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Malleus Maleficarum. Malleus Maleficarum. Malleus Maleficarum.
Jessica sitzt an ihrem Schreibtisch. Neben ihr stützt sich Jusuf auf die Tischplatte. Auf dem Computerbildschirm ist Roger Koponens YouTube-Account zu sehen, auf den kurz zuvor das dramatische Video geladen wurde. Die senkrechte und leicht verwackelte Aufnahme ist unverkennbar mit einem Handy gemacht worden. Sie zeigt die wie eine Wahnsinnige lächelnde Maria Koponen, die an ihrem Platz am Ende des langen Tisches sitzt. Im Hintergrund läuft Imagine , außerdem ist eine monotone und dumpf predigende Stimme zu hören, in die sich lautes Rauschen mischt. Die Stimme wiederholt immer dieselben Worte. Exakt im selben Tonfall: Malleus Maleficarum . Das Video ist eine Minute lang und zeigt nichts anderes als die getötete Frau. Wahrscheinlich wurde es, nur einige Minuten bevor der Täter den Notruf gewählt hat, aufgenommen. Oder der Anruf war bereits erfolgt, als das Video gefilmt wurde.
»Eine absolut schaurige Stimme. Kommt sie vom Band?«, fragt Jusuf. Er meint die Männerstimme, die die lateinischen Worte wiederholt.
»So hört es sich an.«
»Wie lange dauert es, bis YouTube das Video entfernt?«
»Das spielt keine Rolle. Das Video ist längst gesehen, heruntergeladen und weiterverbreitet worden«, antwortet Jessica grimmig und fährt mit dem Cursor nach unten, um die Kommentare zu überfliegen. Koponen hat trotz seines internationalen Erfolgs nur einige tausend Follower, doch das Video hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Es gibt Hunderte von Kommentaren. Jusuf stößt eine Art Pfiff aus.
»Verdammte Scheiße. Erne hat vor einem Shitstorm gewarnt, aber mit sowas hat er nicht gerechnet.«
»Wie könnte er auch«, sagt Jessica und schluckt. Was sie sieht, ist schauderhaft. Die meisten Kommentatoren halten die ganze Sache für einen Witz, für einen verspäteten Halloween-Scherz oder für einen Werbestunt des Autors. Das Video ist jedoch mit einer Minute lang genug, um zu zeigen, dass nicht alles in Ordnung ist. Maria Koponen atmet nicht. Zudem geht von Toten immer eine unerklärliche Endgültigkeit aus, etwas, das kaum nachzuahmen ist. Dennoch sind die Kommentare alles andere als empathisch. Wie grausam der Mensch sein kann. Und wie dumm. Winston Churchill hat einmal gesagt, das beste Argument gegen die Demokratie sei ein fünfminütiges Gespräch mit dem durchschnittlichen Wähler. Heute könnte man den letzten Teil des Satzes ersetzen durch ein Blick auf die Kommentare in sozialen Medien .
»Was tun wir jetzt?«, fragt Jusuf.
»Setz dich sofort mit der Technik in Verbindung. Wir müssen herausfinden, von welcher IP -Adresse sich der Mörder in Koponens YouTube-Account eingeloggt hat.«
»Okay«, seufzt Jusuf und will gerade gehen, als Jessica vom Bildschirm aufblickt.
»Jusuf … Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Besuch bei Neuropharm Zeitverschwendung ist. Bitte Erne, einen der Leute von der Zentralkripo hinzuschicken. Die haben uns ja Unterstützung zugesagt.«
Jusuf nickt und macht sich auf den Weg.
Jessica scrollt nach oben und startet das Video erneut. Sie hat es schon dreimal gesehen und wird wohl nichts Neues mehr entdecken. Das Bild ist ruhig, doch winzige Bewegungen verraten, dass die Kamera nicht auf dem Tisch abgestützt, sondern frei in der Hand gehalten wurde. Malleus Maleficarum. Malleus Maleficarum . Die Stimme, die unaufhörlich dasselbe wiederholt, ist grauenhaft, aber Jessica schaltet den Ton nicht ab. Sie muss die Stimme immer wieder hören, sie muss versuchen zu verstehen, welche Botschaft der in das Haus eingedrungene Mann mit seiner Tat und seinem Video übermitteln will. Jessica betrachtet das in breitem Grinsen erstarrte Gesicht der Frau, deren Augen gleichzeitig um Hilfe zu schreien und höhnisch zu glotzen scheinen.