38
Jessica bleibt vor den vom Schneeregen nassen Glastüren stehen und betrachtet den großen Garten. Dort am Ufer wurde in der abendlichen Dunkelheit eine Leiche im Wasser versenkt, danach ist jemand durch den Garten ins Haus gegangen. Und dann durch die Haustür nach draußen. Zum Schluss haben helle Lichter, Ermittler und Polizeihunde den Garten gefüllt. Jessica spürt, wie es ihr kalt über den Rücken läuft.
»Die Techniker sind da«, ruft Jusuf, als er hereinkommt, und gleich darauf riecht Jessica frischen Zigarettenrauch. Jeder geht auf seine Weise mit dem Stress um, der sie im Moment alle verbindet.
»Erzähl ihnen, worüber wir gerade gesprochen haben«, sagt Jessica und dehnt ihren Nacken.
»Und was hast du vor?«
»Ich geh mal in den Garten.«
Jessica atmet den heftig wehenden Wind vom Meer ein. Sie schließt die Glastür hinter sich und wirft einen Blick auf Klinke und Schloss. Nichts wurde aufgebrochen. Trotzdem ist der Mörder durch diese Türen hereinspaziert
. Maria Koponen hat den Täter vermutlich gekannt, vielleicht war es jemand, der gelegentlich an ihrem Esstisch zu Abend gegessen, auf ihrem Sofa ferngesehen und in ihrem Gästezimmer geschlafen hat. Vielleicht sogar einmal die Dachleiter hinaufgeklettert ist. Jemand, der an diesem Winterabend auf der Terrasse erscheinen sollte. Den Maria erwartet hat.
Bei Tageslicht wirkt der Garten größer als am Abend. Jessica mustert die Thujen, die das Grundstück abgrenzen, die flachen Baumstümpfe und die beiden hohen Kiefern, die verschont blieben, während die anderen Bäume gefällt wurden, um freien Blick aufs Meer zu gewinnen. Der Weg, der vom Ufer zur Terrasse führt, ist mit
blau-weißem Band abgesperrt.
Jessica fasst nach dem schwarzen Eisengeländer und geht vorsichtig die kleine Treppe hinunter. Der nasse Schnee schmatzt unter den Schuhen. Die Sneaker haben im Frost der letzten Tage einwandfrei ihren Dienst getan, aber jetzt im Matsch saugen sie sich voll Wasser und lassen die Füße frieren.
Sie wirft einen Blick nach drinnen und sieht Jusuf, der sich mit den Kriminaltechnikern unterhält. Das Wissen, dass Roger Koponen möglicherweise am Leben ist, macht sie unruhig. Das vermeintliche Opfer ist plötzlich einer der Verdächtigen. Koponen selbst hat eiskalt das Video von seiner toten Frau ins Netz gestellt und ist in die Metro gestiegen. Und nun weiß niemand, wo er steckt. Vielleicht ist er auf dem Weg nach Hause.
Der Wind lockert seinen Griff um die Äste der Kiefern, Jessicas Handy klingelt. Die Nummer des Anrufers sagt ihr nichts.
»Jessica Niemi.«
»Hier ist Pave Koskinen aus Savonlinna. Das heißt, eigentlich bin ich schon auf dem Rückweg nach Turku und …«
»Worum geht es?«, unterbricht Jessica kühl und folgt mit dem Blick zwei Krähen, die von einem Kiefernwipfel zum anderen fliegen. Sie glaubt das Knacken der Äste zu hören, als die Krallen der Vögel sie umklammern. Den schnellen Atem der Krähen und eine Reihe leiser Platscher, als sie sich die Wassertropfen aus den Federn schütteln. Die Vögel sehen sie an.
»Ich habe Ihre Nummer vom Ermittlungsleiter bekommen. Von Mikkelsson«, sagt der Mann am Telefon nach kurzem Zögern.
»Mikson.«
»Ach ja. Genau. Wir sind sehr erschüttert. Roger Koponen war ein großartiger Schriftsteller und … Es ist einfach nicht zu fassen, dass wir erst gestern Abend miteinander gegessen und gelacht haben. Nach seinem Auftritt im Savonlinna-Saal …«
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt Jessica und bemüht sich, nicht abweisend zu klingen, obwohl sie dem Anrufer schon zum zweiten Mal ins Wort fällt. Sie schließt kurz die Augen. Alle ihre Sinne haben sich geschärft. Als sie zu den Vögeln aufblickt, sind die zwischen den dichten Zweigen nicht zu sehen. Vielleicht hat sie sich die Geräusche nur eingebildet.
