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Der Saal im Polizeigebäude ist an diesem Morgen wie eine andere Welt, eine helle, lebendige Zelle im Körper des grauen Amtsgebäudes. Erne Mikson setzt sich auf den Stuhl am äußeren Rand des langen Tisches, den einzigen, der noch frei ist. Der neben ihm sitzende Jukka Ruuskanen, der seine blaue Uniform zur Schau stellt, starrt vor sich hin und nickt nicht einmal zur Begrüßung. Natürlich ist die Situation für alle stressig, aber Ruuskanen verhält sich schon seit Jahren distanziert und anmaßend. Die Freundschaft, die sie während der Ausbildung verband scheint eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Auf dem Tisch stehen bunt verstreut Mikrofone und Aufnahmegeräte in verschiedenen Farben. Dahinter erstreckt sich der Zuschauerraum, dessen Sitzreihen ein müdes, aber aufmerksames Publikum füllt. Blitzlichter zucken, die größeren Kameras übertragen die Aufnahmen direkt ins Internet und ins Fernsehen. Erne erinnert sich nicht, dass der Saal jemals so voll gewesen wäre, der aktuelle Fall enthält außergewöhnlich viele interessante Elemente. Er hüstelt. Sein Mund ist trocken, aber auf dem Tisch steht kein Wasser bereit. Er streicht sich über die Nase und riecht an den Fingern die Zigarette, die er vor fünf Minuten geraucht hat.
»Es ist Punkt acht. Wir fangen an«, sagt Ruuskanen schließlich, und das Stimmengewirr verstummt. Das Blitzlichtgewitter dagegen wird heftiger, als hätte die Eröffnung der Pressekonferenz die am Tisch sitzenden Polizeibeamten interessanter gemacht.
»Ich bin Jukka Ruuskanen, Leiter der Helsinkier Polizeibehörde, und links von mir sitzen der Vizepolizeichef Jens Oranen sowie Joonas Lönnqvist vom Stab der Obersten Polizeiverwaltung«, fährt Ruuskanen fort und blickt in die Kameras. Einen Moment lang glaubt
Erne, dass Ruuskanen ihn vergessen hat. »Und rechts sitzt der Ermittlungsleiter, Kriminaloberkommissar Erne Mikson von der Helsinkier Kriminalpolizei«, fügt Ruuskanen jedoch hinzu und sieht Erne an. Erne spürt, wie die Kameras sich auf ihn richten und ihre unermüdliche Dokumentation fortsetzen. Nun ist es offiziell, er liefert wieder einmal das Gesicht für die Ermittlungen, für die Fehler, die dabei gemacht werden, und für die eventuelle Ergebnislosigkeit. Das Blitzlicht enthüllt die Falten in seinem Gesicht, das Alter, das sie widerspiegeln. Erne weiß, dass er gebrechlich aussieht. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, aber einen erheblichen Beitrag haben auch die estnischen Rumba-Zigaretten geleistet, von deren giftigem Qualm er im Lauf der Jahre vielleicht mehr eingeatmet hat als reinen Sauerstoff.
Ruuskanen beginnt mit einer knappen Zusammenfassung der Ereignisse des Abends und der Nacht. Erne läuft der Schweiß über den Rücken, auch seine Achselhöhlen sind feucht. Er wirft einen Blick auf Ruuskanen, nur um nicht in die Objektive zu starren, die wie große schwarze Augen stieren.
Roger Koponen … Ehefrau … Polizei …
Ruuskanen berichtet lakonisch. Erne hört nicht zu, denn er könnte dasselbe auswendig herunterleiern. Stattdessen betrachtet er die neben Ruuskanen sitzenden Männer, die ebenfalls die dunkelblaue Prunkuniform tragen. Erne ist der Einzige am Tisch, der unbekümmert eine schwarze Jeans, ein Hemd und einen abgetragenen Tweed-Blazer anziehen konnte. Das ist seine Uniform. Die Arbeitskleidung des estnischen Laufburschen. Er ist der Einzige in dieser Schar, der nach der Veranstaltung die Anrufe der Reporter beantworten muss, die drei anderen können wieder politisieren und sich mit Dingen befassen, die mit der eigentlichen Polizeiarbeit nichts zu tun haben. Die Bosse sind in seinem Alter, Jens Oranen ist sogar deutlich jünger. Man könnte denken, dass Erne den Anschluss verpasst hat. Sich festgefahren hat. Doch Erne selbst hat immer das Gefühl gehabt, genau das erreicht zu haben, was er sich erhofft hat. Mit fünfzig Jahren ist er exakt da, wo er sein will. Tut die Arbeit, von der er als kleiner Junge geträumt hat. Und dennoch scheint in Situationen wie dieser durch, dass er isoliert und anders ist.
»… und Fragen zu den konkreten Ermittlungen beantwortet der
Ermittlungsleiter«, sagt Ruuskanen zum Schluss, und noch bevor er den Satz beendet hat, heben sich mehrere Hände.
»Hat die Polizei zu diesem Zeitpunkt einen Verdächtigen?«, fragt eine Frau in der ersten Reihe, die Erne als Reporterin der staatlichen Fernsehanstalt Yleisradio kennt. Typischerweise werden am Anfang die naheliegendsten Fragen gestellt, doch Erne weiß aus Erfahrung, dass sie im weiteren Verlauf immer kniffliger werden.
