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Jessica zieht die Haustür hinter sich zu und hört, wie Jusuf den Motor anlässt. Die Umgebung des Hauses sieht wieder so aus, als ob hier ein Hollywoodfilm gedreht würde, große Fahrzeuge haben viele Menschen und Ausstattung auf das Grundstück gebracht. Der Zirkus ist nach Kulosaari gekommen, weitergezogen und dann wieder zurückgekehrt. Encore .
Jessica zieht den Reißverschluss hoch, die Jacke gehört ihr nicht. Ihre Daunenjacke ist mit der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht worden, um die Frau gewickelt, die aus dem eisigen Wasser aufgetaucht ist. In der Jackentasche stecken Portemonnaie, Handy und das Notizbuch, in das Jessica den Namen des Anrufers aus Savonlinna geschrieben hat.
Ihre Finger fühlen sich steif an, und die Gelenke schmerzen. Obwohl ihre Hände nur kurz im Wasser waren, scheinen sie immer noch nicht richtig durchblutet zu sein.
Jusuf fährt den Wagen vor das Gartentor, Jessica geht langsam darauf zu und öffnet die Tür. Mit einem letzten Blick auf das Haus steigt sie ein und schlägt die Tür zu.
»Ins Krankenhaus?«
»Ja.« Jessica legt den Kopf an die Nackenstütze. Draußen ist es heller geworden, obwohl ein Wolkenvorhang die Sonne verhüllt.
»Sowas hab ich noch nie erlebt«, sagt Jusuf und schließt hastig das Handschuhfach, doch Jessica hat bereits einen Blick auf die rote Zigarettenschachtel erhascht.
»Das sind nicht meine.«
»Ich bin nicht deine große Schwester, you know
»Na, das sieht man ja schon am Teint«, lächelt Jusuf und winkt dem uniformierten Streifenbeamten zu, der aufpasst, dass keine Außenstehenden auf das abgesperrte Grundstück gelangen.
»Wenn du qualmst, dann qualmst du eben. Hauptsache, du kannst beim Unihockey noch rennen«, sagt Jessica und mustert durch das Seitenfenster einen Mann mit magerem Gesicht, der eine Mütze mit Löwenwappen auf dem kahlen Kopf trägt.
Der Wagen nimmt dieselbe Strecke, die der als Kriminaltechniker verkleidete Mörder am vorigen Abend zu Fuß gegangen ist. Jessica erinnert sich lebhaft an ihren rasenden Puls und die beißende Frostluft in ihrer Lunge. An den flatternden Overall mitten auf der Straße. An ihre Angst und Enttäuschung. An die Wut, die sie packte, als der Schreck nachließ. Der Mann hat irgendein Spiel mit ihr getrieben, das steht fest. Es war kein Zufall, dass gerade sie ihm gestern Abend im Haus und heute auf dem Eis begegnet ist. Er wollte gesehen werden, und das ist gut so. Beim nächsten Mal wird sie schießen.
»Halt an«, sagt sie plötzlich, als Jusuf an der Kreuzung in die Bomansonintie einbiegen will. Ihr ist der Anruf eingefallen, den sie unmittelbar vor ihrer Begegnung mit dem Gehörnten bekommen hat. Mittleren Alters. Kahl. Mager .
Jessica öffnet die Wagentür.
»Was jetzt?«, fragt Jusuf, aber sie ist schon ausgestiegen.
Während sie zum Haus der Koponens zurückrennt, vergewissert sie sich, dass ihre Pistole einsatzbereit ist. Sie hört die zuschlagende Autotür und gleich darauf Jusufs Schritte hinter sich.
»He!«, ruft sie und pfeift zu den Polizisten hinüber, die vor dem Haus Wache halten. Der magere Polizist ist nirgends zu sehen. Jessica spürt, wie ihre Sinne sich schärfen. Wohin ist er so schnell verschwunden?
»Was vergessen?«, fragt der eine der beiden Uniformierten. In seiner Stimme schwingt rebellischer Sarkasmus mit.
Jessica sieht ihm in die Augen, dann richtet sie den Blick auf seinen Kollegen. Jusuf taucht leise keuchend neben ihr auf und schaut sie verwundert an.
»Wo ist der eine?«, fragt Jessica und spürt die Spannung im ganzen Leib. »Wo ist der große magere Kollege?«, wiederholt sie.
»Hä?«
»Der gerade da neben dem Band gestanden hat!«, giftet Jessica. Die Uniformierten wechseln einen belustigten Blick.
»Wo?«, fährt sie die beiden an. Jusuf tritt einen Schritt näher, will etwas sagen, schließt dann aber rasch den Mund. Hinter Jessica hüstelt jemand.
»Sucht die Hauptmeisterin mich?«
Jessica fährt herum. An der Haustür der Koponens steht der Polizist, der kurz zuvor Jusufs Auto durch die Absperrung gelassen hat.
»Frau Hauptmeisterin«, sagt der Mann und hebt beschwichtigend die Hand. »Gibt es ein Problem?«
Der eine der Uniformierten lacht auf. Jessica blickt nach unten und merkt, dass sie ihre Pistole in der Hand hält.
»Darf ich deinen Dienstausweis sehen?«, fragt sie und steckt die Waffe in den Gürtel.
»Natürlich«, erwidert der Mann und öffnet gemächlich seine Brusttasche.
»Was rollst du so blöd mit den Augen?«
»Sorry, ich versteh bloß nicht …«
Jessica greift nach dem Dienstausweis. Ihr Blick wandert zwischen dem Namen, dem Foto und dem Gesicht des Mannes hin und her.
»Ich war bloß mal pinkeln und …«
Jessica reicht den Ausweis zurück.
»Komm, Jusuf.«
Sie geht zurück zum Auto. Hinter sich hört sie das leise Gelächter der Männer. Die spinnt wohl.
»Willst du mir nicht verraten, was da los war?«, fragt Jusuf und schaltet in den nächsten Gang, wieder einmal viel zu spät. Seine Angewohnheit, den Motor aufheulen zu lassen, hat Jessica immer schon gestört.
»Als ich im Garten war, hab ich einen Anruf bekommen. Kurz bevor … es passiert ist.«
»Von wem?«
»Von einem Mann aus Savonlinna, der bei der Veranstaltung mit Roger Koponen offenbar für die Moderation zuständig war. Er hat berichtet, dass jemand aus dem Publikum gefragt hat, ob Koponen sich vor seinen eigenen Texten fürchtet.«
»Ziemlich belastend, wenn man bedenkt, was in der Nacht passiert ist.«
»Kahlköpfig, mager, seltsam … Mittelalt«, fügt Jessica hinzu und sieht Jusuf vielsagend an. Er seufzt.
»Ich versteh ja, dass der Fall echt hart für dich ist. Das ist er für uns alle, aber …«
»Aber was? Zweifelst du auch an mir?«
»Ich auch?«
»Auf dem Eis war ein Gehörnter, und der war meinetwegen da.«
»Okay. Aber ich hab ihn nicht gesehen.«
Eine Weile sitzen sie schweigend da.
»Nein, hast du nicht. Und den springenden Punkt siehst du auch nicht.«
»Und der wäre?«
»Wenn wir nicht zum Haus der Koponens gegangen wären, hätte man die Frau nicht zum Eisloch gebracht.«