»Es ist so, dass … Mir ist etwas eingefallen, was vielleicht mit dem Mord an Roger Koponen und seiner Frau zu tun hat, aber ich weiß nicht, ob es irgendwie nützlich ist.«
»Alles kann nützlich sein.«
»Es wäre mir sonst bestimmt nicht im Gedächtnis geblieben, aber jetzt …«
»Was?«, fragt Jessica, unfähig, ihre Ungeduld länger zu verbergen. Jetzt entdeckt sie die Vögel. Die Krähen sitzen nebeneinander auf dem untersten Ast der Kiefer. Ihre Köpfe zucken nervös vor und zurück.
»Bei der gestrigen Lesung kam eine ziemlich seltsame Publikumsfrage. Der Fragesteller war sehr selbstsicher. Sogar ein wenig aggressiv. Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, auch irgendwie drohend. Er stellte Roger eine eigenartige Frage …«
Der Anrufer verstummt wieder, doch diesmal lässt Jessica ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Drängeln würde jetzt nur schaden.
»Zu blöd, vorhin hatte ich es mir im Kopf zurechtgelegt, aber …«
»Denken Sie in aller Ruhe nach. Es ist wichtig, dass Sie versuchen, sich möglichst genau an alles zu erinnern.«
»Na, wie gesagt, es war ein Mann. Mittleren Alters, kahl, mager. Er sah ein bisschen unsozial und furchterregend aus«, stammelt Koskinen, während Jessica das Handy mit der Schulter ans Ohr drückt und Stift und Notizbuch aus der Jackentasche holt. Der Anrufer hat ihre Aufmerksamkeit geweckt.
»Was hat er gesagt?«, erkundigt sie sich.
»Ob … Roger sich vor seinen eigenen Büchern fürchtet.«
»Ob er sich vor ihnen fürchtet?«
»Genau. Die Frage war wirklich seltsam, und ich glaube, auch Roger hat sie nicht verstanden. Vielleicht konnte er sie deshalb nicht recht beantworten. Jedenfalls anfangs nicht.«
»Was hat der Mann noch gefragt?«
»Er hat dieselbe Frage mehrmals gestellt. Immer wieder, in etwas anderen Worten.«
»Meinte der Mann Ihrer Ansicht nach, Roger Koponen müsste sich davor fürchten, dass seine Fiktion Realität wird?« Jessica bereut ihre Frage sofort. Sie war zu suggestiv. Sie dreht sich um und betrachtet das Haus. Vom Garten aus wirkt es noch größer als von
der Straße, was in der dunklen Nacht nicht leicht zu erkennen war.
»Na, das ist es ja gerade … Genauso hörte sich die Frage an. Obwohl mich erst diese entsetzlichen Ereignisse darauf gestoßen haben. Im Nachhinein klang es beinahe wie eine Drohung«, sagt Pave Koskinen mit bebender Stimme.
»Gibt es Video- oder Tonaufzeichnungen von der Veranstaltung? Waren Reporter anwesend?«
»Ich glaube nicht. Ob Reporter da waren, weiß ich nicht. Ich habe ja nur moderiert.«
»In Ordnung. Was glauben Sie … Pave war der Name, nicht wahr?«
»Ja, Pave Koskinen.«
»Könnten Sie den Mann auf einem Foto identifizieren?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Ja, ich glaube schon. Der Typ sah irgendwie besonders aus.«
»Gut. Tun Sie mir einen Gefallen, Pave. Lassen Sie Ihr Handy den ganzen Tag eingeschaltet. Ich rufe Sie zurück.«
Jessica beendet das Gespräch, sucht die Nummer des Anrufers heraus und schreibt sie mit seinem Namen in ihr kleines Notizbuch. Dann steckt sie die Sachen in die Jackentasche. Wenn es im Savonlinna-Saal oder in der unmittelbaren Umgebung Kameras gibt, haben sie eine Chance, den Mann zu finden. Eine derartige Frage macht allerdings noch keinen zum Schuldigen. Aber der Hinweis könnte trotzdem hilfreich sein.
