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Die Alarmanlage lässt einen Signalton hören, als Jessica sie ausschaltet. Dann schließt sie die Tür und schaltet die Funktion Anwesend ein, bei der die Bewegungsmelder innerhalb der Wohnung nicht in Betrieb sind, an den Eingangstüren aber schon. Das ermöglicht ihr, in Ruhe zu schlafen, da sie weiß, dass niemand in die Wohnung einbrechen kann, ohne den Alarm auszulösen.
Jessica durchquert das Wohnzimmer, wirft einen raschen Blick auf den langen Tisch, geht in die Küche, schaltet den Wasserkocher ein und holt eine Tasse aus dem Schrank. Das Spülbecken aus Chrom ist voll von weißen Tassen, die der Hagebuttentee innen blassrot gefärbt hat. Eine Weile betrachtet sie die Tassen, das Spülbecken und die Arbeitsfläche rundherum. Plötzlich erscheint es ihr nicht mehr als seltsamer Zufall, dass ihre Küche und die der Koponens fast identisch sind. Andererseits kann sie sich nicht vorstellen, weshalb sich jemand so viel Mühe machen sollte, nur um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie öffnet die Spülmaschine, aus der ein muffiger Geruch nach stehendem Wasser und Fettresten steigt, und räumt die schmutzigen Teetassen in den oberen Korb. Die Tassen klirren, als sie sie dicht nebeneinanderschiebt, damit alle Platz finden. Der Wasserkocher beginnt zu rauschen.
Jessica sitzt am Küchentisch und betrachtet den Bildschirm ihres Laptops. Ihre Finger ruhen auf der Tastatur, doch ihre Dienstwaffe liegt in Reichweite auf dem Tisch. Draußen ist es wieder dunkel geworden. Sie holt ein Foto der Tafel auf den Bildschirm, an der Notizzettel sowie Fotos von Menschen und Orten befestigt sind, die auf die eine oder andere Weise mit dem Fall zu tun haben. Dann reißt sie ein Blatt von einem Skizzenblock ab und beginnt die Mindmap zu kopieren, die das Team gemeinsam erarbeitet hat.
Dabei denkt sie an das Gespräch, das sie am Morgen mit Erne geführt hat. Sind tatsächlich weitere Morde zu erwarten, oder haben sie noch nicht alle Leichen gefunden?
Jessica vergrößert die Fotos auf dem Bildschirm. Die hysterisch lachende Maria Koponen, die friedliche Lea Blomqvist. Laura Helminens Foto stammt offensichtlich aus den sozialen Medien: Auf dem Bild posiert sie in einer tief ausgeschnittenen gelben Bluse, ein Sektglas in der Hand. Sie lebt, sie kann weiterhin dasselbe tun wie auf dem Foto, Koponen und Blomqvist nicht. Je länger Jessica die Gesichter der schönen, dunkelhaarigen Frauen studiert, desto klarer wird ihr, dass sie selbst eine von ihnen ist. Sie könnten Schwestern sein. Der Gedanke ist erleichternd und abstoßend zugleich. Erleichternd, weil es durchaus möglich ist, dass Laura Helminen sich in der Frau auf dem Gemälde geirrt hat; sie kann sich nicht sicher sein, dass das Bild Jessica zeigt. Dennoch bereitet der Gedanke Jessica Übelkeit, denn sie hat das Gefühl, Teil von etwas zu sein, zu dem sie nicht gehören will. Als wären ihre ganze Identität und ihr Körper in eine plötzlich entstandene Risikogruppe gestoßen worden.
Sie wirft einen Blick auf die große Uhr an der Küchenwand. Zwischen den an die Wand geklebten Kreisen ragen zwei lange Zeiger mit Quarzantrieb hervor. Sie zeigen halb sechs.
Das Handy auf dem Tisch vibriert.
»Ich bin am Leben, Erne«, meldet sich Jessica. Sie zuckt zusammen, als die Wand leise knackt. Die Strukturen des alten Hauses führen ihr eigenes Leben.
»Zweifellos«, sagt Erne. Seine Stimme ist noch heiserer geworden. »Ein paar Dinge …«
Er räuspert sich, und Jessica hält das Handy ein Stück weiter vom Ohr weg. Der Husten klingt, als würde man mit einer Axt auf einen eisbedeckten Felsen schlagen.
»Rasse hat die Aufnahmen überprüft. Der Sanitäter hat deine Jacke aus dem Krankenwagen direkt zu dem Infoschalter gebracht, wo Jusuf sie abgeholt hat. Es gibt zwar Zonen, die von den Kameras nicht erfasst werden, aber Jusuf hat mit der Krankenschwester gesprochen, die sagt, sie habe den Schalter nicht verlassen.«
»Und dort kann keiner an die Jacke herangekommen sein?«
»Das ist mehr als unwahrscheinlich.«
»Aber irgendwann muss jemand meinen Notizblock gehabt haben. Denn ich habe den Text ganz sicher nicht geschrieben.«
»Wir sind davon ausgegangen, dass du dich erinnern würdest, wenn du ihn selbst geschrieben hättest«, sagt Erne. Jessica entdeckt keine Spur von Ironie in seinen Worten. Es klingt, als wäre auch diese Möglichkeit ernsthaft erörtert und dann als unwahrscheinlich, aber durchaus nicht undenkbar beiseitegeschoben worden. Sie hört, wie Erne die Tür zu seinem Dienstzimmer schließt und sich auf seinen Stuhl fallen lässt.
