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Nina Ruska zerdrückt die leere Pastillenschachtel und wirft sie in den Papierkorb. Sie hat sich gerade eben an den Tisch gesetzt, auf dem neben einem Laptop zwei separate Bildschirme stehen. Der mittlere Bildschirm zeigt eine Liste der Videodateien. Es sind insgesamt 45. Eine für jede Überwachungskamera. Die Aufgabe könnte aussichtslos erscheinen, zumal niemand weiß, wen man auf den Aufnahmen suchen soll. Die Zeitspanne von sieben Minuten, die Jessica vorgegeben hat, erleichtert die Sache jedoch sehr. Außerdem geben die Ortungsdaten genaue Koordinaten. Sie basieren auf den Beacon-Radiosignalpaketen, die über Bluetooth von Koponens Smartphone übermittelt wurden, und auf dem MAC
-Code des Geräts.
»Sieben Minuten«, sagt Mikael und setzt sich neben Nina.
»In der Zeit hat er das Video empfangen und bei YouTube hochgeladen.«
»Wie viele Kameras sind noch übrig?«
»Nach der ersten Sichtung neun. Verdammter Mist. Ich hab so eine Ahnung, dass der Typ auf dem Metrobahnsteig steht. Und deshalb ist das Ganze so verflucht frustrierend.«
»Wieso?«, fragt Mikael und rührt in seinem Tee.
»Der Typ weiß, dass wir mithilfe der Kameras eine Person suchen, die ein Smartphone in der Hand hält. Also geht er dahin, wo massenhaft Leute rumstehen …«
»… und wo fast alle an ihrem Handy rumfummeln.«
»Nicht fast, sondern absolut jeder«, sagt Nina und öffnet eine Datei. »Guck mal. Das ist so deprimierend. Sogar die, die mit jemandem gemeinsam auf den Bahnsteig kommen, starren mit ausgestrecktem Arm schräg nach unten.«
»Ein dystopischer Anblick, da hast du recht.«
»Deshalb bin ich sicher, dass der Typ, den wir suchen, auf diesen
Aufnahmen zu sehen ist. Wir wissen bloß nicht, wer von denen es ist. Da sind mindestens hundert Menschen auf dem Bahnsteig.«
»Seit wann bist du so pessimistisch?«, fragt Mikael und schnappt sich die Maus. »Außerdem ergibt das keinen Sinn.«
»Was?«
»Du hast gesagt, der Typ weiß, dass man das Telefon aufspüren kann. Und trotzdem hat er es gerade auf dem einen Hektar im ganzen Land eingeschaltet, der am intensivsten kontrolliert und überwacht wird. Was bedeutet das deiner Meinung nach?«
»Dass …«, beginnt Nina, dann seufzt sie tief und lächelt. »Dass er gesehen werden will.«
»Gesehen, aber nicht unbedingt erkannt«, fügt Mikael augenzwinkernd hinzu.
Nina lehnt sich zurück und betrachtet ihn. Sie hat sich schon vor Jahren von der unerschütterlichen Selbstsicherheit hinreißen lassen, die dieser Mann ausstrahlt. Auch dann, wenn es keinen Grund dafür gibt. Vielleicht hat sie damals gerade deshalb nicht gewagt, sich Mikael zu nähern. Sie dachte, seine Sorglosigkeit und Unbekümmertheit seien ein Zeichen dafür, dass er mit seinem Leben als Single zufrieden sei und sich nicht nach einer Frau an seiner Seite sehne – und wenn doch, dann wäre diese Frau jedenfalls nicht eine Kollegin, die fünfmal wöchentlich beim Judotraining schwitzt. Und dann, vor fünf Monaten, hat Mikael nach einem außergewöhnlich intensiven Arbeitstag die Initiative ergriffen. Sie saßen bis zur Sperrstunde in einem Restaurant, redeten über alles, worüber sie bei der Arbeit nie ein Wort gewechselt hatten, und stellten fest, dass die Chemie stimmte. Dass sie schon seit Langem gestimmt hatte.
»Es ist also eine Art krankhaftes Spiel?«, fragt Nina.
»Natürlich. Das ist es doch schon die ganze Zeit. Der Täter foppt uns. Drapiert die Leichen so, dass die ganze Abteilung mit der Lupe mittelmäßige Fiktion liest. Schreibt seine Botschaft auf das Dach eines Einfamilienhauses. Spricht am Tatort mit der Hauptermittlerin. Lädt mit dem Telefon des Opfers ein Video ins Netz, obwohl er weiß, dass wir es orten«, antwortet Mikael und hebt die Tasse an den Mund. Nina öffnet die nächste Datei.
»Ein verdammt gruseliger Gedanke«, sagt sie.
»Was?«
»Dass wir Spuren folgen, die der Täter bewusst hinterlassen hat. Als würde man den Kopf direkt in die Mausefalle stecken. Oder den Fuß in ein Piranhabecken …«
»Andere Spuren haben wir im Moment nicht. Außerdem, egal wie gut die Schatzkarte geplant wurde, hat derjenige, der sie gezeichnet hat, vielleicht doch Fehler gemacht. Niemand ist perfekt. Und der Täter hat womöglich keine Ahnung, wozu die Polizei heutzutage fähig ist.«
»Bist du dir da ganz sicher?«, lächelt Nina.
»Nein«, antwortet Mikael nach einer langen Pause. »Vielleicht sitzt der Typ ja in der Polizeiführung.«
»Lönnqvist? Der böse weiße Hexenmeister?«
»Die ganze Polizeiführung?«
»Bingo!«
»Da haben wir einen echten Hexenzirkel«, sagt Mikael und legt seine Hand vorsichtig auf Ninas Oberschenkel. Sie klopft ihm leise auf die Finger.
»Konzentrieren wir uns auf das Video.«