Jessica zieht ihre Wollmütze über die Ohren. Sie kommt sich unweigerlich dumm vor. Alles, was sie über den Fall wissen, wurde ihnen auf dem Silbertablett serviert, und die Erfahrung hat sie gelehrt, dass Kuchenkrümel, die Verdächtige der Polizei hinwerfen, in aller Regel nicht essbar sind, sondern immer etwas Giftiges enthalten. Sonst wären sie der Polizei nicht angeboten worden.
Es gibt jedoch nur wenige andere Hinweise. Den mageren Mann im Publikum sowie Jusufs wacklige Theorie, der Text Malleus Maleficarum
könne sich auch anderswo finden, vielleicht ebenfalls in den Schnee getrampelt. Es drängt sie, Erne anzurufen, doch sie beschließt, die Rückkehr ins Präsidium abzuwarten. Obwohl er der herzlichste Mensch auf der Welt ist, schafft er es irgendwie, am Telefon immer wie ein Arschloch zu klingen. Schon so manches
Gespräch ist aus dem Ruder gelaufen, weil die Wärme, die der Mann normalerweise ausstrahlt, am Telefon nicht zu spüren ist. Um Erne zu mögen, muss man ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen.
Sie stapft durch den nassen Schnee ans Ufer und bleibt am Bootssteg stehen. Hinter ihr schreien die Krähen. Zu beiden Seiten des Stegs ragen zwei festgefrorene Bojen aus dem Eis, denen der Schnee eine weiße Glasur gegeben hat. Links vom Bootssteg ist das Eisloch zu sehen, aus dem letzte Nacht die Eisprinzessin gezogen wurde. Es ist immer noch offen, das eiskalte Wasser in der Mitte ist schwarz wie Öl.
Jessica betrachtet die Langstrecken-Eislaufbahn in der Mitte der Meerenge, über die den Spuren zufolge der Verdächtige gestern Nacht gekommen ist. Dahinter schimmern die unbebauten felsigen Ufer von Kruunuvuori und Kaitalahti, wo Jessica vor langer Zeit wie viele andere Jugendliche ihre Abende verbracht und sich betrunken hat. Sie wendet den Blick nach rechts. Zwischen der Eislaufbahn und dem Vorort Laajasalo, einige hundert Meter von ihr entfernt, steht eine Gestalt. Nirgends ist ein Hund oder eine Ausrüstung zum Eisangeln zu sehen. Vielleicht ein übereifriger Reporter mit einem Teleobjektiv. Sie spürt ein seltsames Vibrieren im Bauch. Auf einmal bereut sie es, allein ans Ufer gegangen zu sein.
Angestrengt kneift sie die Augen zusammen. Und plötzlich wächst etwas auf den Schultern der Gestalt. Einen Moment lang glaubt Jessica, dass das Wesen langsam die Arme hebt, doch dann begreift sie, dass es Hörner sind und dass sie die ganze Zeit da waren. Die Gestalt hat den Kopf gehoben und blickt nun zu dem Bootssteg, auf dem Jessica steht. Sie riecht den muffigen Gestank der venezianischen Kanäle, eine Mischung aus Schlamm und Salz.
Jessica greift nach ihrer Waffe, reglos starrt sie das seltsame Wesen an, sie will schreien, dem Wesen befehlen zu bleiben, wo es ist, und zu ihm rennen. Sie will Jusuf und die Streifenbeamten rufen, die auf der Straße Wache halten, doch ihre Lippen sind wie zugeklebt. Die Gestalt hebt die rechte Hand, als wolle sie winken. Doch die Hand bewegt sich nicht. Und gerade als Jessica die Waffe aus dem Holster zieht und entschlossen auf das Eis geht, hört sie etwas. Im Eisloch sprudeln Luftblasen, als hätte das Wasser zu kochen begonnen.
»Was zum Teufel …« Die Worte entschlüpfen ihr, als sie abrupt
stehen bleibt.
Und dann, als wäre alles Bisherige nur ein grausiges Vorspiel des Albtraums gewesen, hört Jessica einen tierischen Schrei, sieht einen Kopf, der aus dem Eisloch auftaucht, mit langen, glänzenden Haaren, und gleich darauf die bläulichen Finger, deren Nägel im weichen Schnee scharren.