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»Klopf, klopf.«
Erne blickt auf und sieht Rasmus Susikoski an der Tür stehen, der einen grauen Rollkragenpullover übergezogen hat und einen Laptop sowie einen Stapel Papiere mit sich schleppt.
»Komm rein, Rasse.«
»Komisch, hier drin kommt es mir kälter vor als gestern, obwohl es draußen wärmer ist«, sagt Rasmus und setzt sich unsicher lächelnd hin. Erne sieht, dass er die Lippen bewegt, doch sein Gehirn weigert sich, den belanglosen Smalltalk zu registrieren.
»Was kann ich für dich tun, Rasse?«
»Wo ist Jessica? Ich hab schon ein paarmal versucht, sie zu erreichen.«
»Ihr Handy ist verschwunden. Aber du erreichst sie, indem du Jusuf anrufst.«
»Okay.« Rasmus nickt und breitet seine Sachen auf Ernes Schreibtisch aus. Erne rümpft die Nase, obwohl der dicke Pullover den Schweißgeruch überraschend effektiv blockiert. Bei Rasses Anblick steigt ihm unweigerlich der stechende Geruch in die Nase, selbst wenn der Kollege gerade erst geduscht hätte.
»Erstens muss ich sagen, dass wir ziemlich schnell vorankommen, weil wir genügend Leute haben. Wenn wir immer so viele helfende Hände hätten …«
»Und zweitens?«, knurrt Erne.
»Richtig, ich hatte zwei Sachen zu bearbeiten. Erstens …«
»Erstens hatten wir schon.«
»Der mutmaßliche Roger Koponen ist um 8:08 Uhr am Hauptbahnhof in die Metro Richtung Mellunmäki gestiegen. Eine Minute später wurde das Handy ausgeschaltet. Hier ist eine Aufnahme der Kamera im Wagen«, erklärt Rasmus und dreht den
Laptop so, dass Erne die Aufnahme sehen kann. »Die erste Tür unten«, fügt er hinzu und zeigt auf die sich öffnende Tür. Erne setzt die Lesebrille auf, die ihm um den Hals hängt, und beugt sich vor. Gleich darauf steigt Roger Koponen ein. Das Bild ist scharf und die Kamera so nah, dass an der Identität des Mannes kein Zweifel mehr besteht. Es sei denn, es handelte sich um einen Zwillingsbruder, den Koponen jedoch nicht hat.
»Verflucht … Und keiner erkennt ihn.«
»Bei Schriftstellern ist es komischerweise so, dass keiner sie erkennt, wenn sie nicht regelmäßig im Fernsehen auftreten. Selbst wenn ihre Werke millionenfach verkauft werden. Würdest du die ungeschminkte J. K. Rowling in der U-Bahn erkennen, wenn …«
»Wen?«
»Vergiss es. Warte mal«, sagt Rasmus und lässt das Band schneller laufen. Während der nächsten Sekunden gehen die Türen einige Male auf und zu, Menschen eilen herein und hinaus wie Ameisen. Roger Koponen bleibt an seinem Platz.
»Um 8:16 Uhr steigt Koponen aus.«
»An welcher Station?«
»Kulosaari.«
»Hol mich der Teufel. Ist er tatsächlich auf dem Weg nach Hause?«
»Jedenfalls in die Gegend. Leider nimmt ihn keine Kamera mehr auf, als er die Metrostation verlässt.«
»Ein Auto auf dem Parkplatz?«
»Nein. Das hätten wir bemerkt.«
»Verflucht.«
»Aber beim Haus der Koponens war seit gestern Abend ständig mindestens eine Streife. Die Kollegen hätten reagiert, wenn er da aufgekreuzt wäre. Außerdem, warum hätte er das tun sollen? Verraten, dass er noch lebt?«
»Vielleicht«, sagt Erne und legt die Hände vors Gesicht. »Vielleicht weiß er gar nicht, dass er tot ist.«
»Was?«
»Vielleicht liest er keine Zeitungen. Ach, verdammt. Ich weiß es nicht. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Danke, Rasse, jetzt muss ich ein paar Anrufe erledigen.« Erne schiebt seinen Bürostuhl
zurück und schaut zum Fenster hinaus. Am Himmel fliegt ein Flugzeug.
»Dann ist da noch die andere Sache … Sie betrifft Torsten Karlstedt«, sagt Rasmus und klappt den Laptop zu. Er feuchtet eine Fingerspitze an und schiebt sie zwischen die Blätter in seinem Stapel. Mit neu erwachtem Interesse sieht Erne zu ihm hinüber.
