwo ist hier ein Konstrukt, das sie festhält«, sagt Jessica und bleibt am Rand der Eisfläche stehen. Polizeimeister Lasse Hallvik tritt neben sie. Er wirkt völlig gelassen, als wäre er zu der Überzeugung gelangt, dass der Fall nicht noch seltsamer werden kann.
»Ein Konstrukt?«, fragt er und legt sich die lange Taschenlampe auf die Schulter.
»Das hat Koponen gesagt. Sonst wäre es unmöglich, sie zu finden.«
»Was?«
»Die zweite Leiche.« Jessica atmet die schneidend kalte Luft ein. Ihr Blick wandert am Ufer entlang, in dessen Mitte sich ein hölzerner Steg befindet. Einige Meter weiter sind zwei rote Bojen mit weißen
Schneehauben im Eis gefangen. Die Abdrücke des Täters bilden eine schnurgerade Linie, sie kommen aus südlicher Richtung, führen am Steg entlang und steigen ans Ufer. Dann verlaufen sie im Zickzack in einem Radius von zehn Metern unmittelbar an der Wasserlinie.
»Wartet hier«, sagt Jessica und betritt das Eis. Etwa drei Meter vom Ufer entfernt entdeckt sie eine Fläche, vielleicht einen Quadratmeter groß, auf der die Schneedecke zertrampelt ist.
»Verdammt nochmal«, flüstert sie und nähert sich vorsichtig dem, was ihr plötzlich wie eine Falle erscheint. Es ist ein Eisloch. Irgendwer hat sich bemüht, es so gut wie möglich zu verbergen. In Koponens Buch ist die Hexe im Eis verankert.
Ernes Worte klingen ihr in den Ohren.
»Hallvik«, ruft Jessica und beugt sich über den feuchten Schnee. Das in das Eis gesägte Loch ist kaum größer als ein Wasserball. Sie hört, dass Hallvik sich nähert, doch es drängt sie, sofort zu handeln. Sie versucht, ihre Finger zwischen die feste Eisfläche und den Eisklumpen auf dem Loch zu schieben, doch das Wasser ist bereits gefroren.
»Probieren wir’s mal damit«, meint Hallvik und nimmt ein Universalwerkzeug von seinem Gürtel, das sich in seinen erfahrenen Händen schnell in ein Messer verwandelt. Er kniet sich neben Jessica aufs Eis, schlägt ein paarmal kräftig zu, und schon bald hebt sich der Klumpen wie ein Brunnendeckel.
»Verdammte Scheiße«, flucht er. Fassungsloses Entsetzen liegt auf seinem Gesicht.
Jessica schluckt und spürt, wie es ihr kalt über den Rücken läuft. Ihr Kollege betrachtet das in dem Eisklumpen verborgene Konstrukt, ein Stück Plastik, an das ein dickes Seil gebunden ist. Jessica dreht sich der Magen um.
»Bitte die Jungs um Hilfe«, sagt sie leise. »Wir müssen sie hochziehen.«
Hallvik klappt das Werkzeug zusammen und hängt es an den Gürtel, wobei er mit einer Hand das Seil festhält. Dann steht er auf und reicht es Jessica.
»Einer von euch muss uns hier helfen«, hört sie ihn rufen. Das Seil ist nass und eiskalt. Sie wickelt es um ihre behandschuhte Faust und betrachtet das Eisloch: Das Wasser darin ist schwarz, wie flüssige
Finsternis. Irgendwo dort unten im eiskalten Wasser ruht ganz offensichtlich eine Tote. Zwischen ihr und Jessica ist nur das Seil. Die Brücke zwischen Leben und Tod. Obwohl Jessica eine Daunenjacke anhat, friert sie plötzlich.
»So, gib mal her.« Hallvik reißt sie aus ihren Gedanken. Als sie ihm das Seil reicht, spannt es sich unheilverkündend. Dort ist tatsächlich eine Leiche.
Jessica steht auf und spürt erst jetzt, dass die Kälte der Eisdecke durch den dünnen Stoff ihrer Jeans gedrungen ist und ihre Knie taub gemacht hat. Hallvik und ein zweiter Uniformierter ziehen das Seil aus dem Wasser. Die Taschenlampen beleuchten die Operation von allen Seiten. Das Ganze erinnert an das Hochziehen einer Fischreuse. Das Seil ist lang, bald liegt ein Meter auf dem Eis, dann sind es zwei. Und schließlich kommt etwas Dunkles, Algenartiges an die Oberfläche. Die Frau hat pechschwarze Haare, wie Maria Koponen.