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Jessica beendet das Gespräch und drückt das Handy an die Brust. Die Männer von der Zentralkripo haben bei Neuropharm mit Maria Koponens Chef und einigen ihrer Kollegen gesprochen, aber nichts Besonderes in Erfahrung gebracht.
Jessica setzt sich wieder an den Rechner und betrachtet eine Weile den dunklen Bildschirm. Als sie ihn mit einer Bewegung der Maus aufwecken will, hält ihre Hand plötzlich inne. Sie mustert ihr verschwommenes Spiegelbild, es zeichnet den Umriss ihres Kopfs nach und zeigt in der Mitte ein Gesicht, dessen Züge schwer zu erkennen sind. Der Moment ist wie eine Variation der Szene in der vorigen Nacht, als sie sich in der Fensterscheibe gesehen hat. Es ist, als hätte hinter der Scheibe eine andere zurückgeblickt. Irgendeine Fremde aus dem kalten, dunklen Universum, wie um Jessica daran zu erinnern, dass sie ihren Platz in dieser Welt nicht gefunden hat. Sie wird nie normal sein, obwohl sie für den Staat arbeitet und so tut, als würde sie von dem Gehalt leben, das die Polizeiverwaltung ihr jeden Monat überweist. Schwindlerin. Lügnerin. Heuchlerin. Von-Hellens-Fake.
»Jessica!«, sagt Jusuf in scharfem Ton, als riefe er seinen Hund. Sein Gesicht, das hinter dem Wandschirm auftaucht, ist jedoch freundlich. »Die Kommunikationsdaten«, fährt er leiser, aber unverkennbar aufgeregt fort. Jessica weckt den Bildschirm ihres Computers auf und geht dann zu Jusufs Schreibtisch, der so unaufgeräumt ist wie immer. Mindestens sechs oder sieben schmutzige Kaffeetassen stehen herum, mit festgetrockneten braunen Flecken an den Rändern. Kein Wunder, dass es immer schwierig ist, in der Küche sauberes Geschirr zu finden. Hinter den Papierbergen stehen zwei Pokale, die Jusuf bei der Kart-Meisterschaft der Abteilung gewonnen hat und die er stolz jedem
zeigt, der sich an seinen Tisch verirrt.
»Roger Koponens Telefon war von 8:02 bis 8:09 Uhr eingeschaltet«, erklärt Jusuf und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Wo?«
»Am Hauptbahnhof. Vielleicht unterirdisch, an der Metrostation.«
»Na klar.« Jessica bohrt ihre Fingernägel in den Bezug von Jusufs Stuhl. »Da sind wahnsinnig viele Leute.«
»Wir müssen die Aufnahmen untersuchen«, sagt er und tippt auf seinem Telefon eine Nummer ein. Jessica streckt sich und atmet die stickige Luft ein, in der die unermüdlich arbeitende Lüftungsanlage des Polizeigebäudes ihren ureigenen Geruch hinterlassen hat, eine Mischung aus Staubsaugerbeutel und Metall. Sie massiert sich die Handgelenke und findet ihren Puls, der seit den Ereignissen des gestrigen Abends ständig zu rasen scheint. Die Begegnung mit dem Mörder geht ihr nicht aus dem Sinn. Das von der Schutzkleidung verdeckte Gesicht und die Augen, an deren Farbe sie sich nicht erinnern kann. Die Worte, die sie immer noch nicht versteht. Die erste ist erledigt
. Sie wird den Gedanken nicht los, dass die erste
auf etwas hinweist, an das sie noch gar nicht gedacht haben, auf etwas, das der Täter sie wissen lassen wollte. Oder worüber sie rätseln sollen.
»Jessi?« Auf dem Bildschirm hat sich die Netzwerkverbindung zu den Überwachungskameras am Hauptbahnhof geöffnet.
»Das kann eine Weile dauern, die ganzen Aufnahmen durchzusehen«, meint Jusuf.
»Überlass es …«
»Dem Liebespaar?«, fragt er und lächelt über Jessicas verdutzte Miene. Dann schüttelt er den Kopf. »Ha! Dachtest du, ich wüsste nicht, dass Nina und Micke vögeln? Dachtest du, Erne wüsste nichts davon?«
»Egal. Sag ihnen Bescheid. Und dann fahren wir los«, gibt Jessica zurück, nimmt Jusufs Daunenjacke vom Tisch und wirft sie ihm auf den Schoß.
»Wohin?«
»Nach Kulosaari. Ich will die Gegend bei Tageslicht sehen.«