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Die Frau hinter dem Tisch, mittleren Alters und mit spitzen Wangenknochen, sieht Jessica abschätzend an. Jessica hat ihr gerade erklärt, dass sie auf Colombanos Einladung gekommen ist.
»Für Sie sind zwei Karten reserviert«, sagt die Frau auf Italienisch.
»Ich … bin allein.«
»Natürlich«, erwidert die Frau mit gekünsteltem Lächeln. »Willkommen.«
Jessica steckt die Eintrittskarte und das Programmheft in ihre Handtasche, geht an der Ticketverkäuferin vorbei und spürt ihren verächtlichen Blick im Nacken.
Im Konzertsaal ist es angenehm kühl. Der Raum ist dekorativ und kirchenartig, aber ohne religiöse Objekte und Gemälde. Allmählich strömen Menschen herein, manche in Polohemden und Shorts, andere so festlich gekleidet, als kämen sie zur Premiere einer großen Oper. Der hohe Raum füllt sich mit der Sinfonie eines vielsprachigen Stimmengewirrs. Die überwiegende Mehrheit des Publikums sind unverkennbar Touristen.
Jessica hat ein dunkelblaues Kleid und hochhackige Schuhe angezogen. Sie weiß, dass sie gut aussieht, ist sich aber nicht sicher, ob sie sich für das Konzert oder einzig und allein für Colombano herausgeputzt hat.
Als sie sich im Hotelzimmer die Wimpern getuscht hat, war sie plötzlich unsicher. Sie erinnerte sich wieder an den weinenden Colombano und an den Ring an seinem linken Ringfinger. Dass der Mann zwei Freikarten für sie organisiert hat, bedeutet wohl, dass er keinen Anschluss sucht. Ist es eigenartig, allein beim Konzert aufzutauchen, wird es verraten, dass sie gelogen hat, als sie von ihren Freunden sprach? Wird Colombano sie im Publikum erkennen?
Sie grüßen? Werden sie die Möglichkeit haben, nach dem Konzert einige Worte zu wechseln?
Jessica sieht sich die Eintrittskarte an. Die Sitzplätze sind nicht nummeriert. Die ersten Reihen haben sich bereits gefüllt. Den größten Teil des Publikums scheinen ältere Jahrgänge zu bilden, aber es sind auch einige junge Pärchen dabei. Jessica wählt einen Platz am Gang in der Mitte des Saals, setzt sich und legt die Handtasche auf ihren Schoß. Auf der Bühne sieht sie vier Streichinstrumente: Der Kontrabass und das Cello lehnen an ihren Ständern, auf den Stühlen liegen zwei Geigen.
Jessica spürt einen säuerlichen Geschmack im Mund. Auf dem Weg zum Konzertsaal hat sie in einem Café eine Flasche Prosecco bestellt, zwei Glas daraus getrunken und den Rest in der venezianischen Abenddämmerung zurückgelassen. Das Getränk wärmt ihr den Magen und beruhigt sie wie die Hand eines Freundes auf der Schulter.
Eine weitere Viertelstunde vergeht, bis auch die letzten Konzertbesucher Platz genommen haben. Das Konzert ist nicht ausverkauft, hier und da bleiben Plätze frei. Endlich dringt ein Tonzeichen aus den Lautsprechern. Das Licht wird ein wenig gedämmt, und das Stimmengewirr bricht so abrupt ab, als hätte man es ausgeschaltet. Dann kommen Schritte von hinten, und das Publikum beginnt zu klatschen. Musiker in festlicher dunkler Kleidung gehen an Jessica vorbei zur Bühne. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die zielstrebig ihre Plätze einnehmen, nach ihren Instrumenten greifen und sie stimmen. Colombano ist jedoch nicht dabei. Jessica dreht sich zur Tür hinten im Saal um, aber die ist geschlossen. Was soll das heißen?
Sie muss am richtigen Ort sein, schließlich stand ihr Name auf der Liste. Und der Mann hat ausdrücklich gesagt, er würde selbst auftreten.
Jessica holt das Programmheft aus ihrer Handtasche. Das Foto zeigt genau diesen Konzertsaal. Auch das Orchester scheint zumindest teilweise dasselbe zu sein wie auf dem Bild. Warum ist der Mann nicht dabei? Ist etwas passiert?
Nun werden die Instrumente in die richtige Position gebracht. Die Bögen heben sich. Die Musiker und Musikerinnen nicken sich zu. Und dann beginnen die Bogenhaare über die straff gespannten Saiten
zu streichen, sie bewegen sich kontrolliert vor und zurück und erzeugen so klare Töne, dass Jessica Gänsehaut bekommt. Sie blickt auf das Programmheft. J. S. Bach – Air auf der G-Saite
. Jessica spürt, wie ihr Atem stockt. Die Melodie ist unglaublich schön. Sie schließt die Augen und sieht den blumenbedeckten Grabhügel, sich selbst am Grab, spürt die Menschen um sie herum und Tante Tinas Hand auf ihrer Schulter. Tränen laufen ihr über die Wangen. Die Blumengebinde sind weiß. Mamas Lieblingsfarbe.
Das Stück dauert kaum länger als einige Minuten, doch für Jessica ist es eine Zeitreise in die Vergangenheit, wie eine zu schnell voranschreitende Ewigkeit.
Und dann ist es vorbei. Die Menschen applaudieren wieder, aber es dauert eine Weile, bis Jessica aus ihren Gedanken auftaucht und ebenfalls klatscht. Der Applaus verebbt, setzt aber bald erneut ein. Und dann geht ein lächelnder Mann an ihr vorbei zur Bühne, die Geige in der Hand. Colombano. Er ist der Solist. Er ist der Star der Aufführung.
Jessica schlägt die Beine übereinander und zieht den Saum ihres Kleides herunter. Sie fühlt sich leicht. Sie legt die Hände auf den Schoß und betrachtet den gutaussehenden Mann, der die Bühne betritt, die Geige unter das Kinn klemmt und das Publikum anlächelt. Aber in erster Linie lächelt Colombano sie an.