25
Das Besprechungszimmer riecht nach Kippen, obwohl man dort offiziell irgendwann zu Beginn des Jahrhunderts zum letzten Mal rauchen durfte. Es ist früher Morgen, der Wind hat sich gelegt, aber draußen ist es noch dunkel. Vom Fenster aus sieht man die Bahnstrecke und die riesige Baustelle um sie herum, die zwar hell beleuchtet, aber menschenleer ist. Die hohen Kräne ragen zum Himmel auf wie im Stehen schlafende Dinosaurier.
Jessica legt die Finger um die Teetasse und hebt sie an die Lippen. Außer Erne ist das ganze Team versammelt: neben Jessica Jusuf, Nina, Mikael und Rasmus, der wie immer nach Schweiß müffelt. Im Polizeigebäude kursiert der Spruch, Rasmus’ Deo sei das größte Schwein der Weltgeschichte, denn es lasse ihn jeden Tag im Stich. Es ist geradezu unbegreiflich, dass die boshafte Bemerkung Rasmus noch nicht zu Ohren gekommen ist – andernfalls würde er vielleicht etwas gegen den Geruch tun. Rasmus Susikoski, fast auf den Tag genauso alt wie Jessica und ausgebildeter Jurist, hat keinen einzigen Tag im Außendienst gearbeitet. Dennoch hat er sich dank seiner guten Beobachtungsgabe und seiner umfassenden Allgemeinbildung bei vielen Ermittlungen als wahres Goldstück erwiesen.
Nina Ruska tippt gelassen auf ihrem Handy herum, als würde sie erst nach dem Absenden der Nachricht in das kühle Besprechungszimmer des Polizeigebäudes im Stadtteil Pasila zurückkehren, in eine Wirklichkeit, die gruseliger ist als jede erfundene Geschichte. Nina ist um die vierzig, eine sommersprossige Frau mit ausgeprägten Gesichtszügen, die schön ist, obwohl sie fast immer in Jeans und Hoody herumläuft. Neben ihr sitzt Mikael Kaariniemi, Micke genannt, der unablässig Kaugummi kaut. Er ist im selben Alter wie Nina, hat kürzlich den Kampf gegen den Haarausfall aufgegeben und trägt immer verblüffend glatt gebügelte Hemden. Er sieht Jessica an und hebt die Augenbrauen, doch sie wendet den Blick rasch ab.
»Morgen«, sagt Erne und schließt die Tür hinter sich. Die anderen fünf grüßen murmelnd zurück.
»Die Pressekonferenz beginnt um acht. Bis dahin müssen wir wenigstens eine vorläufige Ermittlungslinie entwerfen«, beginnt Erne und schaltet mit der Fernbedienung den Beamer ein. Das leise Surren des an der Decke hängenden Geräts füllt den Raum.
»Du fängst an, Rasse«, sagt Erne und lehnt sich an den Tisch. Der nach Schweiß riechende Mann räuspert sich und rückt mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht. Dann wirft er einen kurzen Blick in die Runde und beginnt ein wenig stockend:
»Wir haben Koponens Trilogie gelesen und dann noch einen zweiten Durchgang gemacht, für den Fall, dass wir beim ersten Mal etwas übersehen hätten. Insgesamt haben wir acht Kapitalverbrechen gefunden, von denen sieben als Ritualmorde klassifiziert werden können. Für jedes der vier Kapitalverbrechen, zu denen wir ermitteln, findet sich eine Entsprechung in Koponens Werk.«
Rasmus’ Worte lösen die Spannung, die bisher im Raum hing; sie bestätigen, was alle bereits ahnten.
»Passieren die Verbrechen in den Büchern genau in dieser Reihenfolge?«, fragt Erne überraschend ruhig und stemmt die Hände in die Hüften. Jessica sieht ihren Vorgesetzten an und blickt dann zu Rasmus, der neben ihr sitzt.
»Nein«, antwortet der und fingert nervös an seinem Brillenbügel. »Die Morde sind nicht in derselben Reihenfolge geschehen wie in den Büchern. Das heißt die beiden ersten schon, aber wenn man die Morde von heute Nacht als Verbrennung auf dem Scheiterhaufen sehen will … Hier ist eine Kopie für euch alle.«
Er schiebt einen niedrigen Stapel in die Tischmitte, und alle greifen zu. Jessica zieht die Augenbrauen hoch, als sie die Liste überfliegt.
Die Morde in Roger Koponens Hexenjagd-Trilogie:
Band I
Eine Frau wird ertränkt (unter dem Eis)
Eine Frau wird vergiftet (im Buch auf die gleiche Weise platziert wie die Leiche von Maria Koponen)
Ein Mann wird gesteinigt
Band II
Ein Mann wird erdolcht
Ein Mann wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt
Band III
Eine Frau wird zerquetscht (nach und nach mit Steinplatten)
Eine Frau wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt
»Moment mal«, sagt Erne und blickt von dem Blatt auf. »Wurde bestätigt, dass Maria Koponen an einer Vergiftung gestorben ist?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Rasmus schnell. Seine Stimme klingt unsicher. »Aber ansonsten passt die Tat zu der Darstellung im Buch. Und die Frauen gleichen der Beschreibung exakt. Dunkelhaarig, schön …«
»Okay«, sagt Erne und hält sich das Papier dichter vor die Augen.
»Und die beiden Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen … «, beginnt Jusuf, woraufhin Erne bedeutsam nickt. Eine Weile ist es mucksmäuschenstill, alle scheinen den Text wieder und wieder zu lesen. Jessica nimmt einen Schluck von ihrem Hagebuttentee. Er schmeckt nach Eisen.
