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»Was glaubst du, was passiert ist?« Erne schließt die Tür. Sie sind zu zweit im Zimmer, alle anderen sind an die Arbeit gegangen.
»Der Notizblock war die ganze Zeit in meiner Jackentasche«, sagt Jessica, den Blick auf den blau-weißen Wimpel geheftet, der auf Ernes Schreibtisch steht und kaum merklich vibriert. »Irgendwer muss ihn gefunden haben, im Krankenwagen oder in der Klinik.«
Erne steht an der Tür, die Arme in die Seiten gestemmt, und wirkt ratlos.
»Jusuf hat die Jacke bei der Auskunft in der Klinik abgeholt … Ich bin davon ausgegangen, dass die Sanitäter sie dahin gebracht hatten«, fährt Jessica fort.
»In der Jackentasche war auch dein Handy. Wenn jemand an deinen Block gekommen ist, hatte er auch darauf Zugriff.«
»Es ist durch einen Code geschützt.«
»Sprich trotzdem mit Micke. Ich bin in diesen Dingen zu unbedarft, um zu beurteilen, ob es riskant ist, das Telefon zu benutzen, und du es lieber auswechseln solltest.«
»Ich begreif nicht, wie …«
»Wenn jemand in deinen Sachen gewühlt hat, muss es auf den Kameras im Krankenhaus zu sehen sein. Rasse klärt das ab.«
»Wieso wenn
. Verdammt nochmal, du siehst es doch selbst«, faucht Jessica und schlägt die Seite mit den lateinischen Worten auf. Dann blättert sie vor und zurück, um sich zum x-ten Mal zu vergewissern, dass es keine weiteren fremden Eintragungen gibt. Die restlichen Seiten sind unberührt.
»Ich meine nur«, sagt Erne und reibt sich die Nase, »es ist immerhin möglich, dass jemand schon vorher an den Block gekommen ist. Und absichtlich ein paar Seiten freigelassen hat, damit du den Text erst später entdeckst.«
»Ich weiß es nicht, Erne. Ich weiß es wirklich nicht. Aber im Moment habe ich das Gefühl, dass ich eine Schachfigur in diesem abartigen Spiel bin. Überleg doch mal, ich hab den Mörder zweimal gesehen. Gestern im Haus der Koponens, heute auf dem Eis. Und jetzt hat er eine Nachricht auf meinen Notizblock geschrieben.«
»Das macht die Sache noch nicht persönlich. Du bist die Hauptermittlerin in diesem Fall. Wahrscheinlich sind die Botschaften für die zuständige Polizistin bestimmt, nicht für eine Frau namens Jessica Niemi«, meint Erne. Er geht langsam an seinen Schreibtisch und setzt sich hin. Jessica mustert verstohlen seine gebrechliche Gestalt. Erne ist krank, das spürt sie, obwohl er nicht bereit ist, darüber zu sprechen. Nicht einmal mit ihr.
»Es gibt noch mehr, Erne. Wir hatten noch keine Zeit, alles über den Besuch im Krankenhaus zu berichten. Laura Helminen ist durchgedreht, als sie mich dort sah«, sagt Jessica und blickt zu Erne auf, der plötzlich wacher wirkt.
»Wieso?«
»Das Gemälde, das sie im Keller gesehen hat …«
»Was ist damit?«
»Sie sagt, es zeigt mich.«
Erne will etwas erwidern, runzelt dann aber nur die Stirn.
»Sie behauptet, sie sei sich hundertprozentig sicher.«
»Helminen war verständlicherweise erschüttert und …«
»Aber wenn man alles andere mit berücksichtigt, klingt das Ganze nicht mehr weit hergeholt. Ich bin das Ziel.«
»Aha, du bist eine Art criminal mastermind
und stiftest andere dazu an, Böses zu tun?«
»Warum haben die Täter dann mein Bild in den Keller gehängt?«
Erne seufzt. Jessica weiß, dass es unfair ist, ihm so zuzusetzen. Die Situation ist für sie alle gleichermaßen verwirrend.
