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Jessica atmet durch den Mund, damit der Geruch von vertrocknetem Pflaster und Desinfektionsmitteln ihr nicht in die Nase steigt. Er erinnert sie an den Tod und an die endlosen, einsamen Wochen im Krankenhaus vor langer Zeit. Am Eingang sitzt eine Frau in mittleren Jahren, an deren Rollstuhl eine Sauerstoffflasche befestigt ist. Jessica hat sie gerade eben vor der Klinik rauchen gesehen.
Jessica und Jusuf verlassen den Aufzug im fünften Stock und folgen der roten Linie auf dem Boden. Am Ende des Flurs sehen sie einen kräftigen Mann in dunkelblauem Trainingsanzug. Er trägt einen Ohrstöpsel. Jessica erkennt ihn, sie waren vor einigen Jahren gemeinsam bei einem Personenschutzeinsatz. Und danach haben sie sich gelegentlich außerhalb der Arbeit getroffen, in Jessicas Apartment.
»Hallo, Teo«, grüßt sie und streckt ihm die Hand hin.
»Detectives«, sagt der Mann mit heiserer Stimme und schüttelt beiden die Hand. Jessica weiß, dass Teos Heiserkeit die Folge einer Kehlkopfverletzung ist, die aus seiner Zeit als Türsteher stammt: Ein unzufriedener Gast hat ihm damals eine Weinflasche an den Hals geschlagen.
»Das ist Jusuf Pepple. Vielleicht seid ihr euch schon mal begegnet.«
»Vielleicht«, meint Jusuf und blickt in die grimmigen Augen des Mannes. Teo ist der Prototyp des wortkargen Wachmanns, selbst das Lächeln, das über sein Gesicht huscht, ist nicht echt, sondern bei irgendeinem Kurs eingeübt.
»Wohl kaum. Wie geht’s dir, Jessica?«
»Alles beim Alten.«
»Gut.«
Beide lächeln, als sie sich an die alten Zeiten erinnern. Jusuf sieht sie verwundert an. Der nostalgische Moment vergeht jedoch rasch, und sie werden wieder ernst.
»Wo ist der behandelnde Arzt?«, fragt Jessica im selben Moment, als Teo in Richtung der sich nähernden Schritte nickt. Ein fast zwei Meter großer bärtiger Mann kommt auf sie zu, ein Tablet unter dem Arm. Unter seinem weißen Arztkittel blitzt türkise OP -Kleidung hervor.
»Alex Kuznetsov, Oberarzt«, sagt der Mann und nickt. Jessica betrachtet ihn verwundert, sie hat ihn bestimmt schon einmal gesehen.
»Jessica Niemi, Kriminalhauptmeisterin.«
»Jusuf Pepple.«
»Bevor wir ins Zimmer gehen, möchte ich kurz über den Gesundheitszustand der Patientin sprechen.«
»Natürlich«, sagt Jessica. Teo tritt höflich beiseite.
»Die Patientin hat gesagt, sie heiße Laura Helminen. Der Name stimmt mit der Personenkennziffer überein, die sie uns genannt hat.«
»Wurden ihre Angehörigen verständigt?«
»Noch nicht.«
»Wie geht es ihr?«
»In Anbetracht der Umstände recht gut. Die Körpertemperatur war noch nicht fatal gesunken«, erklärt Kuznetsov. »Wissen Sie, wie lange die Frau im Wasser war?«
»Nein. Ich dachte, das könnten Sie vielleicht abschätzen?« Jessica blickt auf die Uhr. Die Zeit scheint unglaublich schnell zu vergehen. Bald wird es wieder Abend.
»Faktoren, die die Abkühlung des Körpers beeinflussen, sind die Wassertemperatur, die physische Kondition des Patienten, das Alter, der Körperbau und eine eventuelle frühere Konfrontation mit kaltem Wasser, eine Art Gewöhnung, zum Beispiel bei Eisschwimmern. Da die Wassertemperatur nur wenig über dem Gefrierpunkt lag, die Patientin 25 Jahre alt ist und gut in Form zu sein scheint, würde ich sagen, es waren definitiv weniger als fünfzehn Minuten. Eine längere Zeit hätte wahrscheinlich zu Bewusstlosigkeit geführt. Dass die Patientin nach dem Auftauchen geschrien und gezappelt hat, dürfte darauf hindeuten, dass der Zeitraum noch kürzer war.«
»Und die Lunge? Hat die Frau Wasser geschluckt?«
»Nur wenig. Ihren Worten nach hatte sie einen Schnorchel«, antwortet Kuznetsov und sieht Jessica fragend an. »Ich wüsste zu gern, was in aller Welt ihr passiert ist.«
»Klingt ganz danach, dass eine Art Taucherausrüstung verwendet wurde. Mundstück und Sauerstoffflasche«, meint Jusuf. Kuznetsov sieht ihn lange und prüfend an.
»Vermutlich.«
»Was hat sie noch erzählt? Zum Beispiel darüber, wie sie ins Wasser geraten ist?«
Kuznetsov schüttelt den Kopf und stemmt die Hände in die Seiten.
»Diese Frage konnte sie nicht beantworten. Ich glaube aber, dass es jetzt leichter ist, mit ihr zu reden als vorhin. Der Schock wirkt sich auch auf die Erinnerung aus. Ich bin sicher, dass die Ereignisse sich in ihrem Gedächtnis bald wieder zusammenfügen.«
»Sie ist also bereit?«
»Wie gesagt, sie ist erschüttert, erholt sich aber von der physischen Belastung. Deshalb möchte ich vorschlagen, dass bei der Befragung auch unser Krankenhauspsychologe anwesend ist.«
»Wir verstehen uns darauf, rücksichtsvoll zu sein«, entgegnet Jessica.
»Das bezweifle ich nicht.«
»Wo ist der Psychologe?«
»Er dürfte in einer halben Stunde kommen.«
»Leider können wir keine halbe Stunde warten. Wir haben den begründeten Verdacht, dass der Vorfall Teil einer größeren Verbrechensserie ist. Und die Frau hat den Täter möglicherweise gesehen.«
»Meinen Sie …«
»Wir müssen sofort mit ihr sprechen, um weitere Verbrechen zu verhindern.«
»Na gut«, sagt Kuznetsov und tritt einen Schritt näher an Jessica heran. »Aber ich beginne das Gespräch, um mich zu vergewissern, dass die Patientin fit genug ist.«
Jessica presst die Lippen zusammen. Sie blickt auf ihre Schuhspitzen und nickt. Dann dreht sie sich um und folgt dem hochgewachsenen Arzt zu der Tür, die Teo bereits geöffnet hat.