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Jessica sitzt weiterhin auf ihrem Platz, obwohl das Publikum den Saal bereits verlassen hat. Vivaldis zeitlose Melodien klingen immer noch in ihren Ohren nach. Sie ist keine große Freundin klassischer Musik, doch die berühmte Konzertsuite des venezianischen Komponisten hat heute einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht. Natürlich ist das Erlebnis auch deshalb unvergesslich, weil Colombano nicht nur faszinierend geheimnisvoll und stattlich ist, sondern auch ein wahrer Virtuose auf der Geige.
Colombano hat Jessica nicht gebeten, auf ihn zu warten. Auf dem Weg von der Bühne zur Tür am Ende des Saals hat er ihr nur einen raschen Blick zugeworfen. Irgendetwas hat Jessica trotzdem dazu gebracht, auf ihrem Platz zu bleiben. Hätte er sie zu dem Konzert eingeladen, wenn er nicht die Absicht gehabt hätte, anschließend mit ihr zu reden? Doch als die Lichter allmählich verlöschen, beginnt sie zu glauben, dass Colombano nicht auf eine Verabredung aus war, sondern nur mehr Publikum anlocken wollte.
»Wir schließen jetzt«, sagt die Kartenverkäuferin auf Italienisch. Jessica schreckt auf und errötet.
»Ich verstehe«, antwortet sie und legt ihre rastlosen Finger um die Ledergurte ihrer Handtasche. Sie sieht die Frau mit den spitzen Wangenknochen an, deren Gesicht sie an einen Raubvogel denken lässt. Der Blick der Frau wirkt jedoch nicht mehr so kalt wie vor Beginn des Konzerts, sondern freundlich. Vielleicht sogar mitleidig. Er scheint zu sagen: Nimm es nicht persönlich. Du bist nicht die Erste. Du bist nicht die Einzige.
»Sie sollten jetzt gehen«, sagt die Frau achselzuckend.
Jessica spürt die Enttäuschung wie einen Klumpen im Bauch. Sie steht auf und nickt zum Abschied. Die Frau geht durch die Sitzreihen und sammelt vergessene Programmhefte ein. Jessicas Schritte hallen
in dem großen Raum wider, ihre Beine fühlen sich schwer an. Die beruhigende Wirkung des Proseccos hat sich während des Konzerts verflüchtigt und ein Gefühl der Leere hinterlassen. Sie weiß nicht, ob es an Hunger, Enttäuschung oder beidem liegt.
Sie schiebt die schwere Tür auf und stellt fest, dass der Regen wieder eingesetzt hat. Die kleinen Tropfen sind leicht und warm. Der feuchte Wind riecht nach Meer, ein wenig auch nach Metall und Urin. Vom Markusplatz her kommt die Stimme eines Tenors, der irgendein bekanntes Lied singt.
Jessica tritt auf das nasse Kopfsteinpflaster und strauchelt plötzlich. Ihre Knöchel fühlen sich schlaff an, und der Schmerz, der an den Nervenenden nagt, ist wieder wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er beginnt immer über dem Knöchel, breitet sich dann an der Wade entlang zum Knie aus und bohrt sich gleichzeitig tiefer in das Bein, wie ein dünner Nagel, der mit kräftigen Hammerschlägen durch den Knochen getrieben wird.
Sie sollte sich umdrehen und nach der Klinke der schweren Tür greifen, sich daran abstützen und hinsetzen und warten, bis die Schmerzattacke vorübergeht. Doch ihr Stolz hindert sie daran. Sie will den prunkvollen Konzertsaal hinter sich lassen, der an diesem Abend ein Ort der Demütigung und Enttäuschung geworden ist.
Der Schmerz nimmt mit jedem Schritt zu. Jessica sieht auf der anderen Straßenseite einen Springbrunnen und stakst darauf zu wie ein langbeiniges Reh auf glattem Eis. Neue Nägel kommen hinzu, einer in der Wade, ein zweiter im Oberschenkel. Schließlich wird der Schmerz unerträglich, Jessica weiß, dass die Beine sie nicht bis zu dem steinernen Becken tragen werden. Sie geht in die Hocke und stützt sich mit der Hand auf dem nassen Asphalt ab.
Im selben Moment wird sie von hinten gepackt. Starke Hände schieben sich unter ihren Achseln hindurch, legen sich um ihre Arme, sodass sie die steinharten Schwielen auf ihrer Haut spürt. Der Griff ist nicht zärtlich, sondern zielstrebig und entschlossen. Diese Kraft bittet nicht um Entschuldigung.
»Zesika«, sagt der Mann leise und stützt sie auf den letzten Metern zum Springbrunnen.
Colombano setzt sie auf dem Brunnenrand ab. Jessica bückt sich, zieht die Schuhe aus und taucht ihre nackten Füße in eine Pfütze. Erst
danach blickt sie zu ihrem Helfer auf. Hier ist der Mann. Nur für sie allein. Eine Träne rollt ihr über das Gesicht. Sie ist ein Zeichen von Schmerz und Erleichterung, von Freude und Scham.
»Was ist?«, fragt er und blickt an Jessica vorbei. Ihr peinliches Torkeln muss auch anderen Passanten aufgefallen sein. Dennoch ist ihr niemand zu Hilfe geeilt. Niemand außer Colombano.
»Wo hast du deine Geige gelassen?«, fragt Jessica zurück. Es war nicht als Witz gemeint, klingt aber so. Colombano lächelt erleichtert. Dann wird er wieder ernst, leckt sich über die Lippen und schaut zum Himmel auf, wie um den nieselnden Regen besser zu spüren. Jessica schließt die Augen, und als sie sie wieder aufschlägt, ist Colombanos Blick zu ihr zurückgekehrt. Der Mann ist eine Spur näher an sie herangerückt.
»Wohin wolltest du?«
Eine Weile sehen sie sich an.
»Hat es dir gefallen? Das Konzert?«
»Warum hast du mich eingeladen?«, fragt Jessica und merkt, dass der Schmerz in den Beinen fast so schnell verschwunden ist, wie er gekommen war. Nur prickelnde Spannung ist geblieben. Und eine Prise Scham. Colombano lacht fröhlich. Beim Lachen pressen seine Wangen die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und der weit geöffnete Mund enthüllt seine weißen Zähne.
»Tante domande, Jessica, ma nessuna risposta
.«