»Ist es möglich, dass jemand Zutritt zu deiner Wohnung gehabt hat?«
Jessica spürt ein Prickeln in ihren Waden. Obwohl Erne – als Einziger – weiß, dass sie nicht in dem kleinen Apartment wohnt, ist es ihr unangenehm, mit ihm darüber zu sprechen.
»Du weißt doch, dass meine Alarmanlage immer eingeschaltet ist. Tag und Nacht. Außerdem lass ich den Block nie zu Hause. Er ist immer im Polizeigebäude oder in meiner Jackentasche«, erwidert sie, obwohl sie weiß, dass die Behauptung nicht stimmt.
»Na gut. Wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagt Erne. Jessica hört seine Worte, doch seine Frage lässt sie nicht los. Die Möglichkeit ist ihr schon früher durch den Kopf gegangen, obwohl sie weiß, dass niemand ihre Wohnung betreten kann, ohne den Alarm auszulösen. Abgesehen von der Philippinin, die schon seit mehreren Jahren einmal wöchentlich bei ihr putzt. Das letzte Mal liegt jedoch schon fast eine Woche zurück, und der Besuch der Putzfrau wäre auf dem Display der Anlage zu sehen.
»Was gibt es sonst noch?«, fragt Jessica, um den beklemmenden Gedanken loszuwerden.
»Die Handys von Kai Lehtinen und Torsten Karlstedt waren gestern die ganze Zeit in ihren Wohnungen in Espoo und Vantaa.«
»Aber wir wissen mit Sicherheit, dass mindestens Lehtinen in Savonlinna war.«
»Mit einem Auto, dessen Besitzer Torsten Karlstedt ist. Der möglicherweise Chauffeursdienste leistete.«
»Die haben ihre Handys zu Hause gelassen.«
»Die wissen, was sie tun. Oder sind jedenfalls schlau genug, Anfängerfehler zu vermeiden.«
»Vorläufig gibt es also keinen Beweis dafür, dass Torsten Karlstedt gestern in Savonlinna war?«
»Nein. Im Prinzip könnte er behaupten, er hätte Lehtinen den Wagen geliehen. Und wenn Lehtinen das bestätigt, haben wir gegen ihn nichts in der Hand.«
»Vielleicht ist es die Wahrheit.«
»Was?«
»Vielleicht hat Karlstedt sein Auto tatsächlich Lehtinen geliehen. Vielleicht war er nicht in Savonlinna.«
»Jemand hat den Wagen gefahren.«
»Den Führerschein haben in Finnland mehrere.«
»Gut beobachtet, Saga Norén.«
»Und sonst gibt es nichts?«, fragt Jessica, während sie auf dem Laptop Maria Koponens lachendes Gesicht heranzoomt. Aus irgendeinem Grund bekommt sie nicht genug von diesem Gesicht, sie starrt es an, als versuchte sie eine optische Täuschung zu erkennen. Was ist so verdammt lustig?
»Torsten Karlstedt telefoniert viel. Bisher ist bei den Gesprächen aber nichts Belastendes ans Licht gekommen«, berichtet Erne und hustet wieder.
»Mist.«
»Micke hat allerdings einen interessanten Punkt angesprochen. Karlstedt hat die Ereignisse, die heute in allen Nachrichten waren, mit keinem Wort kommentiert. Gegenüber niemandem. Was ziemlich seltsam ist, wenn man bedenkt, dass er – oder mindestens Kai Lehtinen mit seinem Wagen – gestern in Savonlinna war, um Roger Koponens Auftritt zu erleben.«
»Das beweist doch nur, dass er mit dem Fall nichts zu tun hat.«
»Karlstedt hat auch Kai Lehtinen angerufen. Vor zwanzig Minuten«, sagt Erne, und Jessica hört ihn in seinen Unterlagen blättern.
»Karlstedt hat Lehtinen gefragt, ob der seine Mütze im Auto gelassen hat.«
»Und, hat er?« Jessica reibt sich seufzend die Stirn.
»Ja. Das Gespräch war kurz und ziemlich lässig. Verdammt nochmal, wenn wir bloß irgendeinen Anhaltspunkt hätten.«
»Schauen wir mal, wie es weitergeht.« Ein Signalton kündigt einen weiteren Anruf an. Jessica wirft einen Blick auf das Display, aber die Nummer wird nicht angezeigt. »Warte mal, Erne. Jemand ruft mich an. Ich melde mich bald wieder«, sagt sie und beendet das Gespräch. Einen Moment starrt sie auf das blinkende Display. Geht es jetzt weiter? Hört sie gleich dieselbe Stimme wie gestern Abend im Haus der Koponens in Kulosaari? Sie spürt ein Prickeln im Bauch.