»Wirklich ein interessanter Fall. Finne, vierzig Jahre alt. Nicht vorbestraft. Wohnt in Espoo-Westend, drei Kinder im Schulalter. Geschäftsführer, Vorstandsvorsitzender und Alleinaktionär eines IT
-Unternehmens namens Tors10 Oy Ab. Umsatz satte 2,4 Millionen Euro, davon fast die Hälfte Gewinn.«
»Und das Auto, das in Savonlinna gesehen wurde, gehört ihm?«
»Ein Porsche Cayenne, Modell 2018. Das allerneueste.«
»Du hast gerade gesagt, er wäre ein interessanter Fall. Bisher erscheint er mir wie ein typischer Neureicher aus Espoo …«
»Das ist er definitiv nicht. Der Mann scheint eine Art Experte für Okkultismus zu sein. Er hat zwei Bücher über Schwarze Kunst veröffentlicht. Sie befassen sich unter anderem mit Geheimbünden, Esoterik, Magie und sogar mit Hexerei. Sie sind im selben Verlag erschienen wie Roger Koponens Trilogie.«
»Mal langsam«, sagt Erne. »Ist Okkultismus dasselbe wie Schwarze Kunst?«
»Vereinfacht gesagt, ja. Der Begriff kommt aus dem lateinischen Wort occultus
, das verborgen
bedeutet. Der Okkultismus untersucht die Welt außerhalb der Alltagsrealität. Er soll eine Brücke zwischen den beiden Realitäten bauen, zwischen dem Alltag und der geheimen Welt. Um dieses Ziel zu erreichen, verwenden die Anhänger des Okkultismus diverse Rituale und Objekte, wie etwa Amulette, Hasenpfoten und so weiter. Oder Zaubersprüche und Magie.«
»Was soll der ganze Blödsinn?«
»Geheimes Wissen, das sich nur wenigen erschließt, kann die erstaunlichsten Möglichkeiten bieten. Es hilft, den Sinn des Lebens zu verstehen, seine Richtung zu beeinflussen. Vielleicht den Tod zu überwinden.«
»Der Okkultismus strebt also etwas Gutes an?«
»Es gibt vielerlei Magie. Während die weiße Magie Gutes erreichen will, strebt die schwarze Magie …«
»Böses an. Verstehe. Kann man von einer Art Religion sprechen?«
»Es gibt Übereinstimmungen. Aber zwischen der Magie und jeder großen Religion besteht ein fundamentaler Unterschied. Und genau das macht den Okkultismus so faszinierend.«
»Und was ist der Unterschied?«
»Jeder kann an Gott glauben, wenn er will. Die Religionsgemeinschaften kämpfen um Mitglieder und drängen den Menschen ihren Glauben durch Missionsarbeit und dergleichen auf. Dagegen bieten die Geheimwissenschaften, wie der Name schon sagt, ein exklusives, also nur wenigen Erwählten zugängliches Wissen.«
Erne presst die Lippen zusammen und sieht Rasmus an.
»Und der Okkultismusexperte Torsten Karlstedt ist extra nach Savonlinna gefahren, um sich anzuhören, was Roger Koponen über seine Romane sagt, die das gleiche Thema behandeln?«
»Wohl kaum. Roger Koponen ist nämlich in den letzten Wochen dreimal in Helsinki aufgetreten. Im Casino, im Börsenhaus und im Paasitorni. Warum also vier Stunden nach Savonlinna fahren, um sich dasselbe anzuhören?«, murmelt Rasmus.
»Vielleicht hatte Karlstedt keine Gelegenheit, zu den Veranstaltungen in Helsinki zu gehen. Oder er ist ein echter Fan.«
»Koponen sollte nächste Woche auch in einigen Buchhandlungen im Hauptstadtgebiet lesen.«
»Wenn Karlstedt wusste, dass Koponen sterben würde, wusste er auch, dass er seinen letzten Auftritt miterleben würde.«
»Oder er wusste, dass Koponen nicht wirklich sterben würde.«
»Scheiße, was für ein Durcheinander! Und wenn der Mann gar nicht hin- und zurückgefahren ist? Vielleicht ist Karlstedt immer noch in Savonlinna?«
»Sein Auto steht jedenfalls vor seinem Haus in Westend.«
»Das heißt, dass er etwas mit den Feuertoden in Juva zu tun haben kann. Zumindest ist es logistisch möglich.«
»Stimmt«, sagt Rasmus und holt ein paarmal tief Luft. Er wirkt lockerer als zuvor, als hätten die Fortschritte in den Ermittlungen ihn befreit. »Es sind zwei Bücher, wie erwähnt«, fährt er fort und legt zwei Kopien der Titelblätter auf den Tisch.
Okkulte Lehren, Torsten Karlstedt (2002)
Hermetische und esoterische Wissenschaften, Torsten Karlstedt, Kai Lehtinen (2007)
»Wer ist Kai Lehtinen?«
»Anfangs habe ich keinerlei Informationen über ihn gefunden. Soweit bekannt, war er nur bei diesem einen Projekt dabei und hat sonst nichts veröffentlicht. Ich habe beim Verlag angerufen und mich nach ihm erkundigt. Dabei kam auch nichts Nennenswertes ans Licht. Immerhin habe ich vom Verlag aber seine Personenkennziffer bekommen«, sagt Rasmus und zieht das unterste Papier aus seinem Stapel. Das Bild zeigt einen Mann, der tatsächlich eine Glatze hat und irgendwie bedrohlich aussieht. Hinter den starr blickenden Augen scheint sich etwas Unberechenbares und Unkontrollierbares zu verbergen.
»Kai Kalle Lehtinen, 48. Baumeister, wohnhaft in Vantaa. Alleinstehend.«
»Das ist der Mann, der die seltsame Frage stellte und dann in Karlstedts Wagen stieg?«
»Ich habe das Foto an Pave Koskinen geschickt, der meint, er sei sich zu neunzig Prozent sicher.«
»Gute Arbeit, Rasse. Gib mir zehn Minuten Zeit, das alles zu verdauen«, sagt Erne und greift nach seinem Handy.