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Erne säubert seine Schuhe sorgfältig am Abtreter im Flur, eine Geste, die ihm sofort überflüssig und albern erscheint.
»Wo ist Jessica?«
»Im Wohnzimmer«, antwortet Jusuf und macht seinem Chef den Weg frei. Erne geht mit schnellen Schritten durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sich inzwischen fast so viele Menschen aufhalten wie am vorigen Abend. Jessica sitzt an dem langen Tisch, auf dem Stuhl, auf dem zuletzt Maria Koponen gesessen hat. Ihre zu Fäusten geballten Hände liegen auf dem Tisch. Ihre Miene ist todernst.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt Erne und bleibt neben ihr stehen.
»Bei mir?«, gibt Jessica zurück, ohne vom Tisch aufzusehen. Erne blickt nach draußen ans Ufer, wo ein halbes Dutzend Männer der Spezialeinheit mit Maschinenpistolen steht. Weiter draußen auf dem Eis läuft die gleiche Anzahl bewaffneter Gestalten herum.
»Das ist keine normale Mordermittlung, Erne.« Langsam öffnet Jessica die Fäuste.
»Das ist schon seit gestern Abend klar«, sagt Erne und legt seine Finger auf Jessicas. Sie folgt seiner Geste mit den Augen, doch in ihrem Gesicht regt sich nichts.
»Die spielen mit uns … mit mir … Es kann kein Zufall sein, dass ich gerade in dem Moment am Ufer war …«
»Das ist nichts Persönliches. Jeder andere Polizist hätte am Ufer sein können. Jusuf, ich oder einer der Uniformierten.«
»Da wäre ich nicht so sicher, Erne. Irgendwas an der Sache ist verdammt seltsam. Den Gedanken werde ich nicht los.«
»Musst du aber. Sonst leiden die Ermittlungen.«
»Kann sein.« Jessica zieht ihre Hände langsam weg. Erne steht auf und geht zur Schiebetür.
»Diese Frau«, beginnt er.
»Ist sie …«
»In Anbetracht der Umstände geht es ihr ganz gut. Unterkühlung und Schock. Aber der Arzt meint, sie wird durchkommen.«
»Wann können wir sie befragen?«
»Bald, nehme ich an. Sie wurde in die Klinik in Töölö gebracht.«
»Und die Bewachung?«
»Alles geregelt. Keiner kommt an sie heran.« Erne lässt den Blick durch das Wohnzimmer wandern. Dann hört er Jessica leise fluchen.
»Was hat der verdammte Gehörnte …«
»Jessica«, seufzt Erne. Mehr braucht er nicht zu sagen.
»Du glaubst mir nicht?«
Er antwortet nicht. Eine Diskussion wäre fruchtlos. Er hat Jessica erst einmal in dieser Verfassung erlebt, es ist fast fünfzehn Jahre her. Nach den damaligen Ereignissen waren beide nicht mehr dieselben.
»Na?«, drängt Jessica.
»Das Gebiet wird abgesucht. Bisher wurde in der näheren Umgebung niemand angetroffen, auf den die Beschreibung passt.«
»Aha, keiner mit Hörnern«, seufzt sie und bringt Erne zum Lächeln.
»Und es wurde auch kein Eisloch gefunden, durch das der mutmaßliche Taucher mit dem Opfer ins Wasser gelangen konnte. Die Küstenwache hat die Suche übernommen.«
Jessica reibt sich die Stirn. Jusuf kommt ins Zimmer und zieht sich die Steppjacke an. Erne bedeutet ihm, sich neben Jessica zu setzen, und er folgt der Anweisung.
»Jetzt hört mir zu. Auch wenn der Fall einzigartig ist, dürfen wir uns nicht lähmen lassen und untätig herumsitzen. Wir haben inzwischen fünf Opfer, von denen das letzte überlebt hat …«
»Weil man es aus irgendeinem Grund nicht töten wollte«, sagt Jessica und zeichnet mit dem Finger eine Acht auf den Tisch.
»Ich hab gerade mit der Leitung telefoniert. Wir bekommen weitere Verstärkung. Jusuf, du bist der Verbindungsmann zu den Leuten von der Zentralkripo.«
»Okay«, sagt Jusuf und verschränkt die Arme.
»Und der Mann auf den Aufnahmen der Überwachungskameras?«, fragt Jessica.
»Allem Anschein nach ist es tatsächlich Roger Koponen, so unglaublich es klingt.«
»Wie gehen wir mit den Medien um?«
»Darüber wird gerade beraten.«
»Ist Koponen jetzt der Hauptverdächtige?«
»Das müssen wir möglichst bald entscheiden.«