»Niemi«, meldet sie sich und hält die Luft an. Die Fensterrahmen knacken im Wind.
»Ein Mann hat gerade das Treppenhaus betreten.«
»Bitte? Wer ist da?«, knurrt Jessica und steht auf. Ihre Finger greifen nach der Dienstwaffe auf dem Tisch.
»Uolevi. Von der Sicherheitspolizei. Wir halten im Auto vor deinem Haus Wache.«
»Richtig«, sagt Jessica und geht, die Waffe in der Hand, ins Wohnzimmer.
»Ein Mann um die dreißig in einer dicken Jacke … Er hat eine Weile vor der Haustür gestanden und ist dann reingeschlüpft, als ein älterer Herr herauskam. Es sah so aus, als hätte der Typ keinen Hausschlüssel.«
»Woher wisst ihr, dass er zu mir …«
»Das wissen wir nicht. Er hat mehrmals auf eine Klingel gedrückt. Hat es in deiner Wohnung geklingelt?«, fragt der Mann. Jessica hält den Atem an. Mist . Sie weiß nicht, ob es in ihrer Einzimmerwohnung geklingelt hat. Und sie hat sich keine Lüge zurechtgelegt.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich war gerade unter der Dusche«, antwortet sie.
»Ist es dir recht, wenn wir eine Weile am Telefon bleiben, für den Fall, dass die Situation unser Eingreifen erfordert?« Jessica steht mitten im Wohnzimmer und überlegt, was sie tun soll. Hier ist sie in Sicherheit, aber wenn die Männer von der Sicherheitspolizei dem Mann in ihr kleines Apartment folgen müssen, stellt sich schnell heraus, dass Jessica nicht dort ist. Und dann fliegt alles auf.
»Natürlich«, antwortet sie, so glaubhaft sie kann. Sie drückt das Handy an die Brust und denkt fieberhaft nach. Sie ist bewaffnet und trainiert. Sie braucht nur in ihre Einzimmerwohnung zurückzugehen und durch den Spion zu blicken, falls der Mann, der ins Haus geschlüpft ist, bei ihr klopft. Das ist alles.
Jessica eilt in die Diele, öffnet die Tür zum Treppenhaus, schließt sie hinter sich und bleibt kurz in der Dunkelheit stehen. Der Schlüsselbund klirrt geräuschvoll, rutscht ihr aus den Fingern und fällt auf den Boden. Sie bückt sich danach und blickt dabei rasch nach oben und unten. Im dunklen Treppenhaus kann sich wer weiß was verstecken. Wer weiß wer. Der Lichtschalter ist fast in Reichweite. Verdammt. Sie hätte in ihrer Luxuswohnung bleiben sollen, im Schutz der Alarmanlage. Vielleicht ist die ganze Geschichte eine Falle. Vielleicht ist der Anrufer gar nicht bei der Sicherheitspolizei, sondern …
»Hallo?« Jessica zuckt zusammen, als sie die Stimme am Telefon hört. Sie findet den richtigen Schlüssel und spürt, wie es ihr kalt den Rücken herunterläuft.
»Hallo, Niemi?«
Jessica hält den Atem an und steckt den Schlüssel ins Schloss. Als die Tür aufgeht, stürmt sie in die Wohnung. Und im selben Moment klopft jemand an die andere Tür.
»Hallo«, antwortet Jessica leise und richtet ihre Pistole auf die Tür.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Mann am Telefon. »Im Zweifelsfall sind wir in einer Minute oben. Aber wir sollten die Bewachung nicht auffliegen lassen, wenn es sich um einen Fehlalarm handelt.«
»Jemand ist an der Tür«, flüstert Jessica.
»Hast du eine Waffe?«
»Ja.«
»Will er rein?«
»Er klopft …«
»Okay. Wir kommen«, entscheidet der Mann, und Jessica hört, wie die Seitentür des Wagens aufgeschoben wird.
»Nein. Wartet«, sagt sie und geht langsam zur Tür. Es klopft erneut. Rhythmisch, aber nicht fordernd.
»Ich hab einen Türspion«, flüstert Jessica.
»Hör zu, Niemi. Ich will innerhalb einer halben Minute die Worte Besuch von einem Freund hören. Andernfalls kommen wir rauf.«
»In Ordnung«, flüstert Jessica und legt das Handy auf die Armlehne des Sofas. Sie schleicht zur Tür, hält den Atem an und bückt sich, um durch den Spion zu schauen. Und da hört sie es. Eine vertraute, leicht angetrunken klingende Stimme. Fubu . Er ruft ihren Namen.