»Sie wissen es, Erne. Sie wissen, was ich getan habe.«
»Wovon redest du?«, fragt Erne mit gerunzelter Stirn, doch dann fällt der Groschen. »Nein, Jessica, jetzt leidest du unter Verfolgungswahn. Daran brauchen wir nie mehr zu denken. Oder darüber zu sprechen.«
»Aber …«
»Eine schöne, dunkelhaarige Frau. So hat Helminen die Frau auf
dem Gemälde beschrieben. Ja, die Beschreibung passt auf dich. Aber sie passt auch auf Maria Koponen, Lea Blomqvist und auf Laura Helminen selbst. Und vielleicht auf tausend andere Frauen in Helsinki«, erklärt Erne und bringt es fertig, glaubwürdig zu klingen. Darauf versteht er sich, wie Jessica schon vor Jahren gelernt hat.
»Alles klar«, seufzt sie und will das Zimmer verlassen.
»Aber trotzdem«, sagt er, als sie nach der Klinke greift. »Ich möchte etwas ausprobieren.«
»Was?«, fragt Jessica. Erne steht auf und nähert sich ihr langsam, die Hände auf dem Rücken. Sein Gesicht ist nun todernst.
»Ich möchte deine Theorie testen.«
»Wie denn?«
»Ich möchte, dass du dich eine Weile vom Geschehen fernhältst. Mindestens bis morgen.«
Jessica starrt den Wimpel auf dem Tisch an. Er flattert jetzt stärker: Offenbar hat sich die Klimaanlage eingeschaltet. Ernes Vorschlag ist einerseits erleichternd, andererseits unangenehm. Ganz offensichtlich hat er Angst um sie. Sie ist mit ihren Gedanken nicht allein. Und das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen.
»Bis morgen? Was soll ich denn inzwischen tun? An der Kletterwand trainieren?«
»In deinen vier Wänden bleiben. Einen kühlen Kopf bewahren. Und die Fäden in der Hand behalten. Du hast immerhin Handy und Laptop.«
»Willst du, dass ich nach Hause gehe?«
»Ja.«
»Erne? Ziehst du mich von dem Fall ab?«
»Natürlich nicht!«, schnaubt er und verdreht die Augen wie ein schlechter Lügner. Allerdings ist Erne weder ein schlechter Lügner noch ein Blödmann. »Ich ziehe dich nicht ab. Im Gegenteil. Ich gebe deiner Theorie eine Chance.«
»Du willst sehen, ob die Täter mich beobachten?«
»Das interessiert dich doch auch.«
»Und wenn ich recht habe?«
»Wenn du recht hast und die Täter speziell deine Aufmerksamkeit wollen, hören sie entweder auf, Leute umzubringen, oder wenden sich auf irgendeine Weise an dich.«
»Ich bin also ein Köder?«
»Wenn du es so sehen willst. Immer noch besser, ein Köder zu sein als eine Zielscheibe. Bei dir zu Hause bist du in Sicherheit. Ich sorge dafür, dass die Sicherheitspolizei in der Töölönkatu Wache hält.«
Jessica betrachtet ihren Vorgesetzten abschätzend, als glaubte sie, ihn durch bloßes Starren von seinem Plan abbringen zu können.
»Ich weiß nicht. Alles ist so beschissen, Erne.«
»Du arbeitest von zu Hause weiter. Wir haben im Moment so viele Hilfskräfte, dass Jusuf auch ohne dich mit den Befragungen fertig wird. Morgen früh schätzen wir die Lage dann neu ein«, erklärt Erne und sieht aus, als wolle er Jessica eine Hand auf die Schulter legen. Er kennt sie aber gut genug, um es nicht zu tun.
»Du weißt, dass die Entscheidung richtig ist«, sagt er und reibt sich die Fingerknöchel. Jessica schüttelt den Kopf, stößt die Tür auf und tritt auf den Flur.