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Der Whisky brennt in der Kehle, betäubt aber nicht. Nicht genug. Die Polizistin, die den Wagen lenkt, hat den Blick auf die Straße gerichtet. Roger Koponen spürt, wie das Blut glühend heiß durch seine Adern strömt, um gleich darauf plötzlich zu entfliehen und seine Fingerkuppen eiskalt zurückzulassen. Die eintönige Waldlandschaft, die am Fenster vorbeifliegt, der absolute Stumpfsinn der verschneiten Nadelbäume, bereitet ihm Übelkeit. Es drängt ihn, das Angebot der Frau anzunehmen und sie zu bitten, am Straßenrand anzuhalten. Er will in den Wald rennen. Er will in diesem nichtssagenden Gestrüpp verschwinden, sich auf den Boden werfen, sich in den Schnee eingraben. In den Winterschlaf fallen wie ein Bär, ohne einen Gedanken an den nächsten Frühling.
Es ist seine Schuld. Er hat Maria ermordet. Der Gedanke setzt irgendetwas in seinem Inneren in Bewegung. Er spürt, wie ihm Tränen über das Gesicht laufen und sein Mund sich verzieht. Alles, was er wollte, hat er bekommen, literarischen Erfolg und eine schöne Frau, die ihn in dem großen Haus am Meer erwartet. Aber jetzt scheint alles vergänglich, als hätte er nur für Maria existiert und geschrieben, von ihren Reaktionen gelebt, sich aus der Perspektive seiner Frau betrachtet. Sich von da aus bewundert, wo Maria jeweils stand. Und jetzt ist Maria fort. Für immer.
Hat er seine Frau geliebt? Vielleicht. Auf seine Art. Er war bereit, dafür zu sorgen, dass es Maria an nichts fehlt. War das Liebe, oder wollte er nur sein Aquarium sauber und den Fisch satt halten? Er weiß die Antwort nicht, und das verursacht würgendes Schuldgefühl. Jetzt ist es zu spät, die Antwort zu finden, das verlorene Glück wird die Erinnerung für immer vergolden.
Ein großer Laster kommt ihnen entgegen. Das Auto schwankt. Die automatischen Scheibenwischer schwingen eine Weile hin und her wie die Arme des Publikums bei einem Popkonzert. Der Wagen ist erst sechs Wochen alt. Also neu. Jedes Detail, bis hin zu den Extras und dem Leder der Sitzpolster, wurde schon im vorigen Jahr akribisch ausgewählt. Aber das Auto riecht nicht mehr neu. Es riecht nach Tod. Es gleicht einem Leichenwagen, der von 340 Pferden gezogen wird.
»Fernlicht, verdammt.«
»Was?«, fragt Roger schniefend und setzt die Flasche an den Mund.
Die Polizistin blickt in den Rückspiegel. Durch das Rückfenster des Wagens fällt helles Licht.
»Hinter uns fährt einer mit Fernlicht«, wiederholt die Polizistin und dreht den Rückspiegel zur Seite.
Roger streicht sich mit dem Ärmel über die Augen, blickt über die Schulter und ist sofort geblendet.
»Verflucht«, murmelt er und wendet den Blick schleunigst ab. Er hat jedoch gesehen, dass der Wagen nur etwa zehn Meter hinter ihnen ist.
Gleich darauf wird das Licht schwächer.
»Jetzt überholt er«, sagt die Polizistin leise. Sie umklammert das Lenkrad mit beiden Händen.
Roger betrachtet das Auto, das neben sie gleitet. Die Polizistin hat das Tempo auf unter achtzig gedrosselt, doch der andere Fahrer überholt nicht. Roger sieht die Motorhaube eines SUV .
»Was hat der vor, verflucht?« Die Polizistin blickt grimmig durch das Seitenfenster. Auf dem Beifahrersitz liegt das Blaulicht, das sie vorsichtshalber mitgenommen hat. Wenn sie es einschaltet, wird der Fahrer wohl zur Vernunft kommen.
Roger wirft einen Blick auf das Armaturenbrett. Ihr Tempo liegt nun bei siebzig Stundenkilometern. Das Auto neben ihnen ist wie ein Schatten, es bleibt an ihrer Seite wie ein Beiwagen. Die lange Straße vor ihnen ist völlig leer.
Die Finger der Polizistin tasten nach dem Blaulicht. Sie legt es auf das Armaturenbrett und schaltet es ein. Der blaue Lichtkegel wandert über die Fenster des stur neben ihnen bleibenden Wagens. Und dann öffnet sich das hintere Seitenfenster des SUV . Das offene Whiskyfläschchen gleitet Roger aus der Hand. Er erkennt das magere Gesicht, das ihn anstarrt, und erinnert sich an die Frage, die aus dem schwarzen Mund in diesem Gesicht kam: Fürchten Sie sich vor dem, was Sie schreiben?