»Für die Morde in Kulosaari kennt die Polizei das Aussehen eines Verdächtigen. In diesem Stadium kann ich mitteilen, dass es sich um einen Mann finnischer Abstammung handelt«, antwortet Erne und senkt den Blick auf das Mikrofon. Ein Detail, das er auf Befehl enthüllt. Vom Ministerium kam eine eindeutige Anweisung, jegliche Spekulation über einen ethnisch motivierten Terrorakt sofort zu unterbinden.
»Es gibt also keinen Verdächtigen?«
»Wie gesagt, wir kennen das ungefähre Aussehen eines Mannes. Bisher wurde niemand festgenommen, aber wir setzen die Fahndung nach der Person fort, anhand der Details, die im Zuge der Ermittlungen ans Licht kommen«, sagt Erne und ballt eine Hand zur Faust. Die Halogenlampen an der Decke scheinen heller zu werden.
»Und der Polizistenmord in Juva? Wissen Sie mit Sicherheit, dass es sich um einen anderen Täter handelt?«
»In Anbetracht der Entfernung ist das äußerst wahrscheinlich.«
»Kann es sich um mehrere Täter handeln, die zusammenarbeiten?«
»Das ist in diesem Stadium nicht auszuschließen.«
»Gab es im Vorfeld Drohungen gegen Roger Koponen oder seine Frau?«
»Uns liegen keine Hinweise darauf vor.«
»Wie war die Vorgehensweise bei den Morden in Kulosaari?«
Erne blinzelt ein paarmal. Jetzt ist das berühmte Pokerface gefragt.
»Aus ermittlungstechnischen Gründen können wir nicht …«
»Stimmt sie mit den Waldmorden in Juva überein?«
»Wie gesagt, ich kann …«
»Vermutet die Polizei, dass die Vorgehensweise auf Roger Koponens Werke zurückgeht?«
Jetzt ist es also so weit. Das Unausweichliche ist geschehen. Obwohl sie sich bemüht haben, die Einzelheiten der Verbrechen streng geheim zu halten.
»In diesem Stadium kann und will ich mich nicht zur Vorgehensweise äußern.«
Erne weiß, dass er die Frage nicht beantwortet hat. Das Publikum, das von Berufs wegen angeschnittene Bälle wirft, gibt sich damit nicht zufrieden.
»Wurden die Leichen im Wald verbrannt?«
Ernes Hände schwitzen. Die Information ist nach außen gedrungen. Ruuskanen drückt ihm die Fingerknöchel in die Seite, beugt sich zu Oranen hinüber, flüstert ihm etwas ins Ohr und nickt dann Erne zu.
»Ja. Die Leichen der Opfer wurden verbrannt aufgefunden«, sagt Erne und tastet nach dem Wasserglas, nur um festzustellen, dass immer noch keine gebracht wurden. Bei jedem Wort schmerzt seine Kehle. In den nächsten Sekunden tost das Orchester der Kameras, Computertastaturen und flüsternden Stimmen.
»In Koponens Büchern werden Menschen verbrannt. Ist das nicht eine klare Übereinstimmung?«
»Unsere Ermittler untersuchen gerade Roger Koponens literarisches Werk. Sofern es eine Verbindung zwischen den Morden und dem Inhalt der Bücher gibt, bemühen wir uns, sie zu finden und für die Ermittlung zu nutzen.«
»Haben die Morde in Kulosaari ein literarisches Vorbild?«
»Diese Frage zu beantworten stünde im Widerspruch zu dem, was ich gerade gesagt habe.«
»Kann man von einem Serienmörder sprechen?«
»Nach jetzigem Stand sind die Kriterien dafür nicht gegeben.«
»Hat die Polizei Grund zu der Annahme, dass der Mann erneut zuschlägt?«
»Nein.«
Ruuskanen und Oranen flüstern wieder. Weitere Hände werden gehoben, obwohl gerade niemand das Wort erteilt. Eine schnelle Begnadigung ist nicht zu erwarten.
»Warum hat die Polizei …« Die Frage bleibt in der Luft hängen, weil die Lippen des stoppelbärtigen Mannes, der sie stellt,
urplötzlich erstarren. Zum ersten Mal während der Pressekonferenz ist es total still. Der Blick des Reporters ist auf seinen Computerbildschirm gerichtet, wie der aller anderen. Dann erhebt sich ein ungläubiges Stimmengewirr, dessen Lautstärke in kürzester Zeit ganz neue Dimensionen erreicht. Die Journalisten greifen nach ihren Smartphones und wischen auf dem Display herum. Diejenigen, die noch nicht auf dem neuesten Stand sind, spähen über die Sitzreihen hinweg, um auf den Bildschirmen der anderen zu sehen, was passiert. Die Mienen sind erschüttert und ungläubig, teils aufgeregt. Die Müdigkeit, die eben noch über dem Raum lag, ist verschwunden.
Ruuskanen blickt sich um und beißt sich auf die Unterlippe, als fordere er eine Erklärung für den plötzlichen Stimmungsumschwung. Erne greift nach seinem Handy, muss aber feststellen, dass sein Team ihm keine neuen Informationen geschickt hat.
»Was geht da vor?«, knurrt Ruuskanen. Seine Stimme verrät, dass es ihn ankotzt, der Einzige zu sein, der im Dunkeln tappt.
»Auf Roger Koponens YouTube-Account wurde soeben ein Video hochgeladen«, sagt die Reporterin von Yleisradio mit lauter Stimme. »Ein Video von seiner Frau.«
Erne umklammert das große Mikrofon. Als er für eine Sekunde die Augen schließt, sieht er auf seiner Netzhaut ein Gesicht, dessen Mund zu einem unnatürlichen Lächeln verzogen ist.