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Jessica hört, wie sich die Tür hinter ihr schließt. Sie blickt sich rasch um, kann aber ihre Jacke, die sie vor einer Stunde um die zitternde Frau gewickelt hat, nirgendwo entdecken. Der Kleiderhaken neben dem Waschbecken ist leer. Die Jacke muss am Empfangsschalter sein, wenn sie nicht im Krankenwagen liegen geblieben ist.
Jusuf steht neben Jessica an der Tür, die Arme in die Seiten gestützt, während Kuznetsov mit ruhigen Schritten zum Bett geht. Laura Helminens Krankenlager ist von Geräten zur Messung der Körperfunktionen und Ständern mit Infusionsflaschen umgeben. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund steht offen, als wäre sie auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen. Als Kuznetsov sich vorsichtig räuspert, schreckt sie auf.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Kuznetsov mit sanfter Stimme und streicht sich den Bart. Die Patientin schnalzt mit der Zunge, während der Arzt Jessica und Jusuf einen raschen Blick zuwirft. Dann dreht er sich wieder um und überprüft die Infusionsflaschen und den Monitor. Jessica sieht kurz zu der Frau im Bett hin, richtet den Blick dann aber auf Kuznetsov. Jetzt begreift sie, warum der Mann ihr so bekannt vorkommt, die Ähnlichkeit ist geradezu verblüffend. Père Tanguy, Vincent van Gogh. Das Bild des Pariser Kaufmanns aus dem späten 19. Jahrhundert hängt im Musée Rodin.
»Fühlen Sie sich besser?«
»Na ja … Irgendwie seltsam … Als ob meine Muskeln gewachsen wären, sie fühlen sich ganz hart an …«
»Das ist völlig normal. Die Muskeln waren unterkühlt. Sie werden wahrscheinlich ein paar Tage lang schmerzen und angespannt sein«, erklärt der Arzt. »Hier sind zwei Personen von der Polizei. Sie möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, wenn Sie sich fit genug fühlen.«
Laura Helminen sieht den Arzt müde an.
»Es dauert nicht lange«, verspricht Kuznetsov und klopft ihr ermutigend auf die Schulter.
»Ich hab angefangen, mich zu erinnern …«, sagt die Frau. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern, und sie kneift die Augen fest zusammen. Kuznetsov schüttelt den Kopf und sieht Jessica vorwurfsvoll an, als trüge sie die Verantwortung dafür, dass die Frau im Krankenhaus liegt. Und prompt geht ihr der widerliche Gedanke durch den Kopf: Stimmt das vielleicht? Passiert alles ihretwegen?
»Das ist gut. Gut, dass die Erinnerung zurückkehrt«, meint Kuznetsov und macht sich auf den Weg zur Tür. Er bleibt vor Jessica stehen, die das Kinn hochrecken muss, um ihm in die Augen zu sehen.
»Fünf Minuten. Die Patientin braucht Ruhe.«
Das ist kein Vorschlag. Es ist eine ärztliche Anordnung, die sie nicht übergehen dürfen, ohne Ärger zu bekommen. Jessica senkt den Blick langsam von den Augen des Mannes zu seinem Bart, vom Hemdkragen zum weißen Kittel mit dem Namensschild. Sie findet es seltsam, dass der Arzt es für nötig befindet, seine Autorität herauszustreichen, indem er ihr so nahe kommt.
»Es tut uns leid, dass wir Sie stören müssen«, beginnt Jessica, während sie an dem Arzt vorbei zum Bett geht. »Aber es ist wirklich wichtig, dass wir erfahren, was Ihnen zugestoßen ist.«
Laura Helminen schluchzt leise, wischt sich dann mit dem Handrücken über die Augen und richtet den Blick auf Jessica. Sekundenlang scheint sie nach dem Fokus zu suchen, wie das Objektiv einer Kamera. Dann verschwinden die Traurigkeit und Erschütterung aus ihrem Gesicht, und es verzerrt sich zu einer entsetzten Grimasse. Bevor Jessica darauf reagieren kann, füllt der ohrenbetäubende Schrei der Frau das Krankenzimmer.
»Was …«, stößt Jessica hervor, als Kuznetsov auch schon an ihr vorbeirennt. Der Schrei wird immer lauter, die Frau lässt sich vom Bett fallen und reißt den Infusionsständer mit sich. Laura Helminen flüchtet sich in die hinterste Ecke des Zimmers und schlägt die Hände vors Gesicht.
»Sie war es!«, schreit sie. Jessica sieht Jusuf an, der ebenso entgeistert wirkt wie sie selbst. Hinter ihnen öffnet Teo die Tür.
Kuznetsov beugt sich über die am Boden kauernde Frau und redet besänftigend auf sie ein.
»Sie war es! Die Teufelin!«, brüllt die Frau aus vollem Hals. »Ich erinnere mich an ihr Gesicht!«
Jessica schmeckt es wieder, das Eisen auf ihrer Zunge. Das Zimmer scheint sich um sie zu drehen.