»Wenn wir davon ausgehen, dass der oder die Täter die ganze Liste abarbeiten wollen, sind noch drei weitere Morde zu erwarten.«
»Die Täter?«, fragt Nina, während sie gleichzeitig etwas auf den Rand ihrer Kopie schreibt. Mikael wirft ihr einen Blick zu und liest dann ihre Notiz. Jessica betrachtet die beiden und überlegt, ob Nina für sich selbst etwas notiert oder eine Nachricht für Micke geschrieben hat. Beide blicken jedoch ernst drein.
»Es ist wahrscheinlich, dass der Täter in Juva nicht derjenige war, der aus dem Haus der Koponens entkommen ist«, sagt Erne und weicht dem blauen Rechteck aus, das der Beamer in den Raum wirft. »Sicher ist es allerdings nicht. Der Täter in Kulosaari ist um 23:04 Uhr verschwunden. Den Anruf von Sanna Porkka aus Juva habe ich um 3:15 Uhr bekommen. Wenn der Täter in Kulosaari sofort in sein Auto gesprungen und in Richtung Savonlinna gefahren ist, könnte er es trotz der schwierigen Wetterverhältnisse rechtzeitig nach Juva geschafft haben, um Koponens Auto aufzulauern.«
»Vielleicht war es aus der Sicht des Täters ohnehin das Vernünftigste, aus der Stadt zu verschwinden«, sagt Jusuf heiser.
»Ich vermute trotzdem, dass es sich nicht um denselben Mann handelt.«
»Warum?«
»Weil es bei dieser Theorie ein grundlegendes Problem gibt. Woher hätte der Täter wissen sollen, dass Koponen nach Helsinki gebracht wird? Und wann?«, erklärt Erne und sieht Jusuf an, der nachdenklich den Kopf schüttelt.
»Schwer zu glauben, dass der Mann auf gut Glück, ohne genauen Plan, losgefahren wäre, bei Juva den entgegenkommenden Audi erkannt und kehrtgemacht hätte, um ihm zu folgen. Außerdem hat es dort letzte Nacht stark geschneit. Die Sicht war beschissen«, fährt Erne fort und setzt sich.
»Und trotzdem ist es diesem Jemand gelungen, im Wald ein Lagerfeuer anzuzünden«, sagt Jessica leise, den Blick auf das Papier geheftet. Niemand lacht über die Bemerkung, die auch gar nicht als Witz gemeint war. Auf der Straße heult eine Sirene auf. Jessica denkt an Fubu, der immer nervös wird, wenn er ein Einsatzfahrzeug hört. Ein Mann kann aus Ost-Helsinki weggehen, aber Ost-Helsinki lässt ihn nicht los.
»Es ist wahrscheinlicher, dass ihnen jemand von Savonlinna aus gefolgt ist. Irgendwer muss über jede ihrer Bewegungen im Bild gewesen sein. Die Entscheidung, nach Helsinki zu fahren, ist erst gegen Mitternacht gefallen«, führt Erne aus. Jessica sieht das Zittern seines Adamsapfels und weiß, was es bedeutet. Es war Ernes Entscheidung. Im Nachhinein ist es leicht zu sagen, dass Koponen für die Fahrt massiven Geleitschutz gebraucht hätte. Wahrscheinlich gibt Erne sich selbst die Schuld an dem, was passiert ist.
»Einige Umstände verdienen Aufmerksamkeit«, fährt Erne fort. »Erstens hatte Sanna Porkka ihre Dienstwaffe bei sich. Trotzdem konnte sie sich nicht gegen den Angreifer verteidigen. Wieso nicht? War der Angreifer ebenfalls bewaffnet? Vielleicht sogar schwerer?«
Abgesehen vom Surren des Beamers ist es völlig still. Selbst Mikaels Kiefer ist in der Bewegung erstarrt.
»Zweitens«, spricht Erne weiter und runzelt die Stirn, als ob es ihm Schmerzen bereitet, die Worte zu formen, »wurde Koponens Audi am Tatort unbeschädigt vorgefunden. Er wurde also weder von Schüssen getroffen noch von der Straße abgedrängt. Entweder hat Porkka selbst den Wagen auf den Waldweg gefahren oder jemand anderes. Wer? Und schließlich: Vor Ort wurde nur eine einzige Art von Schuhabdrücken gefunden. Mit anderen Worten: Wenn es mehrere Täter waren, trugen sie alle die gleichen Springerstiefel Größe 45, Massenware. Es gibt so viele Abdrücke, dass durchaus mehrere zugange gewesen sein können.«
»Aber die Abdrücke in Kulosaari sind …«
»Exakt die gleichen. Aber wie gesagt, ich glaube, dass der Täter nicht derselbe ist.«
»Moment mal«, unterbricht ihn Mikael und kratzt sich am Kopf. »Mehrere Täter in Juva. Und der Mann in Kulosaari. Müssen wir also davon ausgehen, dass …«
»Ja«, antwortet Erne und holt tief Luft. »Alles deutet darauf hin, dass es drei Täter sind. Oder mehr.«
Jessica hebt den Blick vom Papier und betrachtet ihr Getränk, das der Teebeutel rot gefärbt hat. Sie spürt den Eisengeschmack auf der Zunge, und aus irgendeinem Grund flammt in ihrem Gehirn der Gedanke auf, dass sie sich Blut gekocht hat. Sekundenlang ist alles rot. Die Wände, die Leinwand, der Tisch und die Gesichter der Menschen, die an ihm sitzen. Ihr wird übel.